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Alfred Kantorowicz: Leben und Werk unter besonderer Berücksichtigung der Kinder- und Jugendzahnheilkunde

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Alfred Kantorowicz

Leben und Werk unter besonderer Berücksichtigung der Kinder- und Jugendzahnheilkunde

Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Zahnheilkunde in der Medizinischen Hochschule Hannover

vorgelegt von Daniela Buchleva aus Plovdiv/Bulgarien

Hannover 2018

(2)

Präsident: Prof. Dr. med. Michael P. Manns Betreuer der Arbeit: PD Dr. phil. Heiko Stoff

1. Referent: Prof. Dr. phil. Siegfried Geyer

2. Referent: Prof. Dr. med. dent. Harald Tschernitschek

Tag der mündlichen Prüfung: 12.12.2019

Prüfungsausschuss

Vorsitz: Prof.in Dr. rer. nat. Karin Lange

1. Prüferin: Prof.in Dr. rer. biol. hum. Marie Luise Dierks 2. Prüfer: Prof. Dr. phil. Siegfried Geyer

(3)

Es gibt Menschen, die werden als herzensgute Kämpfer beschrieben, obwohl diese Eigenschaften für sich gesehen genug Gegensätze enthalten. Im Falle Kantorowicz wäre zu sagen, dass er lebenslang aus den Kreisen der Mittelmäßigkeit angefeindet

werden musste, obgleich der Grund für solche Anfeindungen in der Aura eines souveränen Geistes bestand, den er nicht verleugnen konnte und wollte.

Gyula Takacs 2016

(4)

Kap. Seite

1 Einleitung ... 1

2 Ziel der Untersuchung ... 4

3 Methodik der Literaturrecherche ... 5

4 Gefundene Literatur von und über Alfred Kantorowicz ... 7

5 Biografie von Alfred Kantorowicz ... 9

5.1 Elternhaus und Schulzeit ... 9

5.2 Ausbildung zum Zahnarzt ... 10

5.3 Medizinstudium ... 12

5.4 Assistententätigkeit und Habilitation ... 13

5.5 Schulzahnklinik in Ruhpolding ... 14

5.6 Zeit des 1. Weltkriegs ... 15

5.7 Privatleben ... 17

5.8 Politische Einstellung ... 18

5.9 Professor in Bonn ... 19

5.10 Schicksal im Dritten Reich ... 24

5.11 Zeit der Emigration... 29

5.12 Nach dem 2. Weltkrieg ... 30

6 Kinder- und Jugendzahnheilkunde ... 33

6.1 Besonderheiten der Kinder- und Jugendzahnheilkunde ... 33

6.2 Entwicklung der Kinder- und Jugendzahnheilkunde ... 36

6.2.1 Geschichtliche Entwicklung in Deutschland ... 36

6.2.1.1 Deutschland bis 1945 ... 37

6.2.1.2 BRD ab 1945 ... 47

6.2.1.3 DDR ab 1945 ... 54

6.2.2 Geschichtliche Entwicklung außerhalb Deutschlands ... 56

(5)

7.1.2 Publikationen ab 1949 ... 69

7.2 Fachbücher zur Zahnmedizin ... 70

7.3 Ausbau der Bonner Universitätszahnklinik ... 73

7.4 Schulzahnpflege ... 73

7.4.1 Wissenschaftliche Grundlagen ... 73

7.4.2 Etablierung ... 74

8 Diskussion ... 77

8.1 Persönlichkeit von Alfred Kantorowicz ... 77

8.2 Würdigung des Werkes von Alfred Kantorowicz ... 82

8.2.1 Verdienste um die Schulzahnpflege ... 82

8.3 Kontroversen ... 90

8.3.1 Behandlung der Milchzähne ... 91

8.3.2 Ursachen von Karies... 92

8.4 Einordnung des Werkes von Alfred Kantorowicz in den geschichtlichen Hintergrund ... 93

8.5 Folgerungen aus den Konzepten von Alfred Kantorowicz für die heutige Schulzahnpflege ... 94

8.6 Vermächtnis von Alfred Kantorowicz... 96

9 Zusammenfassung ... 98

10 Literaturverzeichnis ... 101

11 Danksagung ... 120

12 Lebenslauf ... 121

13 Eidesstattliche Erklärung ... 123

14 Anhang- ... 124

14.1 Tabelle zu den Daten von Alfred Kantorowicz ... 124

14.2 Anstellungsvertrag von Alfred Kantorowicz mit der Universität Istanbul ... 127

(6)

Abb. Seite

Abb. 1: Alfred Kantorowicz 1880-1962 (Kremer und Büchs 1967, S. 48) ... 9

Abb. 2: Alfred Kantorowicz als Student und Jungzahnarzt im Alter von 23 Jahren (Häussermann 1996) ... 11

Abb. 3: Alfred Kantorowicz bei einer Operation im Reservelazaretts Hagenau im Elsaß während des 1. Weltkriegs (Häussermann 1996) ... 16

Abb. 4: Bonner Universitätszahnklinik im Jahr 1925; Foto: Universitätsarchiv Bonn (Kirchhoff 2009) ... 20

Abb. 5: Kantorowicz (an der Tafel) und sein Institutspersonal; Foto: Universitätsarchiv Bonn (Kirchhoff 2009) ... 20

Abb. 6: Erst automobile Schulzahnklinik (Kantorowicz 1928a)... 22

Abb. 7: Entlassungsschreiben (Pross und Aly 1989) ... 25

Abb. 8: Albert Einsteins Brief an die Türkei (das Original liegt im türkischen Staatsarchiv) (Anonymous 2016a) ... 27

Abb. 9: Alfred Kantorowicz um 1940 (Doyum 1985, S. 22) ... 29

Abb. 10:Alfred Kantorowicz um 1950 (Häussermann 1996)... 30

Abb. 11:Alfred Kantorowicz 1962 bei der Lectio aurea (Häussermann 1996) ... 31

Abb. 12:Ehrengrab von Alfred Kantorowicz am 6.03.2017 (linkes Bild: Ottersbach 2017, rechtes Bild: Schott 2017) ... 32

Abb. 13:Der hohle Zahn: „Ach! wie erschrack er, als er da den wohlbekannten Hacken sah“ (Wilhelm Busch 1864) ... 36

Abb. 14:Zeitschrift „Schulzahnpflege“ ... 41

Abb. 15:Anzahl der Schulzahnpflegestätten von 1902 bis 1945; Zahlenangaben aus Groß (1994, S. 317) und Müller (1997, S. 45) ... 43

Abb. 16:Träger der 219 Schulzahnpflegestätten im Jahr 1919 (Zahlenangaben aus Klemm 1952) ... 44

(7)

Tab. 1: Verwendete Datenbanken ... 5 Tab. 2: Anzahl der Fundstellen in den einzelnen Datenbanken... 7 Tab. 3: Systeme der Schulzahnpflege bis 1933 (Herzog 2015b; Kirchhoff und Heidel

2016, S. 249) ... 45 Tab. 4: Monographien unter Beteiligung von Alfred Kantorowicz ... 71 Tab. 5: Sammelwerke unter Beteiligung von Alfred Kantorowicz ... 72 Tab. 6: Chronologische Auflistung der Daten von Alfred Kantorowicz (Die Daten

wurden aus verschiedenen Quellen zusammengetragen, es finden sich

gelegentlich leichte Widersprüche in den Daten) (Doyum 1985; Forsbach 2006;

Häussermann 1996; Helfgen 2001; Kremer und Büchs 1967; Litten 2004;

Mattern 2009; Presseamt Bonn 2015; Reisman 2007; Rose 1969; Sauerwein 1980; Schwarz 1961). ... 124

(8)

1 Einleitung

Alfred Kantorowicz (* 18.06.1880 in Posen, † 06.03.1962 in Bonn) war einer der herausragenden Zahnmediziner seiner Zeit1. 1912 habilitierte er sich für das Fach Zahnmedizin. 1918 übernahm er als außerplanmäßiger Professor das damals noch bescheidene zahnärztliche Institut an der Bonner Universität sowie die Leitung der Schulzahnklinik. 1923 wurde er der erste ordentliche Professor für Zahnmedizin in Bonn (Presseamt Bonn 2015). Durch seine hervorragende Organisations- und Lehr- tätigkeit hat Kantorowicz die Bonner Universitätszahnklinik zu einem Institut von Rang ausgebaut, der Bonner Schule (Litten 2004).

Die wissenschaftliche Tätigkeit von Kantorowicz umfasste fast alle Gebiete der Zahnmedizin. Besonders hervorzuheben ist sein Konzept zur Schulzahnpflege, das auf der Prophylaxe beruhte und als ‚Bonner System’ bekannt wurde (Litten 2004). Das

‚Bonner System’ war einmalig und richtungsweisend in Deutschland (Presseamt Bonn 2015). Es stand unter dem Motto „Ein sauberer Zahn wird nicht kariös“ und wurde zum international anerkannten Vorbild für die kollektive Schulzahnpflege (Kirchhoff 2009).

So wurde Kantorowicz der Begründer der sozialen Zahnerhaltungspflege, die bereits im ersten Schuljahr anfing (Schwarz 1961).

Einen weiteren Schwerpunkt seiner Forschungen bildete die Kieferorthopädie, wobei sich Kantorowicz sowohl mit der Ätiologie (Berücksichtigung der erworbenen und der vererbten Ursachen) als auch mit der Diagnose und Therapie bzw. Prophylaxe beschäftigte. Kantorowicz war SPD-Stadtratsmitglied in Bonn und ihm war es wichtig, dass seine Forschungsergebnisse allen sozialen Schichten zugute kamen (Litten 2004).

In diesem Sinne hat er die Orthodontie, die ursprünglich nur der wohlhabenden Klasse zugänglich war, zur sozialen Kieferorthopädie ausgeweitet (Schwarz 1961), die allen Gesellschaftsschichten offen stand (Kirchhoff 2009).

