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Ab Ende 1932 setzte verstärkt Propaganda gegen Kantorowicz und seine jüdischen Assistenten ein. Am 30.01.1933 wurden die Übergriffe „legalisiert“ und es kam zu ersten Verhaftungen (Kremer und Büchs 1967, S. 97). Die Tochter Thea Kantorowicz war Mitglied der ‚Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft der Universität Bonn‘. Kurz nachdem am 04.02.1933 im ‚Westdeutschen Beobachter‘ ein infamer Artikel erschienen war, wurde sie verhaftet (Forsbach 2006, S. 402).

Da Kantorowicz befürchtete, ebenfalls verhaftet zu werden, schlug er mit Schreiben vom 30.03.1933 dem Kurator und Dekan seine Stellvertreter vor. Am 31.03.1933 schrieb er dem Dekan, dass er befürchtete verhaftet zu werden und beabsichtigte sich selbst zu stellen. Am 01.04.1933 gab er die Strategie des Versteckens auf und ließ sich von seinem Assistenten Dr. Schmidhuber zur Polizei in Bonn fahren, um sich selbst zu stellen. Er wurde in das Amtsgerichtsgefängnis Bonn eingeliefert und in ‚Schutzhaft‘ genommen (Forsbach 2006, S. 339–340). Kantorowicz übersandte am 09.05.1933 einige Unterlagen zu seinem Fall an den Dekan Götz. Darin nahm er auch zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung. Zu seiner Enttäuschung erhielt er aber keinerlei Unterstützung (Forsbach 2006, S. 341–342).

3,5 Monate nach der Inhaftierung wurde Kantorowicz in das Konzentrationslager Börgermoor in der Lüneburger Heide gebracht. Er war dort als Zahnarzt tätig, nachdem

Abb. 7: Entlassungsschreiben (Pross und Aly 1989)

er sich von Schmidhuber Instrumente schicken ließ. Danach kam er in ein Lager für Prominente und Intellektuelle in Lichtenburg in Sachsen (Doyum 1985, S. 40).

Das Verhalten der medizinischen Fakultät nach der Inhaftierung ihres Mitglieds Kantorowicz war sehr beschämend. Nicht einmal seine engsten Mitarbeiter hatten sich für ihn eingesetzt, worüber er sehr enttäuscht war. Die medizinische Fakultät beugte sich nicht nur dem Druck der neuen Machthaber, sondern ist teilweise auch aus eigener Überzeugung gegen Kantorowicz vorgegangen (Forsbach 2006, S. 338; Mattern 2009, S. 44).

Mit Schreiben vom 23.09.1933 wurde Kantorowicz durch den preußischen Minis-ter für Wissenschaft, Kunst und Volksbil-dung aus dem preußischen Staatsdienst, auf der Grundlage des antisemitischen ‚ Geset-zes zur Wiederherstellung des Berufs-beamtentums‘ vom 07.04.1933, entlassen (Abb. 7). Bis Ende Dezember 1933 sollte er noch seine bisherigen Bezüge erhalten. Ein Anspruch auf Ruhegeld oder Hinterblie-benenversorgung sowie die Weiterführung der Amtsbezeichnung wurde ihm jedoch verwehrt (Forsbach 2006, S. 344; Kremer und Büchs 1967, S. 99; Häussermann 1996;

Mattern 2009, S. 42; Takacs 2016).

Eine ganz andere Entwicklung fand in der Türkei statt, diese wurde erst im Oktober 1923 von Mustafa Kemal Atatürk gegründet. Seine Devise lautete: „Der einzig wahre Führer im Leben ist die Wissenschaft“ (Strohmeier 1990). Als Staatschef verordnete er ein sehr weitgehendes Reformprogramm. Auch das Universitäts- und Bildungswesen sollte reformiert werden. Am 01.08.1933 wurde im Rahmen der Universitätsreform auch die Istanbuler Universität gegründet. Diese war aus dem Darülfünun (Haus der Wissenschaften) hervorgegangen. Die Neubesetzung der alten Professuren erfolgte überwiegend durch deutsche Wissenschaftler. Von 12 Medizinprofessoren waren 8

