A1132 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 17⏐⏐27. April 2007
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uropa gelingt gemeinsam“ – der Leitgedanke der deut- schen EU-Ratspräsidentschaft lässt sich programmatisch auch auf die vielfältigen Telematikaktivitäten in Europa übertragen und ergab so das Motto für die europäisch ausgerich- tete „eHealth Konferenz 2007“ in Berlin*. Rund 800 Teilnehmer, dar- unter knapp 160 Delegierte aus den 27 EU-Mitgliedsstaaten, disku- tierten darüber, wie Telematik im Gesundheitswesen zu einer besse- ren, patientenorientierten Versorgung über Landesgrenzen hinweg beitra- gen kann. „Die Gesundheitsversor- gung in Europa muss mit der stei- genden Mobilität der Menschen Schritt halten. Die Bürger erwarten zu Recht eine Gesundheitsversor- gung, die nicht an innereuropäischen Grenzen endet“, erklärte Bundesge- sundheitsministerin Ulla Schmidt in ihrer Eröffnungsrede. Voraussetzung dafür sei, dass für das Gesundheits- wesen sichere Kommunikationswe-ge aufgebaut würden, die die eigenen Systeme mit denen anderer Staaten verbinden, „so wie wir das von den Straßennetzen kennen“.
Sämtliche Gesundheitssysteme in- nerhalb Europas stehen vor ähnli- chen Herausforderungen: die demo- grafische Entwicklung, die wach- sende Zahl chronisch Kranker, auf die der Löwenanteil (rund 80 Pro- zent) der Gesundheitsausgaben ent- fällt, der zunehmende Kostendruck auf die Sozialsysteme, die wachsen- de Mobilität beispielsweise von Ar- beitnehmern, Urlaubern oder Rent- nern, die ihren Ruhestand im Aus- land verbringen.
Wachsende Ansprüche Hinzu kommt: Der Zugang der Be- völkerung zu den Informations- und Kommunikationstechnologien steigt weltweit. So hat die Zahl der Inter- netnutzer 2005 eine Milliarde über- schritten. Die Vernetzung im Ge- sundheitsbereich hingegen – natio- nal und erst recht grenzüberschrei- tend – ist bislang nur ansatzweise verwirklicht. Die Unzufriedenheit der Patienten mit ihren fragmentier- ten Gesundheitssystemen wachse,
betonte Martine Durand, Organisa- tion für wirtschaftliche Zusammen- arbeit und Entwicklung (OECD).
„E-Health als Werkzeug für die Er- neuerung der Gesundheitssysteme ist heute unverzichtbar“, folgerte sie, warnte aber zugleich: „E-Health ist kein Wundermittel und kann nicht alles heilen, was in den nationalen Gesundheitssystemen schiefläuft.“
Qualitätsverbesserung Von einer elektronischen Vernet- zung verspricht man sich vor allem eine Verbesserung der Versorgungs- qualität und -kontinuität durch den schnelleren Zugriff auf medizini- sche Informationen sowie eine Ver- ringerung der Kosten durch Effizi- enzsteigerungen und Prozessopti- mierungen. In vielen Ländern wer- den neue Behandlungskonzepte für die Versorgung chronisch Kranker und multimorbider älterer Patienten entwickelt und erprobt, die nicht mehr einrichtungszentriert funktio- nieren, sondern die Versorgungspro- zesse am Patienten und dessen Krankheitsgeschehen ausrichten. Ein solcher patientenzentrierter Ansatz erfordert ein hohes Maß an Zusam- menarbeit der Behandler, an Doku- mentationstätigkeit und an fach-, einrichtungs- und sektorübergrei- fender Kommunikation – undenk- bar ohne IT-Unterstützung.