1 Es gibt neben dem Zahnmediziner eine weitere Person mit dem Namen Alfred Kantorowicz (* 12.08.1899 in Berlin; † 27.03.1979 in Hamburg). Er war ebenfalls deutsch-jüdischer Herkunft und als Jurist, Schriftsteller, Publizist und Literaturwissenschaftler tätig. Er publizierte auch unter dem Pseudonym Helmuth Campe (König et al. 2003, S. 885).

(9)

Das sozialpolitische Engagement von Kantorowicz stand allerdings im Gegensatz zu den standespolitischen Interessen der Zahnärzteschaft in der Region von Köln und Bonn. 1933 wurde die Jugendzahnpflege, auch vor dem Hintergrund der Machtergrei- fung der Nationalsozialisten, mit Unterstützung der Bonner Zahnärzteschaft aufgelöst (Kirchhoff 2009). Am 23.09.1933 wurde Kantorowicz aus dem Staatsdienst entlassen.

Nach Inhaftierungen im Gefängnis Bonn und im KZ Börgermoor wurde er am 05.11.1933 aus dem KZ Lichtenburg entlassen (Forsbach 2006, S. 346). Er emigrierte nach Istanbul und wurde zum ordentlichen Professor und Direktor der Zahnärztlichen Fakultät der dortigen Universität ernannt. In seiner Zeit im Exil hat er die Zahnmedizin in der Türkei auf ein mitteleuropäisches Niveau angehoben (Takacs 2016). Kantorowicz teilte sein Schicksal mit zahlreichen anderen jüdischen Gelehrten und Ärzten aus dieser Zeit, falls diese es überhaupt geschafft hatten, rechtzeitig zu emigrieren.

Später wurde das ‚Bonner System’ der Schulzahnpflege in der DDR, der Schweiz und den skandinavischen Ländern fortgeführt. Dagegen versäumte die Bonner Zahnklinik eine Wiederbelebung der sozialmedizinisch ausgerichteten Kinder- und Jugendzahn- heilkunde. Nachdem Kantorowicz 1950 aus dem türkischen Exil zurückgekehrt war, musste er mit großer Enttäuschung zur Kenntnis nehmen, dass die von ihm eingeführte epidemiologisch erfolgreiche, soziale Zahnheilkunde durch ein privatwirtschaftlich organisiertes Gesundheitssystem weitgehend ersetzt wurde (Kirchhoff 2009).

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 führte zu einem starken Bruch in der Biografie von Kantorowicz als jüdischem Sozialdemokraten. Dennoch wird mit dieser Dissertation ausdrücklich nicht beabsichtigt, Kantorowicz als Opfer der damaligen Verhältnisse darzustellen. Vielmehr soll das Ziel darin liegen, die Lebensleistung von Kantorowicz als dem Begründer der systematischen Schulzahnpflege zu würdigen.

Dieses Anliegen ist auch deshalb außerordentlich wichtig, da seine Verdienste um die Schulzahnpflege bis heute kaum bekannt sind. So hat Kirchhoff (2016) in seinem Beitrag in den „Zahnärztlichen Mitteilungen“ (zm), „Schwarze Löcher in der zahnmedi- zinischen Geschichte?“ deutlich kritisiert, dass in der von Groß und Schäfer (2009) verfassten „Geschichte der DGZMK (1859–2009)“ Kantorowicz noch nicht einmal erwähnt wurde. In einem Artikel von Groß, auch in der Ausgabe der zm über die

Etablierung der Schulzahnkliniken“, wurde er ebenfalls nicht genannt (Groß 2016b).

(10)

Erst nach Kritik wurde in einem weiteren Artikel von Groß, betitelt „Die Herausbildung der Spezialdisziplinen“, anerkannt, dass es Kantorowicz durch die Integration der Kieferorthopädie in die Schulzahnklinik gelungen ist, die Kieferorthopädie einer breiten Bevölkerungsgruppe bekannt und zugänglich zu machen (Groß 2016a). Schließlich wurde Kantorowicz im Rahmen der in den zm publizierten Reihe „Wegbereiter der Zahnheilkunde“ als „Wegbereiter der Jugendzahnpflege“ gewürdigt (Groß 2018). Die Wissenslücken betreffen aber nicht nur speziell die Person des Alfred Kantorowicz.

Inzwischen liegt das Kriegsende mehr als sieben Jahrzehnte zurück, wobei aber bis jetzt noch keine systematische Analyse der Wissenschafts-, Verbands- und Berufspolitik der deutschen Zahnärzteschaft während der Zeit des Nationalsozialismus stattgefunden hat.

Erst vor Kurzem wurde beschlossen, diese zeithistorische Lücke zu schließen (Anonymous 2016c). Auch die Beschäftigung mit dem Leben und Werk von Alfred Kantorowicz soll dazu beitragen, „Licht ins Dunkel“ zu bringen.

(11)

2 Ziel der Untersuchung

Mit der vorliegenden Dissertation sollen anhand einer intensiven Literaturrecherche unter Ausnutzung aller frei verfügbaren Datenbanken und Archive folgende Ziele verfolgt werden:

1. Aufstellung der Biografie von Alfred Kantorowicz.

2. Darstellung der Ziele und Besonderheiten der Kinder- und Jugendzahnheilkunde.

3. Darstellung des Werkes von Alfred Kantorowicz unter besonderer Berück- sichtigung der Kinder- und Jugendzahnheilkunde.

4. Beschreibung der weiteren Entwicklung der Schulzahnpflege nach 1945.

5. Würdigung des Werkes von Alfred Kantorowicz und Einordnung in den geschichtlichen Hintergrund.

6. Vergleich der ursprünglichen Konzepte von Alfred Kantorowicz mit der Schulzahnpflege in der heutigen Zeit.

(12)

3 Methodik der Literaturrecherche

Die Literaturrecherchen wurden im Juni 2016 begonnen und bis April 2018 ergänzt. Im Index Medicus wurden die Jahrgänge 1905 bis 1962 nach Publikationen von Alfred Kantorowicz durchgesehen. Zusätzlich erfolgten Datenbankrecherchen in folgenden im Internet frei zugänglichen Datenbanken und Suchmaschinen (Tab. 1).

Tab. 1: Verwendete Datenbanken

Datenbank / Suchmaschine Website

Pubmed http://www.ncbi.nlm nih.gov

Livivo https://www.livivo.de/

Deutsche Zahnärztliche Zeitschrift

http://www.zahnheilkunde.de/start.asp?zeitung=dzz

Zahnärztliche Mitteilungen http://www.zm-online.de/m15.htm KVK - Karlsruher Virtueller

Katalog

https://kvk.bibliothek.kit.edu/?digitalOnly=0&embedFu lltitle=0&newTab=0

Google http://www.google.de

Google Scholar http://scholar.google.de/

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Folgende Suchwörter wurden verwendet (* beliebige Wortergänzung):

 Pubmed: Kantorowicz dent* (offene Suche)

 Livivo: Kantorowicz zahn* (offene Suche)

 Deutsche Zahnärztliche Zeitschrift: Kantorowicz (offene Suche)

 Zahnärztliche Mitteilungen: Kantorowicz (offene Suche)

 KVK - Karlsruher Virtueller Katalog: Alfred Kantorowicz (Autor) und Zahn*

(Freitext)

 Google und Google Scholar: Alfred Kantorowicz Zahnmediziner

Da die Anzahl der Treffer jeweils unter 200 lag (außer Google) (siehe Kap. 4, Tab. 2), konnten alle Treffer durchgesehen werden. Für Google wurden nur die ersten 200 Treffer nachverfolgt.

Hinsichtlich des Zeitraums der Suche wurde keine Einschränkung vorgenommen.

Außerdem fanden alle Dokumentationsformen Berücksichtigtung: Gedruckte Artikel, Bücher, Berichte und Dissertationen sowie Internetpublikationen.

Die identifizierten Schriften wurden, sofern in der Universitätsbibliothek Hannover, im ZB MED – Leibniz-Informationszentrum Lebenswissenschaften in Köln oder im Antiquariat verfügbar, im Volltext beschafft. In mehreren Durchgängen wurden die Literaturverzeichnisse der Schriften durchgesehen um weitere Publikationen zu finden und zu beschaffen. Dieser Vorgang wurde so oft wiederholt, bis keine neuen Schriften mehr zu finden waren. Alle in dieser Studie verwendeten Schriften sind im Literatur- verzeichnis (Kap. 10) aufgeführt.

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4 Gefundene Literatur von und über Alfred Kantorowicz

Die Recherche wurde wie beschrieben durchgeführt (siehe Kap. 3). Im Index Medicus ließen sich 37 Publikationen von Alfred Kantorowicz ermitteln. Von den Datenbanken ergaben sich durch die Suchmaschine Google weitaus die meisten Fundstellen (Tab. 2).

Tab. 2: Anzahl der Fundstellen in den einzelnen Datenbanken

Datenbank / Suchmaschine Fundstellen

Pubmed 28 Artikel

Livivo 90 Artikel / sonstige Schriften

Deutsche Zahnärztliche Zeitschrift keine Treffer Zahnärztliche Mitteilungen 9 Artikel Deutsche Nationalbibliothek 27 Treffer

Google 1980 Links

Google Scholar 134 Links

Zahlreiche weitere Publikationen ließen sich in den Literaturverzeichnissen der bereits beschafften Literatur auffinden.

Insgesamt hat Kantorowicz zwischen 1904 und 1959 117 Artikel in Zeitschriften publiziert, an vier weiteren war er beteiligt. Die wesentlichen Inhalte werden an anderer Stelle genannt (siehe Kap. 7.1).

In Zeitschriften fanden sich zwischen 1950 und 2007 20 Artikel bzw. Würdigungen über Kantorowicz, überwiegend verfasst von ehemaligen Schülern oder Kollegen anlässlich von runden Geburtstagen.

Kantorowicz hat zwischen 1906 und 1949 10 einzelne Monographien publiziert, die teilweise in mehreren Auflagen erschienen. Unter den Monographien war auch die 1906 publizierte Dissertation (siehe Kap. 7.2).