Deutsche. Das zeitliche Zusammentreffen der Universitätsgründung mit der Flucht der Wissenschaftler war ein Glücksfall, sowohl für die in Deutschland verfolgten Künstler und Wissenschaftler als auch für die Universität. Zahlreiche Ärzte, Juristen, Ökonomen und Architekten wurden in der Türkei aufgenommen und fanden in Istanbul und Ankara Schutz und Arbeit (Gerabek 1990; Stock 2014). Kantorowicz war dabei der einzige Professor für Zahnheilkunde (Reisman 2007).

Im Gegensatz zur Türkei bestanden in Amerika und bei seinen europäischen Verbünde-ten nicht nur antijüdische Ressentiments, sondern auch restriktive Einwanderungs-gesetze, die eine Flucht dorthin in den 1930er Jahren verhinderten (Reisman 2007). Auf der anderen Seite hatte sich in der Schweiz eine ‚Notgemeinschaft deutscher Wissen-schaftler im Ausland‘ organisiert. Diese hatte guten Kontakt zu türkischen Gelehrten in Istanbul, die für die Reform des Universitäts- und Bildungswesen zuständig waren. Mit der Notgemeinschaft wurde eine Liste deutscher Forscher für die Übersiedlung in die Türkei zusammengestellt. 42 deutsche Gelehrte, darunter auch Kantorowicz, wurden eingeladen (Häussermann 1996). Auch Einstein hielt gute Kontakte zur Notgemeinschaft. Am 17.09.1933 unterschrieb er einen Brief an die Türkei bzw. an den damals amtierenden Ministerpräsidenten Ismet Inönü (Anonymous 2016a) (Abb. 8).

(Absender:) Union der Gesellschaft "OSE" Für den Schutz und der Gesundheit der jüdischen Bevölkerungen

Seine Exzellenz

Der Präsident des Ministerkabinetts der türkischen Republik

17 September, 1933

Ihre Exzellenz

Als Ehrenpräsident der Weltvereinigung "OSE" wende ich mich bittend an Ihre Exzellenz, um 40 Professoren und Ärzten aus Deutschland zu erlauben, ihre wissenschaftlichen und medizinischen Arbeiten in der Türkei fortsetzen zu können.

Die oben erwähnten Personen können sich nicht weiter in Deutschland betätigen, da die dort derzeit herrschenden Gesetze es nicht zulassen. Die Mehrheit dieser Männer besitzen große Erfahrungen, Kenntnisse sowie wissenschaftliche Verdienste und könnten, wenn man sie in ein neues Land umsiedeln würde, sehr nützlich sein.

Aus einer großen Zahl von Bewerbern hat unsere Vereinigung 40 erfahrene Fachmänner und prominente Gelehrte ausgewählt, und wendet sich hiermit an Ihre Exzellenz, um diesen Männern zu erlauben, sich in Ihrem Land niederzulassen damit sie Ihre Arbeit ausüben können.

Diese Wissenschaftler sind bereit, ein Jahr lang ohne jede Vergütung in einigen Ihrer Einrichtungen gemäß den Anweisungen Ihrer Regierung zu arbeiten.

Diesen Antrag unterstützend nehme ich mir die Freiheit, meine Hoffnung auszudrücken, dass bei einer Bewilligung dieser Bitte Ihrerseits eine Tat der großen Humanität vollzogen wird, dadurch aber auch einen Vorteil für Ihr eigenes Land mit sich bringt.

