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6.2 Entwicklung der Kinder- und Jugendzahnheilkunde

6.2.1 Geschichtliche Entwicklung in Deutschland

6.2.1.1 Deutschland bis 1945

Um 1800 verfasste der Arzt Bernhard Faust eine „Anleitung zu einer vernünftigen Gesundheitspflege für Stadt- und Landschulen“, um die Idee der öffentlichen Gesund-heitspflege zu fördern und verbreiten (Herzog 2015b). Jonas Bruck aus Breslau forderte 1852 eine regelmäßige Untersuchung der Schulkinder in Preußen (Haase 2001, S. 27).

1879 führte der preußische Hofzahnarzt Carl Zimmer in Kassel erstmalig zahnärztliche Reihenuntersuchungen an Kindern durch. Bedürftige Kinder wurden zudem kostenlos behandelt (Hippchen 1973). Zimmer war damit der Begründer der systematischen Schulzahnpflege. Damals war die Zahnpflege an den Schulen jedoch noch kein Thema (Groß 1994, S. 306; Groß 2006b; Groß 2016b; Hesse 1936). Auch in der Gesellschaft bestand noch kein Bewusstsein dafür, welche große Bedeutung die Zahngesundheit für die Entwicklung der Kinder hat. Einige deutsche Zahnärzte wiesen zwar schon frühzeitig auf die Wichtigkeit der Prophylaxe im Kindesalter hin, sie wurden jedoch zunächst nicht beachtet. Obwohl sich die approbierten Zahnbehandler bereits 1859 im

‚Central-Verein deutscher Zahnärzte‘ organisiert hatten, konnten sie kaum auf die Behörden einwirken. Dies lag auch daran, dass Zahnärzte wenig anerkannt waren, zumal die Ausbildung zum Zahnarzt bis 1909 nicht an die allgemeine Hochschulreife gebun-den war. Besonders die akademischen Ärzte zweifelten die Qualifikation der Zahn-behandler an. Die wissenschaftliche Anerkennung wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass mit der offiziellen Freigabe der Heilkunde für Laien im Jahr 1872 eine große Zahl nichtapprobierter Zahnbehandler hinzu kam (Groß 1994, S. 375). Mit der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes im Jahr 1883 bestand nur ein Rechtsanspruch des Versicherten auf freie ärztliche Behandlung, nicht aber für Zahnbehandlungen (Groß 1998, S. 369).

Vor diesem Hintergrund wurden die ersten systematischen Untersuchungen der Zahn-verhältnisse bei Schulkindern von sozial engagierten Zahnärzten auf eigene Initiative vorgenommen. Besonders eingesetzt hat sich der Straßburger Mediziner Ernst Jessen (1859–1933) (Groß 2016b). In der Dissertation „Schulzahnpflege von 1902 bis 1945 in Deutschland“ wurde gezeigt, dass in der Straßburger Universitätsklinik bereits ab 1885 unentgeltliche Behandlungen von Schulkindern durchgeführt wurden (Müller 1997, S.

14). 1887 gründete Karl Kühn eine private Poliklinik in Hannover, die auch für Arme zugänglich war (Groß 1994, S. 306).

Hermann Eulenberg und Theodor Bach konnten 1889 mit der Herausgabe ihrer Mono-grafie zur „Schulgesundheitslehre“ erstmalig der Öffentlichkeit für die Wichtigkeit der Zahnpflege sensibilisieren. Die Autoren betonten die allgemeine medizinische Bedeu-tung gesunder Zähne. Es folgten weitere Monografien wie von Leo Burgerstein und August Netolitzky (1895), die in ihrem „Handbuch der Schulhygiene“ eine Institutiona-lisierung der Schulzahnpflege forderten (Groß 1994, S. 307; Groß 2016b).

1894 wurde in Kopenhagen der ‚Internationale Kongress aller für die Volkshygiene arbeitenden Ärzte und Zahnärzte’ durchgeführt. Es wurde eine Resolution verabschie -det, nach der in allen Ländern Kommissionen gegründet werden, die die jeweiligen Zahnverhältnisse statistisch erfassen. Dazu wurde die Empfehlung verabschiedet, das Volk über Zahnpflege aufzuklären und den Kindern aus ärmeren Schichten kostenlose zahnärztliche Hilfe zukommen zu lassen (Groß 1994, S. 307; Groß 2016b).