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Darüber hinaus war er Herausgeber des vierbändigen „Handwörterbuch der gesamten Zahnheilkunde“ (1929-1931). Mitherausgeber war er vom vierbändigen „Handbuch der Zahnheilkunde“ (1924-1939) und zwei weiteren Sammelwerken (siehe Kap. 7.2).

Schließlich hat er zwei Buchbeiträge verfasst.

Über Kantorowicz existieren zwei Dissertationen. Die Dissertation von Rose (1969) beschäftigt sich mit dem Leben und Werk von Kantorowicz allgemein und die Dissertation von Doyum (1985) mit seiner Tätigkeit in Istanbul. Hinzu kommt eine Masterthese von Mattern (2009), die sich mit dem Verhältnis von Alfred Kantorowicz und Gustav Korkhaus befasst.

Der Bezug des Werkes von Kantorowicz zur Gegenwart wurde bisher noch in keiner Studie hergestellt. Auch die Würdigungen von Kantorowicz sind sehr vergangenheits- bezogen, wobei die Bedeutung des Werkes für die heutige Zeit nicht herausgearbeitet wurde. Insbesondere fehlt eine angemessene Darstellung des außerordentlichen Beitrages von Kantorowicz für die Schulzahnpflege, die heute als Jugendzahnpflege bezeichnet wird.

(16)

Abb. 1: Alfred Kantorowicz 1880- 1962 (Kremer und Büchs 1967, S. 48)

5 Biografie von Alfred Kantorowicz

Die einzelnen Abschnitte der Biografie folgen weitestgehend dem chronologischen Ablauf der Ereignisse. Dabei gibt es aber auch Überschneidungen. So erfolgte die Einrichtung der Schulzahnklinik in Ruhpolding (siehe Kap. 5.5) während seiner Assistententätigkeit in München (siehe Kap.

5.4). Die Heirat und die Geburt der beiden Töchter (siehe Kap. 5.7) fielen ebenfalls in seine Assistententätigkeit. Ein Sohn wurde während des 1. Weltkriegs (siehe Kap. 5.6) geboren und bei der Geburt des zweiten Sohns war Kantorowicz bereits Professor in Bonn (siehe Kap. 5.9). Die Scheidung von seiner Ehefrau und die erneute Heirat mit seiner Assistentin fielen in die Zeit der Emigration (siehe Kap. 5.11).

Im Anhang findet sich zusätzlich eine chro- nologische Auflistung der Daten von Alfred Kantorowicz (siehe Kap. 14.1, Tab. 6).

5.1 Elternhaus und Schulzeit

Alfred Kantorowicz wurde am 18. Juni 1880 in einem wohlhabenden Elternhaus in Posen geboren. Sein Elternhaus kann als liberale, aufstiegsorientierte, bildungsbewusste und völlig assimilierte jüdische Familie gekennzeichnet werden (Mattern 2009, S. 14– 17).

(17)

Seine Eltern waren Wilhelm Kantorowicz, ein Kaufmann und Besitzer eines Spritgroßvertriebs, und Rosa Kantorowicz, geb. Gieldzinsky. Alfred Kantorowicz hatte noch drei Geschwister. Sein Bruder Erich ist bereits 1906 verstorben. Mit seiner Schwester Else betrieb er noch Korrespondenz bis ins hohe Alter. Sein Bruder Hermann Ulrich wurde ein bekannter Rechtswissenschaftler, der ebenfalls emigrieren musste und 1940 als Professor in Cambridge an einer Grippe verstarb (Mattern 2009, S. 14–17).

Der Vater Wilhelm Kantorowicz verfasste Schriften zu rechts-, zoll- und wirtschaftspolitischen Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung und dem Handel mit Spiritus. Er war darüber hinaus humanistisch gebildet und hatte sich auch mit künstlerischen und literarischen Themen beschäftigt. Es ist zu vermuten, dass die spätere Entwicklung von Alfred Kantorowicz zu einem Gelehrten bereits im Elternhaus positiv beeinflusst wurde (Rose 1969, S. 8). Seine pazifistische Einstellung, politische Zivilcourage, Objektivität und Neigung zur Ästhetik kann auf die Vorbildfunktion seines Vaters zurückgeführt werden. Aus den zahlreichen Widmungen in den Publikationen von Alfred Kantorowicz kann geschlossen werden, dass er zu Lebzeiten ein enges Verhältnis zu seinen Eltern hatte (Mattern 2009, S. 14–17).

1884 zog die Familie nach Berlin um. Alfred Kantorowicz besuchte das humanistische Gymnasium (‚Einjähriges‘) und erlernte dort die klassischen Sprachen (Häussermann 1996). Anschließend erfolgte eine Ausbildung zum Zahnarzt (siehe Kap. 5.2). Sein Abitur legte er 1902 als sogenannter Externer am Luisengymnasium in Berlin ab (Rose 1969, S. 11). Entgegen verschiedener Quellen befand sich das Luisengymnasium nicht in Berlin-Steglitz sondern in Berlin-Moabit (Centralblatt der Bauverwaltung 1882).

5.2 Ausbildung zum Zahnarzt

Alfred Kantorowicz begann 1897 in Berlin das Studium der Zahnheilkunde bei Willoughby Dayton Miller, Friedrich Carl Ferdinand Busch und Ludwig Warnekros.

Die Prüfung bestand er mit ‚gut‘ (Rose 1969, S. 10). Insbesondere hatte Miller großen Einfluss auf den Beginn seiner Karriere (Loevy und Kowitz 1993). Miller war als Bürger der USA 1884 der erste ausländische Professor an einer deutschen Universität.

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Abb. 2: Alfred Kantorowicz als Student und Jungzahnarzt im Alter von 23 Jahren (Häussermann 1996)

Er vertrat an der Charité das Fach operative Zahnheilkunde. Miller stellte die noch heute gültige Theorie zur Entwicklung der Karies auf. Demnach werden Kohlenhydrate durch Bakterien der Mundflora zu Säuren abgebaut, die den Zahn angreifen, Bakterien in den Zahn eindringen lassen und das Dentin zersetzen (Jarmer 1968).

Ein Abitur war damals für das Studium der Zahnheilkunde nicht erforderlich (im Gegensatz zum Medizinstudium), es genügte die Primarreife nach dem 11.

Jahrgang. Das Studium selbst dauerte drei Jahre, davon eine zweijährige Studienzeit und eine einjährige praktische Tätigkeit an einem Institut oder bei einem approbierten Zahnarzt (Groß 1994, S. 229; Groß 2006c;

Groß 2015a).

Am 17.12.1900 erfolgte die Approbation von Kantorowicz zum Zahnarzt. Er arbeitete noch ein halbes Jahr als Assistent bei einem Zahnarzt (Rose 1969, S. 10).

Diese Tätigkeit hat ihn wenig befriedigt, da keine Zeit zu wissenschaftlicher Arbeit verblieb (Kremer und Büchs 1967, S. 163).

Hinzu kann, dass der Beruf des Zahnarztes um die Jahrhundertwende ein weitaus

geringes Sozialprestige hatte wie das des Arztes. Dies hing auch damit zusammen, dass viele Bürger kaum die Unterschiede zwischen approbierten und nichtapprobierten Zahnbehandlern, den ‚Dentisten‘, erkennen konnten. Außerdem boten nichtapprobierte Zahnbehandler ihre Dienste zu niedrigeren Preisen an. Approbierte Zahnbehandler verlangten deutlich höhere Honorare (Groß 1994, S. 378–379; Groß 2006c; Groß 2015a).

Diese Gründe haben Kantorowicz möglicherweise dazu motiviert, das Abitur nachzuholen und Medizin zu studieren.

(19)

5.3 Medizinstudium

Alfred Kantorowicz begann 1901 in Berlin ein Medizinstudium. Hierzu war Abitur erforderlich, das er 1902 ablegte (siehe Kap. 5.1). Wegen des fehlenden Abiturs war er zunächst in der philosophischen Fakultät eingeschrieben (Rose 1969, S. 11).

1904 gewann er einen ‚Königlichen Preis‘ mit einer Arbeit über das Thema „Kritische Untersuchungen über die neuerdings eingeführten Methoden der Perkussion; es soll festgestellt werden, ob und welche Vorzüge dieselben vor der alten Perkussion besitzen“. Diese Arbeit wurde mit ‚ausgezeichnet‘ bewertet, wörtlich heißt es „Die Arbeit bezeigt ein umfassendes Studium der Literatur, welche Verfasser in klarer und objektiver Weise kritisch verwertet hat. Die eigenen experimentellen, orthodiagraphi- schen und anatomischen Untersuchungen bekunden eine wissenschaftliche Methodik und eine scharfsinnige Beobachtung. Die Resultate des Verfassers stimmen mit den in neuerer Zeit gewonnenen Erfahrungen anerkannter Kliniker überein. Verfasser hat somit die gestellte Preisaufgabe in ausgezeichneter Weise bearbeitet und sie nach dem heutigen Stande der Wissenschaft gelöst, es wird ihm somit der volle Preis zuerkannt“ (Häussermann 1996). Die Arbeit bildete die Grundlage für die medizinische Dissertation (Kantorowicz 1906).

Kantorowicz setzte 1904 sein Studium in München und Freiburg fort. Im gleichen Jahr erschien sein erster Artikel in der Deutschen Monatsschrift für Zahnheilkunde: „Über den Bau und die Entstehung der Schmelztropfen“ (Kantorowicz 1904). Am 01.07.1905 bestand er die medizinische Staatsprüfung mit ‚gut‘. Die Promotion folgte am 07.07.1905 in Freiburg auf Grundlage der Preisarbeit mit dem Thema „Kritik der neuen Methoden der Perkussion“ mit der Note ‚cum laude‘. Die 32 Seiten umfassende Dissertation wurde 1906 publiziert in Berliner Klinik, Heft 220 (Kantorowicz 1906).

Nach der Promotion leistete Kantorowicz zweimal je ein Vierteljahr des damals so genannten praktischen Jahres ab; der Rest von einem halben Jahr wurde ihm erlassen.

Am 07.08.1906 erhielt er die Approbation als Arzt (Rose 1969, S. 12).