Ich habe die Ehre,

Ihrer Exzellenz zu Diensten zu sein

(Unterzeichnet von Prof. Albert Einstein)

Abb. 8: Albert Einsteins Brief an die Türkei (das Original liegt im türkischen Staatsarchiv) (Anonymous 2016a)

1934 wurden in der Türkei etwa 130 Jüdische sowie 70 andere verfolgte Akademiker aus Deutschland und Österreich willkommen geheißen. Kantorowicz erhielt somit einen Ruf nach Istanbul. Der Vertrag zwischen dem Kultusminister Refik Beyefendi und Kantorowicz sollte (rückwirkend) zum 01.10.1933 beginnen und hatte zunächst eine Laufzeit von 5 Jahren. Der Vertrag wurde am 07.10.1933 in zweifacher Ausführung in Genf aufgesetzt und unterschrieben (Ülger 2004, S. 57) (siehe Anhang).

Am 05.11.1933 erfolgte die Freilassung aus dem KZ Lichtenburg nach Intervention des Kronprinzen Carl von Schweden, dem damaligen Präsidenten des Roten Kreuzes.

Kantorowicz lernte diesen auf einer längeren Reise durch Schweden kennen, bei der er Vorträge über sein System der Schulzahnpflege hielt. Die Verhandlungen wurden von seiner Tochter Thea mit der Gestapo in Berlin geführt, um seinen Aufenthalt zu ermitteln und die Entlassung zu erreichen (Mattern 2009, S. 47–48). (eigene Anmerkung: Es erscheint merkwürdig, dass der Vertrag zur Berufung nach Istanbul vor der Freilassung unterschrieben wurde, gemäß der Quellen).

Ein Diplomat der türkischen Botschaft in Berlin suchte Kantorowicz persönlich in Bonn auf. Kantorowicz verließ überhastet Bonn, reiste mit ein paar Koffern im Orientexpress nach Istanbul, wo er um die Jahreswende 1933/34 eintraf (Häussermann 1996). Nach einer anderen Schilderung war Kantorowicz kurze Zeit Asylant in der Schweiz, danach erfolgte die Übersiedlung in die Türkei (Takacs 2016). Staatspräsident Atatürk veran-staltete zu Ehren der aus Deutschland emigrierten und geflüchteten Wissenschaftler im Dolmabahce-Palast in Istanbul einen großen Festball (Häussermann 1996).

Am 27.12.1933 wurde Kantorowicz die Ehrendoktorwürde durch den Dekan der medizinischen Fakultät Wilhelm Ceelen in Abwesenheit entzogen (Takacs 2016). Die Begründung der Entziehung war dabei besonders perfide, da sie Kantorowicz noch die Schuld zuwies. So wurde ausgeführt, dass Kantorowicz aus dem Staatsdienst entlassen wurde und Deutschland ohne weitere Mitteilung verlassen hat (Forsbach 2006, S. 345).

Nicht nur, dass die Fakultät Kantorowicz nicht beigestanden hat, sondern sie wirkte an den Entehrungsversuchen auch noch aktiv mit. Die Fakultät verhielt sich gegenüber Kantorowicz auch noch in der Zeit der Emigration in Istanbul schikanös. So wurde der Bitte um die Übersendung einiger Duplikate von Doktorarbeiten nicht entsprochen (Forsbach 2006, S. 347).

Abb. 9: Alfred Kantorowicz um 1940 (Doyum 1985, S. 22) 5.11 Zeit der Emigration

Schon im Januar 1934 begann Kantorowicz mit seiner Tätigkeit als ordentlicher Pro-fessor an der zahnärztlichen Abteilung.

Trotz weiterer Rufe an andere ausländische Universitäten (darunter Australien) blieb er bis 1950 in Istanbul (Rose 1969, S. 20). In seinem Vertrag (siehe Anhang) hatte sich Kantorowicz dazu verpflichtet, all seine Kraft in die Lehrtätigkeit und Forschung zu stecken und den Unterricht selbst abzuhal-ten und die Prüfungen alle selbst vorzu-bereiten. Auch hatte er sich dazu verpflich-tet, die wichtigsten Bereiche seiner wissen-schaftlichen Arbeit vor Ende des dritten Vertragsjahres als Lehrbuch zu veröffentl-ichen. Für seine außerhalb der Schule arbeitenden Zahnarztkollegen musste er regelmäßigen und unentgeltlichen Fach-unterricht erteilen. Beteiligt war er auch am

Fortbildungsprogramm für Universitätsmitarbeiter. Schließlich sollte er sich auch am Kampf gegen die Tuberkulose beteiligen (Ülger 2004, S. 55–56).