Paul Ritter hielt 1894 in Berlin bei einer Tagung des ,Vereins für innere Medizin‘ einen Vortrag über die Wichtigkeit der Zahnhygiene in den Schulen (Groß 1994, S. 307; Groß 2016b) und forderte eindringlich die Errichtung von Schulzahnpflegestätten (Groß 2006b; Pfeiffer und Pfeiffer 2002).

Zum Ende des 19. Jahrhunderts nahm der öffentliche Stellenwert der Schulzahnpflege zu. So wurde 1895 in Hamburg eine Stiftung mit dem Ziel gegründet, eine Behandlung mittelloser Volksschüler zu ermöglichen. In zahnärztlichen Fachzeitschriften wurde vermehrt auf die Bedeutung der Zahnhygiene im Kindesalter aufmerksam gemacht (Groß 1994, S. 307; Groß 2016b).

1898 gab das preußische Kultusministerium einen Erlass heraus, in dem die Schulbehörden angewiesen wurden, dafür zu sorgen, dass die Bedeutung der Zahn- und Mundpflege im Rahmen des naturkundlichen Unterricht besprochen wird und die Schüler entsprechend angeleitet werden (Groß 1994, S. 307; Groß 2016b; Kirchhoff und Heidel 2016, S. 239).

1900 wurde nach einem weiteren Erlass des Ministeriums, nach dem der Gebisszustand der Schüler besonders zu beachten sei, die ‚Wissenschaftliche Zentralstelle für Zahn

-hygiene‘ gegründet. Dr. Carl Röse, der bereits 1896 Reihenuntersuchung von Schul-kindern in Freiburg durchgeführt hatte, wurde der erste Leiter (Groß 2006b).

1902 wurde die erste Schulzahnklinik im Deutschen Reich in Straßburg unter Leitung von Ernst Jessen (siehe oben) errichtet. Jessen forderte, dass in der Schule über die Bedeutung der Zahnpflege für die Gesundheit aufgeklärt wird. Die Zahnheilkunde sollte nur von gut ausgebildeten Männern praktiziert werden (Groß 1994, S. 308). Die Straßburger Klinik war die Grundlage für die Integration zahnärztlicher Sozialfürsorge ins deutsche Gesundheitswesen (Groß 2016b).

Sechs Wochen später initiierte der ‚Verein Hessischer Zahnärzte‘ die Gründung der zweiten Schulzahnklinik in Darmstadt (Groß 1994, S. 308; Groß 2016b), es handelte sich dabei um die erste städtische Schulzahnklinik (Tholuck 1952). Weitere Grün-dungen erfolgten in Offenbach (1904), Mühlhausen (1905), Ulm, Altona, Dresden (1906), Bielefeld, Erfurt, Münster (1907), Heidelberg, Karlsruhe, Köln, Marburg und Saarbrücken (2008) (Haase 2001, S. 29; Kirchhoff und Heidel 2016, S. 240).

Der ‚Central-Verein deutscher Zahnärzte‘ (CVdZ), die Vorgängerinstitution der

‚Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde‘ (DGZMK), setzte eine Kommission zur Förderung der Schulzahnpflege ein. Gefordert wurden die Einstellung von Schulzahnärzten und eine Ausdehnung der Reihenuntersuchungen auf Armee und Marine (Groß 1994, S. 308; Groß 2016b).

1904 machte der berufspolitisch orientierte ‚Vereinsbund Deutscher Zahnärzte‘ (VbDZ) durch Petitionen und durch Gespräche mit Ministerialvertretern auf die Bedeutung einer systematischen Schulzahnpflege aufmerksam. Jessen forderte für jede Stadt eine eigene Schulzahnklinik und die Einführung der Schulzahnpflege auch in ländlichen Regionen.

Bis 1908 verfügten bereits 20 deutsche Städte über eine Schulzahnklinik (Groß 1994, S.

309; Groß 2016b).

1907 wurde auf Initiative des ‚Berliner Zahnärztlichen Standesvereins‘ eine ‚Kom mis-sion zur Einführung zahnärztlicher Hilfe an Krankenhäusern und Schulen‘ unter dem Vorsitz des Zahnarztes Erich Schmidt gegründet. 1908 initiierte der Obermedizinalrat Martin Kirchner, ein weiteres Kommissionsmitglied, die Gründung des ‚Deutschen Zentralkomitees für Zahnpflege in den Schulen‘. Dem Komitee gehörten Vertreter ver-schiedener Ministerien und Behörden sowie einzelne Zahnärzte, Lehrer und andere

Beamte aus ganz Deutschland an. Das 1909 formulierte Ziel lag in der Besserung der Zahnpflege in allen Teilen des deutschen Volkes. Dies sollte erreicht werden durch „1.