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5.4 Assistententätigkeit und Habilitation

Alfred Kantorowicz war zwischen 1906 und 1907 in Berlin am Virchowkrankenhaus bei Prof. Goldscheider (innere Medizin) und am Robert-Koch-Institut bei Prof.

Jochmann (Infektionskrankheiten) als Assistent beschäftigt. Er hat sich dort gründlich in der Inneren Medizin, Bakteriologie und in der Bekämpfung der Infektionskrankheiten weitergebildet (Häussermann 1996; Rose 1969, S. 12–13). Kantorowicz publizierte als Koautor mit Jochmann „Zur Kenntnis der Antifermente im menschlichen Blutserum“ (Jochmann und Kantorowicz 1908).

Von 1907 bis 1908 war Kantorowicz Assistent bei Geheimrat Carl Garrè (teils auch Garré geschrieben) (Chirurgie) in Bonn, bei dem er eine chirurgische Ausbildung absolvierte (Garrè 1909; Mattern 2009, S. 18). Dadurch hat er bereits wertvolle Kenntnisse für seinen späteren Beruf erlangt. Zwischen 1909 und 1914 war er Assistent bei Prof. Otto Walkhoff (Bakteriologie und Histologie) in München2. Dort kam bereits sein Interesse an der zahnärztlichen Wissenschaft zum Ausdruck (Kremer und Büchs 1967, S. 164). Kantorowicz verfasste einige Studien über das neue Arbeitsgebiet der Histologie der Zähne. Aus den beiden Arbeitsgebieten der Bakteriologie und der Histo- logie entwickelt sich seine Habilitationsschrift. In Zusammenarbeit mit Prof. Gruber in Bakteriologie und Prof. Walkhoff in Mikroskopie verfasste er „Bakteriologische und histologische Studien über die Caries des Dentins“ (Tschernitschek und Geurtsen 2014).

Von der Universität München erhielt er die Genehmigung, diese Abhandlung der Medizinischen Fakultät der Universität Göttingen vorzulegen. Damit erreichte er am 19.12.1911 die ‚Venia legendi‘. Am 26.01.1912 hielt er seine Antrittsvorlesung an der Universität München über die „Bedeutung der Vererbungsprobleme für die

2 Otto Walkhoff (* 23.04.1860 in Braunschweig, † 08.06.1934 in Berlin) hat sich seit 1908 als 1. Vorsitzender des ‚Central-Vereins deutscher Zahnärzte‘ (später Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, DGZMK) sehr stark für einen Doktortitel in der Zahnmedizin eingesetzt. So richtete er Petitionen an die medizinischen Fakultäten. Die Erreichung des Ziels 1919 gilt größtenteils als sein Verdienst (Groß 1994, S. 239-255; Groß 2015b, Groß 2017). Walkhoff führte die Radiologie kurz nach der Publikation von Wilhelm Conrad Röntgen in die Zahnheilkunde ein. Seine Praxis in Braunschweig war zu dieser Zeit die Einzige weltweit, in der zahnärztliche Röntgenbilder angefertigt wurden (Rezai 1986).

(21)

Zahnheilkunde“. Am 21.03.1912 wird er durch königliche Order als Privatdozent in die Fakultät aufgenommen (Rose 1969, S. 13).

Die Pathologie der Zähne und die Karies stellten zunächst seine Hauptarbeitsgebiete dar. Die Karies sollte nach Kantorowicz möglichst schon im Kindesalter bekämpft wer- den. Hieraus entwickelt sich das Engagement für die soziale Seite der Zahnheilkunde, die Schulzahnpflege, der er während der ganzen Zeit seines Wirkens Aufmerksamkeit gewidmet hat. Ein neues Arbeitsgebiet stellt die Vererbung und Pathogenese der Kieferanomalien dar, die ihn später zur Kieferorthopädie führen wird (siehe Kap. 7.1.1).

5.5 Schulzahnklinik in Ruhpolding

Alfred Kantorowicz machte die Erfahrung, dass sich nur wenige Eltern um die Pflege des Gebisses ihrer Kinder kümmerten und sie erst im Notfall zum Zahnarzt brachten.

Deshalb regte er an, alle Kinder obligatorisch ab dem sechsten Lebensjahr regelmäßig durch Schulzahnärzte untersuchen zu lassen (Hohmann 2008, S. 60). Bei Kindern bricht mit etwa sechs Jahren der 6-Jahr-Molar als erster bleibender Backenzahn durch.

Die erste Schulzahnklinik im Deutschen Reich wurde 1902 in Straßburg unter Leitung von Ernst Jessen errichtet (siehe Kap. 6.2). Diese war ein Vorbild für Zahnärzte in Deutschland und anderen Ländern. Auch Kantorowicz ließ sich davon inspirieren. So führte er 1912 in Ruhpolding, einer Gemeinde bei München, eine planmäßige Schul- zahnpflege ein. Die Untersuchung und Behandlung der Kinder erfolgte innerhalb der Schulen. Nach Meinung von Kantorowicz war diese erforderlich, da sich die Eltern nicht ausreichend um die Zahngesundheit ihrer Kinder bemühten. Zunächst beschränkte sich Kantorowicz auf die Prävention und Behandlung von Karies. Mit der Zeit führte er die kieferorthopädische Prophylaxe in schulische Hygieneprogramme ein, um kiefer- orthopädische Funktionsstörungen ebenfalls zu behandeln (Kantorowicz 1919).

1912/13 wurde die Errichtung einer sogenannten Schulzahnklinik durch eine große Geldspende eines wohlhabenden Münchner Bürgers ermöglicht. Es handelte sich um eine ambulante Einrichtung zur Untersuchung und Behandlung der Schulkinder in der Schule. Dieses Modell wurde, nach dem späteren Wirkungsort von Kantorowicz

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benannt, als das ‚Bonner System‘. Das Besondere lag in der Durchführung von Unter- suchung und Behandlung am gleichen Ort. Ein weiteres Modell war das ‚Frankfurter System‘, bei dem die Untersuchung von hauptamtlich angestellten Zahnärzten durch- geführt und festgestellte Schäden von nebenamtlich mitwirkenden frei praktizierenden Zahnärzten behandelt wurden. Schließlich wurden beim ‚Mannheimer System‘ sowohl die Untersuchung als auch die Behandlung von nebenamtlich angestellten frei prakti- zierenden Zahnärzten durchgeführt (Hohmann 2008, S. 60; Kantorowicz 1914a;

Uschkureit 1989, S. 62–64). Das von Kantorowicz eingeführte ‚Bonner System‘ war sehr erfolgreich. Kantorowicz wird der Verdienst zugeschrieben, erstmals die planmäßige Schulzahnpflege im großen Stil eingeführt zu haben (Haase 2001, S. 93).

Nach diesem Konzept begann die Behandlung der Karies bereits in den Grundschulen.

Sie war für alle Kinder verpflichtend und wurde vom Staat bezahlt. Alle Kinder einer Schule wurden aus dem Klassenzimmer aufgerufen, bei Bedarf zahnärztlich behandelt und dann in viermonatigen Intervallen nachuntersucht. Es wurden aber nicht nur kariöse und schmerzhafte Zähne behandelt. Vielmehr wurden auch beginnende Läsionen behandelt, die noch keinen Schmerz ausgelöst hatten, damit größere Probleme gar nicht erst entstehen. Schon der kleinste kariöse Defekt wurde mit einer Füllung versehen.

Kantorowicz glaubte außerdem, dass die Einübung von guten Gewohnheiten ein Leben lang halten würde, und Kinder, die gewohnt waren, regelmäßige zahnärztliche Termine zu halten, dies auch noch als Erwachsene tun würden. Letztlich hätte dies auch eine bessere Volksgesundheit zur Folge (Loevy und Kowitz 1993; Uschkureit 1989, S. 65– 69). Zwischen 1917 bis 1919 konnten ca. 90 % (Kantorowicz 1919) und 1920 schon fast 97 % (Guggenbichler 1988, S. 147) der Gebisse während der Schulzeit saniert werden.

5.6 Zeit des 1. Weltkriegs

Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 meldet sich Kantorowicz als Freiwilliger.

Ende des Jahres erfolgte die Einberufung als landsturmpflichtiger Zivilarzt. Am 20.01.1916 wurde er ordinierender Arzt des Reservelazaretts Hagenau im Elsaß und

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später übernahm er die Leitung der Zahnstation des gleichen Lazarettes. Am 06.08.1917 erhielt er für seinen Einsatz das Eiserne Kreuzes II. Klasse (Rose 1969, S. 15).

Auch während des aktiven Dienstes von Ende 1914 bis 1918 veröffentlichte Kantorowicz einige Studien. Aus diesen geht hervor, dass er seinen Wohnsitz in München beibehalten hatte (Rose 1969, S. 14). Ein Teil dieser Studien hatte einen direkten Bezug zur Behandlung von kriegsbedingten Verletzungen. So schrieb er über

Kieferverletzungen und ihre Behandlung“ (Kantorowicz 1914c). Die Beschäftigung mit anästhesiologischen Themen fiel ebenfalls in diesen Bereich: „Die extraorale Leitungsanästhesie“ (Kantorowicz 1915a; Kantorowicz 1915b) oder „Zur Asepsis der lokalen Anästhesie“ (Kantorowicz 1915d). In diesem Zusammenhang ließ er eine Injektionsspritze, die sich für die aseptische Behandlung als besonders geeignet erwiesen hatte, von einer Firma·nach seinen Vorgaben herstellen und auf den Markt bringen (Kantorowicz 1915d).