Kantorowicz war laut Vertrag zahnärztlicher Institutsdirektor. Dies stand jedoch dem türkischen Ausländergesetz entgegen, nach dem Ausländer keine leitende Position im öffentlichen Dienst ausüben durften. Bei akademischen Institutionen war die Auslegung großzügiger. Daher wurde die Position des Unterrichtsdirektors geschaffen. Damit war Kantorowicz ab Oktober 1934 zuständig für Lehre, Forschung und Lernstoff. Um einen Schein der Legalität zu wahren, wurde für einen Einheimischen zusätzlich die Stelle des Verwaltungsdirektors geschaffen. Als dieser ausgeschieden war, übernahm Kantorowicz ab 1936 auch Verwaltungsaufgaben und übte diese bis 1946 aus (Ülger 2004, S. 61).

Abb. 10: Alfred Kantorowicz um 1950 (Häussermann 1996) Kantorowicz war nicht mehr in erster Linie Forscher, sondern vor allem Lehrer. Die Verhältnisse dort waren ähnlich wie in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. Er hatte die Aufgabe, die zahnärztlichen Ausbildungsstätten zu akademischen Instituten umzuformen. Kantorowicz hatte dort Zahnärzte und Hilfspersonal sowie seine späteren Nachfolger ausgebildet. Entsprechend hatte er in diesen Jahren weniger Studien sondern mehr Hand- und Lehrbücher veröffentlicht (Rose 1969, S. 20). Kantorowicz hatte die in ihn gesteckten Erwartungen in ausgezeichneter Weise erfüllt (Schmidhuber 1955). So erreichte das zahnärztliche Universitätsinstitut Istanbul unter der Leitung von Kantorowicz zentraleuropäisches Niveau (Schwarz 1961). Später wurde die Istanbuler Medizinische Bibliothek nach ihm benannt (Kirchhoff 2010).

5.12 Nach dem 2. Weltkrieg

Am 02.10.1946 erhielt Kantorowicz einen Brief der Universität Bonn, in dem er zurück-gerufen wurde. Am 13.03.1947 erklärte er seine grundsätzliche Bereitschaft, die Tätig-keit in Bonn wieder aufzunehmen. Allerdings erlitt er im April 1947 einen Herzinfarkt.

Deshalb hatte er die Entscheidung hinausge-schoben. Er erhielt ein erneutes Schreiben der Universität mit der Bitte um eine Entschei-dung. Denn die Universität wollte auch Prof.

Dr. Korkhaus nicht verlieren, der einen Ruf nach Marburg erhalten hatte. Kantorowicz sagte schließlich am 03.06.1947 aufgrund seines fortgeschritten Alters von 67 Jahren und auch wegen der schweren Herzerkran-kung zugunsten von Prof. Korkhaus ab (Rose 1969, S. 22).

Abb. 11: Alfred Kantorowicz 1962 bei der Lectio aurea (Häussermann 1996) Kantorowicz wurde am 11.07.1948 in Istanbul emeritiert. Er kehrte am 20.04.1950 endgültig nach Deutschland zurück (Doyum 1985, S. 314). Am 20.06.1950 wurde er zum zahnärztlicher Berater im Ministerium für Arbeit und Soziales Nordrhein-Westfalen ernannt. Diese Tätigkeit übte er bis 1956 aus (Mattern 2009, S. 85).