Öffentliche Vorträge über Zahnpflege; 2. Herausgabe allgemein verständlicher Schrif-ten über Zahnpflege; 3. Einführung von Belehrungen über Zahnpflege in den Unterricht aller Schulgattungen; 4. Förderung der Bestrebungen zur Einführung einer geordneten Zahnpflege in der Bevölkerung; 5. Zusammenfassung schon bestehender und Begrün-dung neuer Einrichtungen für Zahnpflege in den Schulen; 6. Einwirkung auf die staat-lichen und kommunalen Körperschaften zur Förderung der satzungsmäßigen Zwecke“ (Groß 1994, S. 309; Groß 2016b; Hippchen 1975a; Kanther 1998, S. 27). 1910 rief das preußische Kultusministerium in einem Runderlass die Regierungen zur Unterstützung des Komitees auf. Gleichzeitig wies das Ministerium darauf hin, dass 95 % der Schulkinder an Karies litten (Zahn 1969).

Während die Kommunalbehörden für die Errichtung und Finanzierung der Schulzahn-pflegestätten zuständig waren, bestanden die Funktionen des Zentralkomitees vor allem in Beratung und Aufklärung. Die Lehrerschaft wurde aufgefordert, die Zahnhygiene in den Lehrplan zu integrieren. Dem Lehrpersonal wurde kindgerecht aufbereitetes Infor-mationsmaterial zur zahnärztlichen Prophylaxe zur Verfügung gestellt (Groß 1994, S.

311; Groß 2016b).

Später wurden lokale Ausschüsse bzw. Lokalkomitees zur gezielten Förderung der Schulzahnpflege gegründet. 1909 wurde in Berlin der erste lokale Ausschuss gegründet und 1910 in Frankfurt. 1909 machte Kirchner in einem 12-Punkte-Programm eindring-lich auf die Notwendigkeit einer regelmäßigen zahnärzteindring-lichen Behandlung aller Schul-kinder aufmerksam. In das gleiche Jahr fiel die Gründung einer Pressekommission zur Erstellung von Aufklärungsschriften. Seit 1910 wurde in Berlin die Zeitschrift

Schulzahnpflege“ herausgegeben (Groß 1994, S. 311; Kanther 1998, S. 25). Sie erschien mit Unterbrechung der Jahre 1915–1917 bis zum Jahr 1937 (Haase 2001, S.

30) (Abb. 14).

Abb. 14: Zeitschrift

Schulzahnpflege“ Seit 1909 erhoben die einzelnen Kliniken

zunehmend Statistiken über den Karies-befall bei Kindern sowie über Erfolge bei der Durchführung der Schulzahnpflege.

Die Veröffentlichung der Daten erfolgten in den Zeitschriften „Schulzahnpflege“,

Zahnärztliche Mitteilungen“ und „ Zah-närztliche Rundschau“ (Kanther 1998, S.

28).

Der ‚Wirtschaftliche Verband deutscher Zahnärzte‘ beschäftigte sich als einfluss-reichste Organisation der approbierten Zahnbehandler mit der Dentalprophylaxe im Kindesalter. Dazu wurde 1913 eine Abteilung gegründet, die sich explizit mit der Zahnpflege in den Schulen befasste (Groß 1994, S. 311).

Die deutsche Zahnärzteschaft betrachtete das Thema Schulzahnpflege nicht nur unter sozialen Gesichtspunkten, sondern auch aus berufspolitischer Perspektive. Deshalb wurde versucht, nicht-approbierte Zahnbehandler, auch als ‚Dentisten‘ bezeichnet, von den Schulzahnkliniken fernzuhalten. Dies war jedoch nicht möglich, da die Dentisten 1911 in der Reichsversicherungsordnung (RVO) als Zahnbehandler anerkannt wurden (Groß 1998; Groß 2016b). Erst 1952 wurde mit dem Zahnheilkundegesetz der Ausbildungsberuf des Dentisten zugunsten des akademisch ausgebildeten Zahnarztes abgeschafft.