Abb. 3: Alfred Kantorowicz bei einer Operation im Reservelazaretts Hagenau im Elsaß während des 1. Weltkriegs (Häussermann 1996)

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5.7 Privatleben

Alfred Kantorowicz heiratete am 28.02.1912 die evangelische Münchnerin Anna Maria Hedwig Steinlein, genannt Annemarie. Mit ihr hatte er vier Kinder:

1. Dorothea, genannt Thea (*26.03.1909, †10.08.1986), sie war mit dem Nobelpreisträger Hermann Joseph Muller verheiratet;

2. Anna-Margaret, genannt Annemarie (*02.08.1913, †16.04.2016), verheiratet Kenter;

3. Erich Otto (*27.11.1916, †15.02.1934) und

4. Georg Friedrich (*24.02.1921, †16.11.2010) (Forsbach 2006, S. 336; Geni 2018).

Während der Gefangenschaft im Konzentrationslager Börgermoor hatte sich Kantorowicz mit einem Mitgefangenen angefreundet und einiges anvertraut, was Aufschlüsse über das Verhältnis mit seiner Frau gibt. Der Mitgefangene war Wolfgang Langhoff, der eine Autobiografie „Die Moorsoldaten“ verfasste. Nach dessen Schilderungen erhielt Kantorowicz vor seiner Verhaftung am 01.04.1933 von seiner Frau den Rat, sich selbst der Polizei zu stellen. Sie ging aber davon aus, dass man ihrem Mann nichts anhaben könnte. Dieser Irrtum führte nach der Gefangennahme von Alfred Kantorowicz bei seiner Frau zu Kummer und Selbstvorwürfen. Sie beging einen Selbstmordversuch, indem sie sich in den Rhein stürzte. Sie wurde zwar gerettet, musste aber wegen völliger Geistesverwirrung in eine Heilanstalt gebracht werden. Dies hatte Kantorowicz wiederum sehr mitgenommen, sodass er, selbst ein Gefangener, wegen der Situation seiner Frau verzweifelt war (Langhoff 1992). Es gab jedoch noch einen weiteren Grund für Kantorowicz, sich selbst zu stellen. So hatte er erfahren, dass andere Personen an seiner Stelle verhaftet wurden (Häussermann 1996; Helfgen 2001).

Kantorowicz emigrierte Ende November 1933 nach Istanbul in die Türkei (siehe Kap.

5.11). Seine Frau und die Kinder kamen Anfang 1934 nach. Die Tochter Thea beendete in Istanbul ihr in Bonn abgebrochenes Medizinstudium (Forsbach 2006, S. 403).

Am 15.02.1934, also kurz nach der Ankunft, beging sein 17-jähriger Sohn Erich Selbst- mord. Die Ehe von Kantorowicz soll zu diesem Zeitpunkt bereits zerrüttet gewesen sein.

(Ob ein Zusammenhang mit der Gefangenschaft 1933 besteht, darüber geben die

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Quellen keine Auskunft.) Kantorowicz, der im Übrigen sehr sportlich war und sogar am 15. Mai 1930 das Deutsche Turn- und Sportabzeichen in Gold für seine Beteiligung an einem 15 km-Ski-Rennen in der Eifel verliehen bekommen hatte (Rose 1969, S. 82), war mit seiner neuen Freundin, der früheren Oberschwester Elsa Trapp, außerhalb von Istanbul Skilaufen (Mattern 2009, S. 62).

Am 03.07.1935 ließ sich Kantorowicz von seiner Ehefrau Anna Maria scheiden. Er wollte sein Verhältnis zu Elsa Trapp legitimieren und sich neu mit ihr verheiraten.

Annemarie sollte, da unschuldig, lebenslang Unterhalt erhalten. Die Botschaft ver- weigerte jedoch das für die Eheschließung im Ausland notwendige Ehefähigkeits- zeugnis. 1936 heiratete er dennoch seine Assistentin Elsa Trapp ohne Ehefähigkeits- zeugnis in Bulgarien (Mattern 2009, S. 63).

5.8 Politische Einstellung

Kantorowicz erkannte die Zusammenhänge zwischen Krankheit und sozialer Lage. Er verband naturwissenschaftlich erlangte Forschungsergebnisse mit bodenständigem, sozialpolitischem Handeln zugunsten der überwiegend ärmeren Bevölkerung. So war es ihm war wichtig, dass die Kieferorthopädie allen Gesellschaftsschichten zugänglich ist.

Hierzu erreichte er 1927 die Angliederung der Orthodontischen Abteilung an die Schulzahnklinik. Für diese sozialen Belange engagierte er sich als Sozialdemokrat im Bonner Stadtrat und überregional im Verein Sozialistischer Ärzte (Kirchhoff 2009).

Von 1919 bis 1933 war er Stadtverordneter und Mitglied der SPD-Fraktion im Rat der Stadt Bonn (Presseamt Bonn 2015). Später war er Mitglied der zahnärztlichen Sektion des ‚Vereins sozialistischer Ärzte‘ (Mattern 2009, S. 29). 1933 trat Kantorowicz wegen der politischen Verhältnisse und in der Hoffnung, weitere Nachteile zu vermeiden, aus der SPD aus (Mattern 2009, S. 44).

Kantorowicz unternahm zahlreiche berufsbedingte Reisen, u. a. 1923 auch nach Moskau. Diese Reisen förderten den Mythos, dass Kantorowicz ein Kommunist war, was aber nie gestimmt hat (Doyum 1985, S. 40–41; Rose 1969, S. 17). Tatsächlich konnte er gleichzeitig jüdisch, sozialdemokratisch und nationalgesinnt sein, was nicht

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untypisch in der Weimarer Republik war. So meldete er sich im 1. Weltkrieg als Kriegsfreiwilliger. Später setzte er sich zusammen mit anderen Bonner Sozialdemokraten nachdrücklich für die nationale Einheit und für den Verbleib des Rheinlandes beim Deutschen Reich ein. Damals war das Rheinland französisch besetzt (Häupl 1955; Korkhaus 1950; Kremer und Büchs 1967, S. 66–68).

5.9 Professor in Bonn

Kantorowicz besuchte im März 1918 nach seiner Berufung das kleine zahnärztliche Privatinstitut in Bonn und trat in Verhandlungen mit den zuständigen Stellen. In mehreren Schreiben an Fakultät und Kurator betonte Kantorowicz nachdrücklich, dass für seinen Entschluss, dem Ruf zu folgen, die Übertragung der Schulzahnklinik wesentlich sei. Am 22.03.1918 erfolgte dann endgültig die Ernennung zum ‚Lehrer der Zahnheilkunde‘ an der Universität Bonn zum Sommersemester 1918 als Nachfolger von Max Eichler. Am 04.06.1918 wurde er zum Titular-Professor an der Universität Bonn ernannt. Die Übernahme der Klinikleitung war zu Beginn des Winter-Semesters vorgesehen. Die Anfänge waren zunächst sehr bescheiden, die Räumlichkeiten beengt und die Ausstattung unzureichend und veraltet. Das zahnärztliche Privatinstitut und die Schulzahnklinik befanden sich auf unterschiedlichen Etagen des gleichen Gebäudes (Forsbach 2006, S. 335–336; Häussermann 1996).

Kantorowicz und Mitarbeiter setzten sich für die Verstaatlichung des zahnärztlichen Privatinstituts ein. Sie waren damit erfolgreich, am 01.10.1920 wurde das zahnärztliche Privatinstitut zur staatlichen Zahnärztlichen Klinik erhoben. Am 12.02.1921 wurde der Ausbau und die Verstaatlichung der Universitäts-Zahnklinik feierlich begangen (Kremer und Büchs 1967, S. 52–56). Kantorowicz hielt dazu selbst die Festrede (Kantorowicz 1921d).

Am 23.08.1921 wurde Kantorowicz zum außerordentlichen Professor ernannt. Er wurde am 23.11.1921 Direktor des Zahnärztlichen Instituts und gleichzeitig Leiter der Schulzahnklinik. Die Ernennung zum ordentlichen Professor für Zahnmedizin in Bonn fand am 09.04.1923 statt (Kremer und Büchs 1967, S. 164). Während das Institut zur

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Jahrhundertwende nur 21 Studenten hatte, nahm die Anzahl nach dem ersten Weltkrieg stark zu und erreichte 1920/21 bereits eine Anzahl von 302 Studenten (Korkhaus 1967).

1925 konnte die Zahnärztliche Klinik nochmals erweitert werden, da ein sich im gleichen Gebäude befindliches Möbelgeschäft ausgezogen war (Kremer und Büchs 1967, S. 69) (Abb. 4, Abb. 5).

Abb. 4: Bonner Universitätszahnklinik im Jahr 1925; Foto: Universitätsarchiv Bonn (Kirchhoff 2009)

Abb. 5: Kantorowicz (an der Tafel) und sein Institutspersonal; Foto:

Universitätsarchiv Bonn (Kirchhoff 2009)

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Kantorowicz erweiterte das zahnärztliche Institut durch den Aufbau einer oralchirurgischen und einer kieferorthopädischen Abteilung. 1926 startete Kantorowicz gegen Widerstände ein Programm zur Bekämpfung der Rachitis und führte ein Programm von Nahrungsergänzungsmitteln (Vigantol) ein, um die Häufigkeit der damals sehr verbreiteten Krankheit zu verringern. Er war der Meinung, dass dies auch zu verringerter Zahnkaries, Verbesserung der Entwicklung von Kieferknochen und Vermeidung von Malokklusion beitragen würde (Kantorowicz 1928c; Loevy und Kowitz 1993).

Kantorowicz machte bereits zu Beginn seiner Lehre in Bonn deutlich, dass er zwei Hauptanliegen für die Zahnheilkunde habe, die Forschung und die Beachtung von sozialen Belangen. Dies führte zu einer deutlichen Verbesserung der Zahngesundheit, insbesondere der Karies bei Kindern (Loevy und Kowitz 1993). Am 01.02.1926 wurde er aufgrund seiner großen Verdienste um die zahnärztliche Wissenschaft der Dr. med.

dent. h.c. der Universität Bonn verliehen (Kremer und Büchs 1967, S. 72).

Um die Schulzahnpflege weiter zu verbessern und um unterversorgte Regionen abzudecken, stellte Kantorowicz 1926 eine motorisierte Schulzahnklinik in Betrieb und plante die Inneneinrichtung. Diese war ergonomisch so gestaltet, dass sich der Zahnarzt und sein Assistent nicht gegenseitig störten (Abb. 6). Die Idee ging ursprünglich auf Dr.