Vor diesem Hintergrund haben viele europäische Länder inzwi- schen mit dem Aufbau einer natio- nalen Telematikinfrastruktur für das Gesundheitswesen begonnen. Es sei wichtig zu wissen, was in anderen Ländern entwickelt werde, um diese Erfahrungen für den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Tele- matikplattform zu nutzen, betonte Jan Andrzej Rys, Generaldirektion für Gesundheit und Verbraucher- schutz bei der EU-Kommission.
Bislang sind Telematikkonzepte, E-HEALTH IN EUROPA
Euro-Piloten für Gesundheitsdienste
Die europäischen Mitgliedsstaaten wollen ihre Gesundheitssysteme künftig stärker vernetzen und gemeinsam grenzüberschreitende elektronische Gesundheitsdienste entwickeln.
*Als assoziierte Veranstaltung der Ratspräsident- schaft wurde die Konferenz von der EU-Kommissi- on, dem Bundesgesundheitsministerium (BMG), dem Land Berlin und der Gesellschaft für Versiche- rungswirtschaft und -gestaltung e.V. getragen.
Will die struktu- rierte Zusammen- arbeit der EU-Mit- gliedsstaaten bei der grenzüber-
schreitenden Ge- sundheitsversor- gung weiter aus- bauen: Bundesge- sundheitsministerin Ulla Schmidt
Fotos:GVG e.V.Germany
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Lösungsarchitekturen und Umset- zungsgrad von Land zu Land jedoch sehr unterschiedlich, denn die Ge- sundheitssysteme unterscheiden sich teilweise erheblich hinsichtlich po- litischer, rechtlicher, organisatori- scher und kultureller Gegebenhei- ten. Hinzu kommt, dass Gesundheit zu den Bereichen zählt, in denen die EU nur eine begrenzte Zustän- digkeit hat, weil die Länder nach dem Subsidiaritätsprinzip für die Or- ganisation der Gesundheitssysteme und der medizinischen Versorgung selbst verantwortlich sind. So gibt es Mitgliedsstaaten, die sich für eine chipkartenbasierte Telematikinfra- struktur entschieden haben, wie et- wa Deutschland, Frankreich, Itali- en, Österreich und Slowenien, wo- hingegen andere Länder, wie bei- spielsweise Dänemark, Großbritan- nien und die Niederlande, techni- sche Lösungen einsetzen, die ohne Karten auskommen.
Vielfalt herrscht auch in der tech- nischen Ausgestaltung datenschutz- rechtlicher Anforderungen. „Daten- schutz ist zunehmend ein Wettbe- werbsargument, nicht nur ein Ver- hinderungsinstrument“, betonte Prof.
Dr. Christian Dierks, Berlin. Die Anpassung des gesetzlichen Rah- menwerkes an den zunehmenden Telematikeinsatz im Gesundheits- wesen benötige jedoch Zeit, so der Rechtsexperte.
Um die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Gesundheitstelematik voranzubringen und die Chancen für einen expandierenden europäischen Gesundheitsmarkt zu verbessern, hatte die EU-Kommission bereits Anfang 2004 einen europäischen E-Health-Aktionsplan beschlossen.
Dieser fordert die Mitgliedsstaaten zur Erarbeitung nationaler E-Health- Strategien auf und räumt der Ein- führung elektronischer Gesundheits- dienste einen hohen Stellenwert ein.
Derzeit bereitet die EU-Kommission europäische E-Health-Pilotprojekte („large scale pilots“) vor, die noch im ersten Halbjahr 2007 im Rahmen des EU-Programms für Wettbewerbs- fähigkeit und Innovation (CIP) aus- geschrieben werden sollen. Ziel ist es, nationale Lösungen zu harmoni- sieren und die länderübergreifende Interoperabilität und Standardisie-
rung der Systeme zu fördern. „Die Piloten sollen auf den nationalen Te- lematikprojekten aufbauen und diese so zusammenfassen, dass man zu kompatiblen europäischen Lösungen kommt“, erläuterte Dr. Klaus Theo Schröder, Staatssekretär im BMG, das Vorhaben.