Am 18.06.1955 wurde Kantorowicz der Dr. med. h.c. der Universität Bonn „in dankbarer Anerkennung seiner hervorragenden wissenschaftlichen Verdienste für die Zahnheilkunde“ verliehen. Es handelte somit um eine Ehrendoktorwürde der Medizin, im Unterschied zur 1926 verliehenen Ehrendoktorwürde der Zahnmedizin (Rose 1969, S. 101). Vor allem wurden seine Bemühungen um eine wirkungsvolle Bekämpfung der Zahnkaries und die Entwicklung der Grundsätze für eine Jugendzahnpflege gewürdigt.

Außerdem hatte er durch seine langjährige erfolgreiche Tätigkeit als Hochschullehrer den Ruf der Bonner Zahnklinik als führende Forschungs- und Lehrstätte begründet (Rose 1969, S. 102). Aus dem gleichen Grund wurde ihm bereits am 01.02.1926 dieser Titel verliehen (Kremer und Büchs 1967, S. 72) aber am 27.12.1933 wieder entzogen (Takacs 2016).

Kantorowicz hielt am 17.02.1962 die Lectio aurea im großen, festlich geschmückten Hörsaal der neu eingeweihten Bonner Klinik über das Thema: „Nimmt die Karies in Deutschland zu?“ (Abb.

11). Am gleichen Tag wurde er zum Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde ernannt (Mattern 2009, S. 86–87; Rose 1969, S. 22– 23; Sauerwein 1980).

Schon während seiner Jubiläumsvorlesung litt Kantorowicz unter heftigen Schmerzen.

Er musste sich einer Blinddarmoperation unterziehen, die er gut überstanden hatte.

Seine Herzprobleme traten jedoch wieder erneut auf. So ist er am 06.03.1962 in Bonn im Alter von 81 Jahren gestorben. Die Beisetzung nach Einäscherung erfolgte auf dem Friedhof in Bonn-Poppelsdorf (Doyum 1991, S. 297; Häussermann 1996; Mattern 2009, S. 87).

Zum 55. Todestag am 06.03.2017 wurde das Grab von Alfred Kantorowicz auf Initiative der SPD in ein Ehrengrab umgewandelt, um ein dauerndes Andenken zu ermöglichen.

Vertreter von SPD, Stadt und Arbeitskreis Jüdischer Sozialdemokraten haben eine Gedenkfeier durchgeführt und am Grab Steine niedergelegt (Ottersbach 2017) (Abb.

12).

Abb. 12: Ehrengrab von Alfred Kantorowicz am 6.03.2017 (linkes Bild:

Ottersbach 2017, rechtes Bild: Schott 2017)

6 Kinder- und Jugendzahnheilkunde

6.1 Besonderheiten der Kinder- und Jugendzahnheilkunde

Die ursprüngliche Schulzahnpflege basiert auf Prophylaxe und zielte darauf ab, durch zahnärztliche Maßnahmen ab dem Schuleintritt eines Kindes die Zahnkaries einzudäm-men. Die Behandlungen fanden in Schulzahnkliniken statt. In diesen waren die Behand-lungsräume an die Bedürfnisse der Kinder angepasst. Schulzahnkliniken konnten direkt einer Schule angegliedert, in öffentlichen Kommunalverwaltungsgebäuden unterge-bracht, in eigenständigen Wohnhäusern eingerichtet oder einer Klinik angegliedert sein (Gutezeit 1929). Später wurde der Begriff Schulzahnpflege zur Jugendzahnpflege erwei-tert. Es ging dabei nicht mehr nur um die Versorgung von schulpflichtigen Kindern im Alter von 6-14 Jahren, sondern um eine Einbeziehung von jüngeren und älteren Kindern und Jugendlichen (Kessler und Schmitz 1953; Weichold 1947). Seitdem beinhaltet die Jugendzahnheilkunde „alle Maßnahmen, die zur Förderung der regulären Entwicklung, zur Gesunderhaltung und zur Wiederherstellung von Zähnen, Mund und Kiefern Jugendlicher in Betracht kommen“ (Anonymous 1981).