Georg Scherer in Mülhausen/Elsaß zurück, der 1910 einen von Pferden gezogenen Klinikwagen mit zwei Operationsstühlen einsetzte (Kantorowicz 1928a; Kremer und Büchs 1967, S. 93).

1927 schlug Kantorowicz dem Kultusministerium und der Stadt Bonn eine Angliederung der Orthodontischen Abteilung der Universitäts-Zahnklinik an die Städtische Schulzahnklinik vor. Verhandlungen mit der Stadt Bonn führten bereits am 01.10.1927 dazu, dass diese Abteilung der Schulzahnklinik nebengeordnet wurde.

Damit waren Orthodontie und Schulzahnpflege erstmalig miteinander vereint, was dazu führte, dass in der Orthodontischen Abteilung viele Kinder behandelt wurden, anstelle der vorher üblichen Einzelbehandlung (Kremer und Büchs 1967, S. 82–84).

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Abb. 6: Erst automobile Schulzahnklinik (Kantorowicz 1928a)

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Die Bonner Universitäts-Zahnklinik hatte sich im In- und Ausland einen guten Ruf erworben. Sie entwickelte sich zu einer der bedeutendsten Stätten der Jugendzahnpflege für die Behandlung der Karies und von Gebissanomalien. Zahlreiche Ärzte, Dozenten und Wissenschaftler aus vielen Ländern haben dort gelernt (Korkhaus 1950). Auch die Zahl der Zahnmedizinstudenten nahm weiterhin zu. Im Sommersemester 1927 stand Bonn (179) hinter Berlin (242) und München (219) bereits an dritter Stelle (Kantorowicz 1927a). 1929 wurden dort 455 Zahnmediziner ausgebildet. Kantorowicz hatte es Dank seines menschlichen, pädagogischen und wissenschaftlichen Formats geschafft, schon bald überdurchschnittlich begabte Schüler heranzuziehen. Diese hatten sich zu anerkannten Fachgelehrten und namhaften Praktikern entwickelt. Die größte Bekanntheit erlangten Karl Anspach, Wilhelm Balters, Herbert Hofrath, Gustav Korkhaus, Rene Meyer, Karl Friedrich Schmidhuber und Reinhard Waldsachs (Sauerwein 1980).

Das Verhältnis zwischen dem sozialdemokratischen Kantorowicz und seinem berühmtesten Schüler, dem zunächst nationalkonservativen Korkhaus, war ambivalent.

Wissenschaftlich konnten beide jahrelang konstruktiv und produktiv zusammenarbeiten, wobei Korkhaus eindeutig von Kantorowicz profitiert hat als ‚Spiritus rector‘ und

‚Mentor‘. Andererseits versuchte Korkhaus, sich nach der Vertreibung von Alfred Kantorowicz durch enge NS-Kontakte zu profilieren. So trat er im Mai 1933 der NSDAP bei und wurde danach Mitglied in zahlreichen weiteren NS-Organisationen (Kirchhoff 2009).

Der interne Untersuchungsausschuss der Universität Bonn kam nach dem Ende des NS- Regimes zu dem Schluss, dass Korkhaus aufgrund seines jüdischen Lehrers zwar einer- seits nationalsozialistischen Restriktiven unterlag, andererseits war er gewillt, sich an das NS-Regime bedingungslos anzupassen. Der Dekan von Redwitz brachte seine scharfe Kritik an Korkhaus wie folgt zum Ausdruck: „So ist er jetzt imstande, auf Grund von Briefen etc. zu beweisen, dass er niemals ein Nationalsozialist war. Aber ich vermute, dass er den Nazis ebenso beweisen konnte, dass er stets für ihre Sache eingetreten sei“ (Forsbach 2006, S. 318).

Unabhängig von Korkhaus‘ Opportunismus galt er aber auch als „getreuer Schüler von Prof. Kantorowicz“. So hat Kantorowicz selbst, nach seinem Verzicht auf das Ordinariat

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1947 einen Nachfolgevorschlag unterbreitet: „An seiner Stelle“ möge, „Herr Prof.

Korkhaus den alten Ruf der Bonner Klinik wieder herstellen“ (Forsbach 2006, S. 658).

Ende der 1920er Jahre stieg die Anzahl der Publikationen stark an, besonders hervorzuheben sind das vierbändige „Handwörterbuch der Zahnheilkunde“ (Kantorowicz 1929). 1931 wurden große internationale Kongresse in London und Paris durchgeführt, wobei die Bonner Klinik mit Referaten und Ausstellungen beteiligt war (Kremer und Büchs 1967, S. 84). Hieraus geht hervor, dass sich Kantorowicz um 1930 etabliert hatte und hoch anerkannt war. Besonders hervorzuheben ist, dass er eine eigene Schule ausbildete, und zwar die ‚Bonner Schule‘ für Kieferorthopädie (Groß 2018).

5.10 Schicksal im Dritten Reich

Ab Ende 1932 setzte verstärkt Propaganda gegen Kantorowicz und seine jüdischen Assistenten ein. Am 30.01.1933 wurden die Übergriffe „legalisiert“ und es kam zu ersten Verhaftungen (Kremer und Büchs 1967, S. 97). Die Tochter Thea Kantorowicz war Mitglied der ‚Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft der Universität Bonn‘. Kurz nachdem am 04.02.1933 im ‚Westdeutschen Beobachter‘ ein infamer Artikel erschienen war, wurde sie verhaftet (Forsbach 2006, S. 402).

Da Kantorowicz befürchtete, ebenfalls verhaftet zu werden, schlug er mit Schreiben vom 30.03.1933 dem Kurator und Dekan seine Stellvertreter vor. Am 31.03.1933 schrieb er dem Dekan, dass er befürchtete verhaftet zu werden und beabsichtigte sich selbst zu stellen. Am 01.04.1933 gab er die Strategie des Versteckens auf und ließ sich von seinem Assistenten Dr. Schmidhuber zur Polizei in Bonn fahren, um sich selbst zu stellen. Er wurde in das Amtsgerichtsgefängnis Bonn eingeliefert und in ‚Schutzhaft‘ genommen (Forsbach 2006, S. 339–340). Kantorowicz übersandte am 09.05.1933 einige Unterlagen zu seinem Fall an den Dekan Götz. Darin nahm er auch zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung. Zu seiner Enttäuschung erhielt er aber keinerlei Unterstützung (Forsbach 2006, S. 341–342).

3,5 Monate nach der Inhaftierung wurde Kantorowicz in das Konzentrationslager Börgermoor in der Lüneburger Heide gebracht. Er war dort als Zahnarzt tätig, nachdem

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Abb. 7: Entlassungsschreiben (Pross und Aly 1989)

er sich von Schmidhuber Instrumente schicken ließ. Danach kam er in ein Lager für Prominente und Intellektuelle in Lichtenburg in Sachsen (Doyum 1985, S. 40).

Das Verhalten der medizinischen Fakultät nach der Inhaftierung ihres Mitglieds Kantorowicz war sehr beschämend. Nicht einmal seine engsten Mitarbeiter hatten sich für ihn eingesetzt, worüber er sehr enttäuscht war. Die medizinische Fakultät beugte sich nicht nur dem Druck der neuen Machthaber, sondern ist teilweise auch aus eigener Überzeugung gegen Kantorowicz vorgegangen (Forsbach 2006, S. 338; Mattern 2009, S. 44).

Mit Schreiben vom 23.09.1933 wurde Kantorowicz durch den preußischen Minis- ter für Wissenschaft, Kunst und Volksbil- dung aus dem preußischen Staatsdienst, auf der Grundlage des antisemitischen ‚Geset- zes zur Wiederherstellung des Berufs- beamtentums‘ vom 07.04.1933, entlassen (Abb. 7). Bis Ende Dezember 1933 sollte er noch seine bisherigen Bezüge erhalten. Ein Anspruch auf Ruhegeld oder Hinterblie- benenversorgung sowie die Weiterführung der Amtsbezeichnung wurde ihm jedoch verwehrt (Forsbach 2006, S. 344; Kremer und Büchs 1967, S. 99; Häussermann 1996;

Mattern 2009, S. 42; Takacs 2016).

Eine ganz andere Entwicklung fand in der Türkei statt, diese wurde erst im Oktober 1923 von Mustafa Kemal Atatürk gegründet. Seine Devise lautete: „Der einzig wahre Führer im Leben ist die Wissenschaft“ (Strohmeier 1990). Als Staatschef verordnete er ein sehr weitgehendes Reformprogramm. Auch das Universitäts- und Bildungswesen sollte reformiert werden. Am 01.08.1933 wurde im Rahmen der Universitätsreform auch die Istanbuler Universität gegründet. Diese war aus dem Darülfünun (Haus der Wissenschaften) hervorgegangen. Die Neubesetzung der alten Professuren erfolgte überwiegend durch deutsche Wissenschaftler. Von 12 Medizinprofessoren waren 8

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Deutsche. Das zeitliche Zusammentreffen der Universitätsgründung mit der Flucht der Wissenschaftler war ein Glücksfall, sowohl für die in Deutschland verfolgten Künstler und Wissenschaftler als auch für die Universität. Zahlreiche Ärzte, Juristen, Ökonomen und Architekten wurden in der Türkei aufgenommen und fanden in Istanbul und Ankara Schutz und Arbeit (Gerabek 1990; Stock 2014). Kantorowicz war dabei der einzige Professor für Zahnheilkunde (Reisman 2007).

Im Gegensatz zur Türkei bestanden in Amerika und bei seinen europäischen Verbünde- ten nicht nur antijüdische Ressentiments, sondern auch restriktive Einwanderungs- gesetze, die eine Flucht dorthin in den 1930er Jahren verhinderten (Reisman 2007). Auf der anderen Seite hatte sich in der Schweiz eine ‚Notgemeinschaft deutscher Wissen- schaftler im Ausland‘ organisiert. Diese hatte guten Kontakt zu türkischen Gelehrten in Istanbul, die für die Reform des Universitäts- und Bildungswesen zuständig waren. Mit der Notgemeinschaft wurde eine Liste deutscher Forscher für die Übersiedlung in die Türkei zusammengestellt. 42 deutsche Gelehrte, darunter auch Kantorowicz, wurden eingeladen (Häussermann 1996). Auch Einstein hielt gute Kontakte zur Notgemeinschaft. Am 17.09.1933 unterschrieb er einen Brief an die Türkei bzw. an den damals amtierenden Ministerpräsidenten Ismet Inönü (Anonymous 2016a) (Abb. 8).