Durch dieses pragmatische Vorge- hen will man vermeiden, dass Län- der, die bereits fortgeschrittene Lö- sungen implementiert haben, ge- zwungen sind, diese aufwendig zu modifizieren oder gar aufzugeben.
Vielmehr sollen über eine zu ent- wickelnde zusätzliche Integrations- plattform bestehende Infrastrukturen interoperabel gemacht werden. Die Piloten werden jeweils mit bis zu maximal zwölf Millionen Euro durch die EU-Kommission geför- dert, wobei die Projektteilnehmer diesen Betrag nochmals selbst ein-
bringen sollen. Bis zum Herbst läuft die Bewerbungsphase für die Projek- te, die von 2008 bis 2010 geplant sind. Ein erstes Länderkonsortium, bestehend aus Frankreich, Großbri- tannien, den Niederlanden, Schwe- den, der Tschechischen Republik und Deutschland, hat sich bereits zusam- mengefunden und während der Kon- ferenz eine Grundsatzvereinbarung für die gemeinsame Bewerbung um einen Piloten unterzeichnet.
Zwei Anwendungen stehen dabei zunächst im Vordergrund: die elek- tronischen Notfalldaten beziehungs- weise der als „patient summary“ be- zeichnete medizinische Basisdaten- satz einerseits sowie das elektroni- sche Rezept einschließlich einer IT- gestützten Arzneimitteldokumenta- tion andererseits – beide als erste Schritte hin zu einer elektronischen Patientenakte. Weitere Schwerpunk- te der Piloten sind die Themen Pa- tientensicherheit und Patienteniden- tifikation, die für grenzüberschrei- tende Gesundheitsdienste eine zen- trale Rolle spielen.
E-Health-Deklaration
In einer gemeinsamen Erklärung der EU-Mitgliedsstaaten und weite- rer Mitglieder des europäischen Wirtschaftsraums wurde darüber hinaus eine koordinierte und struk- turierte Zusammenarbeit bei euro- paweiten elektronischen Gesund- heitsdiensten vereinbart (Kasten).
Dies sei ein weiterer „Schritt hin zu einem europäischen Informations- raum im Gesundheitsbereich“, un- terstrich Staatssekretär Schröder.
Dabei könne Deutschland wichtige Impulse geben. Als Land mit den meisten Außengrenzen in Europa setzte es verstärkt auf Kooperatio- nen mit den Nachbarstaaten bei der grenzüberschreitenden Patienten- versorgung. Durch die Beteiligung am europäischen Piloten leiste das deutsche Telematikprojekt der elek- tronischen Gesundheitskarte außer- dem einen aktiven Beitrag zum Aus- bau der europäischen Infrastruktur, ist Schröder überzeugt. I Heike E. Krüger-Brand
DEKLARATION
„eHealth in Europa gelingt gemeinsam“
Die sechs Hauptpunkte
>Nationale E-Health-Infrastrukturen sind Voraussetzung für grenzüberschreitende Lösungen.
>Europaweit standardisierte Lösungen eröffnen Markt- chancen.
>Nationale „Fahrpläne“ für elektronische Gesundheits- dienste sind zu berücksichtigen.
>Implementierungen erfordern verstärkte Synergien mit Forschung und Ausbildung.
>Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union müssen gemeinsam an einheitlichen Standards arbeiten.
>Alle maßgeblich Beteiligten und die Industrie sind ein-
zubeziehen. Die Deklaration „eHealth in Europa
gelingt gemeinsam“ im Internet:
www.aerzteblatt.de/plus1707
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Europäische E-Health-Piloten sollen nationale Lösungen harmo- nisieren und zum Aufbau einer ge- meinsamen euro- päischen Telematik- infrastruktur beitra- gen, erläuterten Klaus Theo Schrö- der (BMG) und Jan Andrzej Rys (EU- Kommission).