Nach heutigem Verständnis beschäftigt sich die Kinder- und Jugendzahnheilkunde mit der Thematik und Problematik des Milchgebisses (1. Dentition) und des Wechsel-gebisses (u. a. die Variabilität des Durchbruchmodus). Im Gegensatz dazu geht es in der Erwachsenenzahnheilkunde um das permanente Gebiss (2. Dentition).

Die Kinder- und Jugendzahnheilkunde ist keine modifizierte Erwachsenenzahnheil-kunde, da Kinder keine kleinen Erwachsenen sind. Vielmehr geht es um Eingriffe in einen Organismus, der sich noch in der Entwicklung befindet. Zudem werden in der Kinder- und Jugendzahnheilkunde andere Schwerpunkte gelegt, und zwar in der Früherkennung, Prophylaxe und psychologischen Führung (Einwag und Pieper 2002).

Das Besondere an der Kinder- und Jugendzahnheilkunde ist, dass auch psychologische, soziologische und allgemeinmedizinische Aspekte zu berücksichtigen sind (Staehle und Koch 1996). Das Ziel liegt darin, eine gute Behandlungskooperation (Compliance) der Kinder zu erreichen, als Voraussetzung für die notwendige Mitarbeit im Rahmen der Prävention und einer erfolgreichen Behandlung (Körperich und Maiwald 2012, S. 22–

23). Angewendet wird eine integrative, fächerübergreifende Behandlungsstrategie. So wird im Lehrbuch zur Kinder- und Kinderzahnheilkunde auch auf die besondere Betreuung der Kinder und Eltern eingegangen. Als anatomische Grundlagen werden das Milch- und das Wechselgebiss beschrieben. Die Schwerpunkte liegen auf den Gebieten der Karies, Anamnese und Befunderhebung, Parodontologie, restaurative Zahnheil-kunde, Endodontologie und Traumatologie (Staehle und Koch 1996). In einem später erschienenen Lehrbuch zur Kinderzahnmedizin werden zusätzlich die orale und dentale Pathologie, zahnärztliche Untersuchung und Diagnose, Prophylaxe sowie Angst- und Schmerzkontrolle näher beschrieben (van Waes und Stöckli 2001). In einem neueren Buch zur Kinderzahnheilkunde hat insbesondere die Prophylaxe einen sehr hohen Stellenwert (Körperich und Maiwald 2012, S. 55–112).

Obwohl in Zahnarztpraxen normalerweise Patienten jeden Alters behandelt werden, gibt es für die Kinder- und Jugendzahnheilkunde auch spezialisierte Praxen, die sich in ihrer räumlichen und technischen Ausstattung speziell an die Bedürfnisse von Kindern angepasst haben (Brem 2010). Eine weitere Möglichkeit stellt die Umorientierung zu einer Familienbetreuung dar. Der Nachteil einer ausschließlichen Orientierung auf Kinder liegt darin, dass sich die Eltern möglicherweise ausgegrenzt fühlen. Dabei lässt sich ein Prophylaxeprogramm am besten in der Familie unter Einbeziehung aller Familienmitglieder realisieren (Maiwald 2012).

Die Aufgaben und Behandlungsschwerpunkte der Kinder- und Jugendzahnheilkunde sollen nur kurz genannt werden:

 Die Karies, auch Nuckelflaschenkaries (ECC early childhood caries), stellt immer noch ein sehr verbreitetes Krankheitsbild bei Kindern dar (Wetzel 2005).

Durch eine frühzeitige und regelmäßige Kontrolle können erste Vorzeichen erkannt und ein Fortschreiten durch Prophylaxemaßnahmen verhindert werden.

Die frühkindliche Karies soll durch professionelle Betreuung der Eltern und Kinder möglichst reduziert werden (Brem 2010).

 Kiefer- und Zahnfehlstellungen sowie myofunktionelle Störungen und Habits können durch die Kontrolle ebenfalls erkannt und entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden (Brem 2010).

 Mineralisationsstörungen können zu massiven Schmelzschäden führen. Da die betroffenen Zähne sehr schmerzempfindlich sind und deshalb nicht ausreichend geputzt werden, kommt es zu weiteren Folgeschäden (Brem 2010).