Auf der anderen Seite betrachteten viele Ärzte die Zahnpflegemaßnahmen in der Schule als Modeerscheinung und hielten sie für überflüssig. Manche vertraten die Meinung, Zahnbefunde könnten durch Schulärzte erhoben werden. Dabei warnten gerade die Schulärzte vor einer Überbewertung der Zahngesundheit (Groß 1994, S. 311; Groß 2016b). So beklagte Kantorowicz (1919) die ablehnende Haltung der

Zahnärzte-kammern und der Dozentenvereinigung gegenüber seinen Vorschlägen zur Schul-zahnpflege.

Die Krankenkassen weigerten sich ebenfalls, die Schulzahnpflege finanziell zu unter-stützen. Dennoch wurde die Dentalprophylaxe in den Schulen zu einem festen Bestand-teil der Gesundheitsfürsorge. 1912 wurde in Bayern der ‚Landesausschuss für Zahn- und Mundpflege in den Schulen‘ gegründet. 1913/14 wurden erstmals über 200 Einrichtun-gen zur JuEinrichtun-gendzahnpflege registriert. Es gab auch schon Aufklärungsschriften für Schulen wie die „Zahnhygienische Wandtafel“ von Jean Kientopf und Georg Ulkan (Groß 1994, S. 312).

Die Einrichtungen zur Jugendzahnpflege wurden von vielen Zahnärzten kritisch gesehen, da sie ihre Interessen nicht ausreichend berücksichtigt sahen. Argumentiert wurde jedoch, dass die Arbeit der Schulzahnkliniken auch von freien Zahnärzten mit gleichem Erfolg erbracht werden könnte (Jarecki 1929). Während das Zentralkomitee zur Gründung von weiteren Schulzahnkliniken aufforderte, befürworteten viele Zahnärzte die freie Zahnarztwahl. Hinzu kam, dass die Krankenkassen die Finanzierung der Schulzahnpflege ablehnten. Vielmehr wurden die Kosten für die Schulzahnpflege von den Kassen in der Regel auf ihre Mitglieder und damit die Eltern der Schüler abgewälzt. Die Eltern mussten jährliche Pauschalbeiträge (Abonnements) entrichten.

Diese waren aber nur für ein Jahr gültig und wurden von den Eltern aus Kostengründen oft nicht mehr verlängert. Daher kam es zu einem Rückgang der Patientenzahlen. Die langfristige Sensibilisierung breiter Bevölkerungsschichten für die Bedeutung der Zahnhygiene als dem eigentlichen Anliegen der Schulzahnpflege wurde damit nach Meinung vieler Zahnärzte nicht erreicht (Groß 1994, S. 311; Groß 2016b).

Ungeachtet dieser Probleme bestanden im Deutschen Reich unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs 209 Schulzahnpflegestätten. In den Kriegsjahren musste die zahnärztliche Versorgung wegen des Kriegseinsatzes der Zahnärzte in einem Großteil der Kliniken erheblich reduziert werden. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg wurden die in Kriegszeiten geschlossenen Schulzahnpflegestätten wieder geöffnet und neue gegründet.

1919 bestanden wieder 229 Schulzahnpflegestätten (Abb. 15).

2 204978

Abb. 15: Anzahl der Schulzahnpflegestätten von 1902 bis 1945;

Zahlenangaben aus Groß (1994, S. 317) und Müller (1997, S. 45)

Die meisten der 1919 bestehenden 229 Schulzahnpflegestätten basierten auf Verträgen der Kommunalbehörden mit ortsansässigen Zahnärzten (58,1 %). Ein großer Teil der Schulzahnpflegestätten wurde von den Kommunen finanziert (30,6 %). Ein relativ klei-ner Teil der Schulzahnpflegestätten befand sich in der Trägerschaft von Krankenkassen (6,6 %), Universitäten (3,1 %) oder Stiftungen (1,7 %) (Klemm 1952) (Abb. 16).

1919 berief das Zentralkomitee eine ‚Sonderkommission der Schulzahnärzte‘, die beschloss, das Abonnementsystem auslaufen zu lassen und stattdessen die unent-geltliche Schulzahnpflege einzuführen. Diese war jedoch für die meisten Städte nicht finanzierbar und es bestanden auch keine gesetzlichen Grundlagen (Groß 1994, S. 319;

Groß 2016b; Müller 1997, S. 28).