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(Absender:) Union der Gesellschaft "OSE" Für den Schutz und der Gesundheit der jüdischen Bevölkerungen

Seine Exzellenz

Der Präsident des Ministerkabinetts der türkischen Republik

17 September, 1933

Ihre Exzellenz

Als Ehrenpräsident der Weltvereinigung "OSE" wende ich mich bittend an Ihre Exzellenz, um 40 Professoren und Ärzten aus Deutschland zu erlauben, ihre wissenschaftlichen und medizinischen Arbeiten in der Türkei fortsetzen zu können.

Die oben erwähnten Personen können sich nicht weiter in Deutschland betätigen, da die dort derzeit herrschenden Gesetze es nicht zulassen. Die Mehrheit dieser Männer besitzen große Erfahrungen, Kenntnisse sowie wissenschaftliche Verdienste und könnten, wenn man sie in ein neues Land umsiedeln würde, sehr nützlich sein.

Aus einer großen Zahl von Bewerbern hat unsere Vereinigung 40 erfahrene Fachmänner und prominente Gelehrte ausgewählt, und wendet sich hiermit an Ihre Exzellenz, um diesen Männern zu erlauben, sich in Ihrem Land niederzulassen damit sie Ihre Arbeit ausüben können.

Diese Wissenschaftler sind bereit, ein Jahr lang ohne jede Vergütung in einigen Ihrer Einrichtungen gemäß den Anweisungen Ihrer Regierung zu arbeiten.

Diesen Antrag unterstützend nehme ich mir die Freiheit, meine Hoffnung auszudrücken, dass bei einer Bewilligung dieser Bitte Ihrerseits eine Tat der großen Humanität vollzogen wird, dadurch aber auch einen Vorteil für Ihr eigenes Land mit sich bringt.

Ich habe die Ehre,

Ihrer Exzellenz zu Diensten zu sein

(Unterzeichnet von Prof. Albert Einstein)

Abb. 8: Albert Einsteins Brief an die Türkei (das Original liegt im türkischen Staatsarchiv) (Anonymous 2016a)

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1934 wurden in der Türkei etwa 130 Jüdische sowie 70 andere verfolgte Akademiker aus Deutschland und Österreich willkommen geheißen. Kantorowicz erhielt somit einen Ruf nach Istanbul. Der Vertrag zwischen dem Kultusminister Refik Beyefendi und Kantorowicz sollte (rückwirkend) zum 01.10.1933 beginnen und hatte zunächst eine Laufzeit von 5 Jahren. Der Vertrag wurde am 07.10.1933 in zweifacher Ausführung in Genf aufgesetzt und unterschrieben (Ülger 2004, S. 57) (siehe Anhang).

Am 05.11.1933 erfolgte die Freilassung aus dem KZ Lichtenburg nach Intervention des Kronprinzen Carl von Schweden, dem damaligen Präsidenten des Roten Kreuzes.

Kantorowicz lernte diesen auf einer längeren Reise durch Schweden kennen, bei der er Vorträge über sein System der Schulzahnpflege hielt. Die Verhandlungen wurden von seiner Tochter Thea mit der Gestapo in Berlin geführt, um seinen Aufenthalt zu ermitteln und die Entlassung zu erreichen (Mattern 2009, S. 47–48). (eigene Anmerkung: Es erscheint merkwürdig, dass der Vertrag zur Berufung nach Istanbul vor der Freilassung unterschrieben wurde, gemäß der Quellen).

Ein Diplomat der türkischen Botschaft in Berlin suchte Kantorowicz persönlich in Bonn auf. Kantorowicz verließ überhastet Bonn, reiste mit ein paar Koffern im Orientexpress nach Istanbul, wo er um die Jahreswende 1933/34 eintraf (Häussermann 1996). Nach einer anderen Schilderung war Kantorowicz kurze Zeit Asylant in der Schweiz, danach erfolgte die Übersiedlung in die Türkei (Takacs 2016). Staatspräsident Atatürk veran- staltete zu Ehren der aus Deutschland emigrierten und geflüchteten Wissenschaftler im Dolmabahce-Palast in Istanbul einen großen Festball (Häussermann 1996).

Am 27.12.1933 wurde Kantorowicz die Ehrendoktorwürde durch den Dekan der medizinischen Fakultät Wilhelm Ceelen in Abwesenheit entzogen (Takacs 2016). Die Begründung der Entziehung war dabei besonders perfide, da sie Kantorowicz noch die Schuld zuwies. So wurde ausgeführt, dass Kantorowicz aus dem Staatsdienst entlassen wurde und Deutschland ohne weitere Mitteilung verlassen hat (Forsbach 2006, S. 345).

Nicht nur, dass die Fakultät Kantorowicz nicht beigestanden hat, sondern sie wirkte an den Entehrungsversuchen auch noch aktiv mit. Die Fakultät verhielt sich gegenüber Kantorowicz auch noch in der Zeit der Emigration in Istanbul schikanös. So wurde der Bitte um die Übersendung einiger Duplikate von Doktorarbeiten nicht entsprochen (Forsbach 2006, S. 347).

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Abb. 9: Alfred Kantorowicz um 1940 (Doyum 1985, S. 22) 5.11 Zeit der Emigration

Schon im Januar 1934 begann Kantorowicz mit seiner Tätigkeit als ordentlicher Pro- fessor an der zahnärztlichen Abteilung.

Trotz weiterer Rufe an andere ausländische Universitäten (darunter Australien) blieb er bis 1950 in Istanbul (Rose 1969, S. 20). In seinem Vertrag (siehe Anhang) hatte sich Kantorowicz dazu verpflichtet, all seine Kraft in die Lehrtätigkeit und Forschung zu stecken und den Unterricht selbst abzuhal- ten und die Prüfungen alle selbst vorzu- bereiten. Auch hatte er sich dazu verpflich- tet, die wichtigsten Bereiche seiner wissen- schaftlichen Arbeit vor Ende des dritten Vertragsjahres als Lehrbuch zu veröffentl- ichen. Für seine außerhalb der Schule arbeitenden Zahnarztkollegen musste er regelmäßigen und unentgeltlichen Fach- unterricht erteilen. Beteiligt war er auch am

Fortbildungsprogramm für Universitätsmitarbeiter. Schließlich sollte er sich auch am Kampf gegen die Tuberkulose beteiligen (Ülger 2004, S. 55–56).

Kantorowicz war laut Vertrag zahnärztlicher Institutsdirektor. Dies stand jedoch dem türkischen Ausländergesetz entgegen, nach dem Ausländer keine leitende Position im öffentlichen Dienst ausüben durften. Bei akademischen Institutionen war die Auslegung großzügiger. Daher wurde die Position des Unterrichtsdirektors geschaffen. Damit war Kantorowicz ab Oktober 1934 zuständig für Lehre, Forschung und Lernstoff. Um einen Schein der Legalität zu wahren, wurde für einen Einheimischen zusätzlich die Stelle des Verwaltungsdirektors geschaffen. Als dieser ausgeschieden war, übernahm Kantorowicz ab 1936 auch Verwaltungsaufgaben und übte diese bis 1946 aus (Ülger 2004, S. 61).

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Abb. 10: Alfred Kantorowicz um 1950 (Häussermann 1996) Kantorowicz war nicht mehr in erster Linie Forscher, sondern vor allem Lehrer. Die Verhältnisse dort waren ähnlich wie in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. Er hatte die Aufgabe, die zahnärztlichen Ausbildungsstätten zu akademischen Instituten umzuformen. Kantorowicz hatte dort Zahnärzte und Hilfspersonal sowie seine späteren Nachfolger ausgebildet. Entsprechend hatte er in diesen Jahren weniger Studien sondern mehr Hand- und Lehrbücher veröffentlicht (Rose 1969, S. 20). Kantorowicz hatte die in ihn gesteckten Erwartungen in ausgezeichneter Weise erfüllt (Schmidhuber 1955). So erreichte das zahnärztliche Universitätsinstitut Istanbul unter der Leitung von Kantorowicz zentraleuropäisches Niveau (Schwarz 1961). Später wurde die Istanbuler Medizinische Bibliothek nach ihm benannt (Kirchhoff 2010).

5.12 Nach dem 2. Weltkrieg

Am 02.10.1946 erhielt Kantorowicz einen Brief der Universität Bonn, in dem er zurück- gerufen wurde. Am 13.03.1947 erklärte er seine grundsätzliche Bereitschaft, die Tätig- keit in Bonn wieder aufzunehmen. Allerdings erlitt er im April 1947 einen Herzinfarkt.

Deshalb hatte er die Entscheidung hinausge- schoben. Er erhielt ein erneutes Schreiben der Universität mit der Bitte um eine Entschei- dung. Denn die Universität wollte auch Prof.

Dr. Korkhaus nicht verlieren, der einen Ruf nach Marburg erhalten hatte. Kantorowicz sagte schließlich am 03.06.1947 aufgrund seines fortgeschritten Alters von 67 Jahren und auch wegen der schweren Herzerkran- kung zugunsten von Prof. Korkhaus ab (Rose 1969, S. 22).

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Abb. 11: Alfred Kantorowicz 1962 bei der Lectio aurea (Häussermann 1996) Kantorowicz wurde am 11.07.1948 in Istanbul emeritiert. Er kehrte am 20.04.1950 endgültig nach Deutschland zurück (Doyum 1985, S. 314). Am 20.06.1950 wurde er zum zahnärztlicher Berater im Ministerium für Arbeit und Soziales Nordrhein- Westfalen ernannt. Diese Tätigkeit übte er bis 1956 aus (Mattern 2009, S. 85).

Am 18.06.1955 wurde Kantorowicz der Dr. med. h.c. der Universität Bonn „in dankbarer Anerkennung seiner hervorragenden wissenschaftlichen Verdienste für die Zahnheilkunde“ verliehen. Es handelte somit um eine Ehrendoktorwürde der Medizin, im Unterschied zur 1926 verliehenen Ehrendoktorwürde der Zahnmedizin (Rose 1969, S. 101). Vor allem wurden seine Bemühungen um eine wirkungsvolle Bekämpfung der Zahnkaries und die Entwicklung der Grundsätze für eine Jugendzahnpflege gewürdigt.

Außerdem hatte er durch seine langjährige erfolgreiche Tätigkeit als Hochschullehrer den Ruf der Bonner Zahnklinik als führende Forschungs- und Lehrstätte begründet (Rose 1969, S. 102). Aus dem gleichen Grund wurde ihm bereits am 01.02.1926 dieser Titel verliehen (Kremer und Büchs 1967, S. 72) aber am 27.12.1933 wieder entzogen (Takacs 2016).

Kantorowicz hielt am 17.02.1962 die Lectio aurea im großen, festlich geschmückten Hörsaal der neu eingeweihten Bonner Klinik über das Thema: „Nimmt die Karies in Deutschland zu?“ (Abb.

11). Am gleichen Tag wurde er zum Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde ernannt (Mattern 2009, S. 86–87; Rose 1969, S. 22– 23; Sauerwein 1980).

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Schon während seiner Jubiläumsvorlesung litt Kantorowicz unter heftigen Schmerzen.

Er musste sich einer Blinddarmoperation unterziehen, die er gut überstanden hatte.

Seine Herzprobleme traten jedoch wieder erneut auf. So ist er am 06.03.1962 in Bonn im Alter von 81 Jahren gestorben. Die Beisetzung nach Einäscherung erfolgte auf dem Friedhof in Bonn-Poppelsdorf (Doyum 1991, S. 297; Häussermann 1996; Mattern 2009, S. 87).

Zum 55. Todestag am 06.03.2017 wurde das Grab von Alfred Kantorowicz auf Initiative der SPD in ein Ehrengrab umgewandelt, um ein dauerndes Andenken zu ermöglichen.

Vertreter von SPD, Stadt und Arbeitskreis Jüdischer Sozialdemokraten haben eine Gedenkfeier durchgeführt und am Grab Steine niedergelegt (Ottersbach 2017) (Abb.

12).

Abb. 12: Ehrengrab von Alfred Kantorowicz am 6.03.2017 (linkes Bild:

Ottersbach 2017, rechtes Bild: Schott 2017)

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6 Kinder- und Jugendzahnheilkunde

6.1 Besonderheiten der Kinder- und Jugendzahnheilkunde

Die ursprüngliche Schulzahnpflege basiert auf Prophylaxe und zielte darauf ab, durch zahnärztliche Maßnahmen ab dem Schuleintritt eines Kindes die Zahnkaries einzudäm- men. Die Behandlungen fanden in Schulzahnkliniken statt. In diesen waren die Behand- lungsräume an die Bedürfnisse der Kinder angepasst. Schulzahnkliniken konnten direkt einer Schule angegliedert, in öffentlichen Kommunalverwaltungsgebäuden unterge- bracht, in eigenständigen Wohnhäusern eingerichtet oder einer Klinik angegliedert sein (Gutezeit 1929). Später wurde der Begriff Schulzahnpflege zur Jugendzahnpflege erwei- tert. Es ging dabei nicht mehr nur um die Versorgung von schulpflichtigen Kindern im Alter von 6-14 Jahren, sondern um eine Einbeziehung von jüngeren und älteren Kindern und Jugendlichen (Kessler und Schmitz 1953; Weichold 1947). Seitdem beinhaltet die Jugendzahnheilkunde „alle Maßnahmen, die zur Förderung der regulären Entwicklung, zur Gesunderhaltung und zur Wiederherstellung von Zähnen, Mund und Kiefern Jugendlicher in Betracht kommen“ (Anonymous 1981).

Nach heutigem Verständnis beschäftigt sich die Kinder- und Jugendzahnheilkunde mit der Thematik und Problematik des Milchgebisses (1. Dentition) und des Wechsel- gebisses (u. a. die Variabilität des Durchbruchmodus). Im Gegensatz dazu geht es in der Erwachsenenzahnheilkunde um das permanente Gebiss (2. Dentition).

Die Kinder- und Jugendzahnheilkunde ist keine modifizierte Erwachsenenzahnheil- kunde, da Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Vielmehr geht es um Eingriffe in einen Organismus, der sich noch in der Entwicklung befindet. Zudem werden in der Kinder- und Jugendzahnheilkunde andere Schwerpunkte gelegt, und zwar in der Früherkennung, Prophylaxe und psychologischen Führung (Einwag und Pieper 2002).

Das Besondere an der Kinder- und Jugendzahnheilkunde ist, dass auch psychologische, soziologische und allgemeinmedizinische Aspekte zu berücksichtigen sind (Staehle und Koch 1996). Das Ziel liegt darin, eine gute Behandlungskooperation (Compliance) der Kinder zu erreichen, als Voraussetzung für die notwendige Mitarbeit im Rahmen der Prävention und einer erfolgreichen Behandlung (Körperich und Maiwald 2012, S. 22–

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23). Angewendet wird eine integrative, fächerübergreifende Behandlungsstrategie. So wird im Lehrbuch zur Kinder- und Kinderzahnheilkunde auch auf die besondere Betreuung der Kinder und Eltern eingegangen. Als anatomische Grundlagen werden das Milch- und das Wechselgebiss beschrieben. Die Schwerpunkte liegen auf den Gebieten der Karies, Anamnese und Befunderhebung, Parodontologie, restaurative Zahnheil- kunde, Endodontologie und Traumatologie (Staehle und Koch 1996). In einem später erschienenen Lehrbuch zur Kinderzahnmedizin werden zusätzlich die orale und dentale Pathologie, zahnärztliche Untersuchung und Diagnose, Prophylaxe sowie Angst- und Schmerzkontrolle näher beschrieben (van Waes und Stöckli 2001). In einem neueren Buch zur Kinderzahnheilkunde hat insbesondere die Prophylaxe einen sehr hohen Stellenwert (Körperich und Maiwald 2012, S. 55–112).

Obwohl in Zahnarztpraxen normalerweise Patienten jeden Alters behandelt werden, gibt es für die Kinder- und Jugendzahnheilkunde auch spezialisierte Praxen, die sich in ihrer räumlichen und technischen Ausstattung speziell an die Bedürfnisse von Kindern angepasst haben (Brem 2010). Eine weitere Möglichkeit stellt die Umorientierung zu einer Familienbetreuung dar. Der Nachteil einer ausschließlichen Orientierung auf Kinder liegt darin, dass sich die Eltern möglicherweise ausgegrenzt fühlen. Dabei lässt sich ein Prophylaxeprogramm am besten in der Familie unter Einbeziehung aller Familienmitglieder realisieren (Maiwald 2012).

Die Aufgaben und Behandlungsschwerpunkte der Kinder- und Jugendzahnheilkunde sollen nur kurz genannt werden:

 Die Karies, auch Nuckelflaschenkaries (ECC early childhood caries), stellt immer noch ein sehr verbreitetes Krankheitsbild bei Kindern dar (Wetzel 2005).

Durch eine frühzeitige und regelmäßige Kontrolle können erste Vorzeichen erkannt und ein Fortschreiten durch Prophylaxemaßnahmen verhindert werden.

Die frühkindliche Karies soll durch professionelle Betreuung der Eltern und Kinder möglichst reduziert werden (Brem 2010).

 Kiefer- und Zahnfehlstellungen sowie myofunktionelle Störungen und Habits können durch die Kontrolle ebenfalls erkannt und entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden (Brem 2010).

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 Mineralisationsstörungen können zu massiven Schmelzschäden führen. Da die betroffenen Zähne sehr schmerzempfindlich sind und deshalb nicht ausreichend geputzt werden, kommt es zu weiteren Folgeschäden (Brem 2010).

 Zahnunfälle sind ausgesprochen häufig, mehr als 50 % aller Kinder und Jugend- lichen sind davon betroffen, davon rund 30 % im Milchgebiss und 25 % im bleibenden Gebiss. Um den Zahn zu retten, ist eine schnelle Behandlung sehr wichtig (Brem 2010).

 Schließlich geht es auch darum, das Interesse der Kinder und Jugendlichen für die Zahngesundheit zu wecken. Es gilt, die Zähne alle sechs Monate zu kontrol- lieren, professionell zu reinigen, um so ein Leben lang gesunde Zähne zu ermöglichen. Das Kind soll somit von Anfang an an die regelmäßigen zahnärzt- lichen Kontrollen und eventuelle spätere Behandlungen gewöhnt werden (Brem 2010). Fehler und Versäumnisse im Kindes- und Jugendalter wirken sich oft lebenslang aus (Staehle und Koch 1996).

Die Kieferorthopädie hat sich aus der Zahnheilkunde seit dem Ende des 19. Jahrhun- derts zu einem eigenständigen Fachgebiet entwickelt. Darin geht es um die Korrektur von Zahnfehlstellung und Bisslage, um eine langfristige Gesunderhaltung des Gebisses zu erreichen. Im Lehrbuch zur Kieferorthopädie wird Wissen zur Schädel- und Gebiss- entwicklung, zur Diagnostik, zu den Grundlagen der kieferorthopädischen Therapie und konkreten therapeutischen Maßnahmen sowie zur interdisziplinären Zusammenarbeit vermittelt. Die Behandlungsaufgaben reichen von einfachen prophylaktischen Maßnah- men bis hin zu aufwendigen kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Kombinations- behandlungen. Bei den Behandlungen besteht keine Altersgrenze. Da aber die Behand- lung von Erwachsenen im Buch von Bock et al. (2011) „Grundwissen Kieferortho- pädie“ nur einen sehr geringen Raum einnimmt, geht daraus indirekt hervor, dass die Behandlung vor allem für Kinder vorgesehen ist.

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