1919 erhielt Konrad Cohn einen Lehrauftrag für soziale Zahnheilkunde an der Universität Berlin. Er war gleichzeitig Generalsekretär ‚Deutschen Zentralkomitees für Zahnpflege in den Schulen‘ und als Schriftleiter der Zeitschrift „Schulzahnpflege“ tätig (Kirchhoff und Heidel 2016, S. 242).

Kommunal-behörde; 70;

30,6%

Krankenkassen;

15; 6,6%

Vertrag Behörde/

Zahnarzt; 133;

58,1%

Stiftungen; 4;

1,7%

Universitäten; 7;

3,1%

Abb. 16: Träger der 219 Schulzahnpflegestätten im Jahr 1919 (Zahlenangaben aus Klemm 1952)

Seit 1919 wurden in Bonn alle Schulanfänger planmäßig erfasst. Das ‚Bonner System’

zeichnete sich durch eine systematische Betreuung und Behandlung aller Schulkinder aus. Infolgedessen wurde Bonn die erste Großstadt mit nahezu zahngesunder Jugend (Tholuck 1950). Das erfolgreiche System wurde international beachtet und teilweise auch in anderen Ländern wie der Schweiz eingeführt und beibehalten (Kirchhoff und Heidel 2016, S. 246).

Am 9. Juli 1922 trat zudem das ‚Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt‘ in Kraft. Darin wurde die Errichtung von Jugendämtern angeordnet, die für die Gesundheit und Zahngesundheit der schulpflichtigen Jugendlichen sorgen sollten. Damit war das langjährige Ziel der Zahnärzte erreicht, nämlich die Einbindung schulpflichtiger Kinder in ein Prophylaxesystem (Groß 1994, S. 319; Groß 2016b).

Es bestanden keine einheitlichen Regelungen über die Trägerschaft und Finanzierung der Schulzahnpflege. Auf kommunaler Ebene bildeten sich daher unterschiedliche Organisationsformen heraus. Am erfolgreichsten war das ‚Bonner System’ mit dem höchsten Sanierungsgrad (Tab. 3).

Tab. 3: Systeme der Schulzahnpflege bis 1933 (Herzog 2015b; Kirchhoff und Heidel 2016, S. 249)

Bonner System Frankfurter System Mannheimer System

Halbjährlich klassenweise kosten-intensiv und es ist keine freie Arztwahl gewährleistet.

Der prophylaktische Charakter der Schulzahnpflege leitet sich direkt aus der von Kantorowicz gegebenen Definition ab: „Unter planmäßiger schulzahnärztlicher Sanie-rung versteht man die in regelmäßiger halbjähriger Wiederkehr klassenweise erfol-gende Überwachung und Behandlung des kindlichen Gebisses während der Schulzeit.

Ihr Zweck ist die Verhütung der Zahnkaries bzw. die Beseitigung vorgefundener Schä-den im Anfangsstadium der Erkrankung mit dem Ziel, durch Erhaltung eines vollfunk-tionstüchtigen Gebisses und Erziehung zur Eigenpflege die Gesundheit der Schuljugend zu fördern“ (Kantorowicz 1924c).

Das ‚Bonner System’ entwickelte auch eine große sozialmedizinische und volkswirt-schaftliche Bedeutung. Zwischen 1924 und 1928 kam es zu einer vorübergehenden Erholung der wirtschaftlichen Lage und zahlreichen Neugründungen. 1929 kurz vor Beginn der Weltwirtschaftskrise wurde eine maximale Anzahl von 1000 erreicht (Müller 1997, S. 30–32) (Abb. 15).

1930 wurden von der Schulzahnpflege in Preußen 59,5 %, in Berlin 100 % und im gesamten Deutschen Reich 53,2 % der Kinder und Jugendliche erfasst. Für die

Schulzahnpflege fehlte aber immer noch eine gesetzliche Grundlage (Kirchhoff und Heidel 2016, S. 244).

Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 führten Sparmaßnahmen zu einem starken Rückgang. Die Notverordnung vom 26.07.1930 (§ 27e RVO) erschwerte auch die Errichtung von Eigenbetrieben der Krankenkassen und damit die Gründung neuer Zahnkliniken. Mit der Einführung der Familienversicherung verringerten die Kranken-kassen die Zuschüsse für die kommunale Schulzahnpflege oder stellten sie völlig ein (Kirchhoff und Heidel 2016, S. 250). 1931 hat das ‚Deutsche Zentralkomitee für Zahnpflege in den Schulen‘ noch versucht, durch ein Notprogramm wenigstens eine minimale Versorgung der Schulkinder zu erreichen. Dies ist aber nicht mehr gelungen, so sank die Zahl der Städte, die überhaupt noch Schulzahnpflege anboten, bis zum Ende der Weimarer Republik auf 80 (Haase 2001, S. 30). Deshalb war 1932 eine geregelte Schulzahnpflege kaum noch möglich (Kirchhoff und Heidel 2016, S. 244) (Abb. 15).

Im 20. Jahrhundert setzte sich die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer fort, dies galt auch für die Zahnmedizin. Die Parodontologie (PAR) ist ein Spezialfach, dass sich mit den Erkrankungen und der Behandlung des Zahnhalteapparats (Parodontiums) beschäftigt. An der Etablierung dieses Faches hatten jüdische Zahnärzte (darunter Gottlieb, Hirschfeld, Kantorowicz, Sachs) vor 1933 einen großen Anteil. Die Kiefer-orthopädie (KFO) als weiteres Spezialfach beschäftigt sich mit der Prävention, Erken-nung und Behandlung von Fehlstellungen der Kiefer und der Zähne. Die BezeichErken-nung Kieferorthopädie ist genauer als die in nichtdeutschsprachigen Ländern verwendete Bezeichnung Orthodontie (Zahnregulierung). 1927 hat es Kantorowicz geschafft, die Kieferorthopädie in die Schulzahnklinik zu integrieren. Das Fachgebiet wurde so einer breiten Bevölkerungsgruppe zugänglich und hat dadurch auch deutlich an Bedeutung gewonnen (Groß 2016a).

Der Ausbau des Schulzahnpflegesystems hat die zahnärztliche Professionalisierung beschleunigt. Die Reihenuntersuchung von Schulkindern war die Grundlage für umfas-sende und systematische epidemiologische Studien. Damit konnten die Arten und die Verbreitung der Zahnkrankheiten erforscht werden. Gleichzeitig konnte die deutsche Zahnheilkunde das von einigen Ärzten verbreitete Image eines unakademischen und unwissenschaftlichen Faches widerlegt werden. Auch wurde die zahnärztliche

Forde-rung, Zahnbehandlungen in den Katalog der Kassenleistungen aufzunehmen, durch den epidemiologischen Nachweis hoher Kariesinzidenzen und ihrer allgemeinmedizinischen Implikationen bestärkt. Zugleich konnten die Zahnbehandler mit der Einführung der Schulzahnpflege ihre Tätigkeit deutlich erweitern, was zu einer Konsolidierung des Berufsstandes führte. Durch die flächendeckende Behandlung von Schulkindern konn-ten auch die Verdienstmöglichkeikonn-ten erweitert werden. Schließlich bewirkte die Etablie-rung der Schulzahnpflege eine neue Zusammenarbeit zwischen Zahnärzteschaft und staatlichen Behörden (Groß 1994, S. 320; Groß 2016b).

In der Zeit von 1933 bis 1945 hatten die Machthaber kein Interesse an einem weiteren Ausbau der Schulzahnkliniken weil viele erfahrene Schulzahnärzte durch Berufsverbote ihre Anstellung verloren, entweder aus politischen Gründen oder weil sie Juden waren.

Dort, wo keine Schulzahnärzte mehr zur Verfügung standen, sollten auf Wunsch des Reichszahnärzteführers niedergelassene Zahnärzte die Amtsärzte ehrenamtlich unter-stützen. Die Schulzahnpflege wurde mit dem ‚Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens‘, (Ges VG) von 1934 Pflichtaufgabe der staatlichen Gesundheits-ämter. Es wurden aber keine ausreichenden finanziellen Mittel bereitgestellt. Insgesamt hat sich die Schulzahnpflege kontinuierlich verschlechtert. Nach Ausbruch des 2.

Weltkrieges kam es zu Personalengpässen. Von 1000 Schulzahnkliniken vor dem Krieg bleiben 1945 nur noch 51 erhalten (Haase 2001, S. 31; Herzog 2015c; Müller 1997, S.

45) (Abb. 15).