 Zahnunfälle sind ausgesprochen häufig, mehr als 50 % aller Kinder und Jugend-lichen sind davon betroffen, davon rund 30 % im Milchgebiss und 25 % im bleibenden Gebiss. Um den Zahn zu retten, ist eine schnelle Behandlung sehr wichtig (Brem 2010).

 Schließlich geht es auch darum, das Interesse der Kinder und Jugendlichen für die Zahngesundheit zu wecken. Es gilt, die Zähne alle sechs Monate zu kontrol-lieren, professionell zu reinigen, um so ein Leben lang gesunde Zähne zu ermöglichen. Das Kind soll somit von Anfang an an die regelmäßigen zahnärzt-lichen Kontrollen und eventuelle spätere Behandlungen gewöhnt werden (Brem 2010). Fehler und Versäumnisse im Kindes- und Jugendalter wirken sich oft lebenslang aus (Staehle und Koch 1996).

Die Kieferorthopädie hat sich aus der Zahnheilkunde seit dem Ende des 19. Jahrhun-derts zu einem eigenständigen Fachgebiet entwickelt. Darin geht es um die Korrektur von Zahnfehlstellung und Bisslage, um eine langfristige Gesunderhaltung des Gebisses zu erreichen. Im Lehrbuch zur Kieferorthopädie wird Wissen zur Schädel- und Gebiss-entwicklung, zur Diagnostik, zu den Grundlagen der kieferorthopädischen Therapie und konkreten therapeutischen Maßnahmen sowie zur interdisziplinären Zusammenarbeit vermittelt. Die Behandlungsaufgaben reichen von einfachen prophylaktischen Maßnah-men bis hin zu aufwendigen kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Kombinations-behandlungen. Bei den Behandlungen besteht keine Altersgrenze. Da aber die Behand-lung von Erwachsenen im Buch von Bock et al. (2011) „Grundwissen Kieferortho-pädie“ nur einen sehr geringen Raum einnimmt, geht daraus indirekt hervor, dass die Behandlung vor allem für Kinder vorgesehen ist.

6.2 Entwicklung der Kinder- und Jugendzahnheilkunde

6.2.1 Geschichtliche Entwicklung in Deutschland

Die Fachrichtung der Kinder- und Jugendzahnheilkunde gibt es in der BRD nicht als Fachgebietsbezeichnung, sondern nur als Schwerpunkt in der Praxis. Dagegen bestand in der ehemaligen DDR seit 1961 die Weiterbildung zum Fachzahnarzt für Kinder-stomatologie als eine von vier obligatorischen Fachrichtungen (Bardehle 1994, S. 12).

Tatsächlich reichen die Anfänge der Kinder- und Jugendzahnheilkunde, historisch auch als Schulzahnpflege bezeichnet, aber noch viel weiter zurück. Übersichten zur Geschichte der Schulzahnpflege finden sich in Büchern von Groß (1994; 2006a), Kirchhoff und Heidel (2016) sowie den Dissertationen von Haase (2001), Müller (1997) und Uschkureit (1989). Daneben gibt es auch Dissertationen, die sich speziell mit der Schulzahnpflege an bestimmten Orten beschäftigt haben, so Köln (Limbach 1937), Düsseldorf (Umehara 2009), Münster (Fenger 1955), Offenbach am Main (Koller 2004) oder Zeitz (Altmann 2001).

Abb. 13: Der hohle Zahn: „Ach! wie erschrack er, als er da den wohlbekannten Hacken sah“ (Wilhelm Busch 1864)

6.2.1.1 Deutschland bis 1945

Um 1800 verfasste der Arzt Bernhard Faust eine „Anleitung zu einer vernünftigen Gesundheitspflege für Stadt- und Landschulen“, um die Idee der öffentlichen Gesund-heitspflege zu fördern und verbreiten (Herzog 2015b). Jonas Bruck aus Breslau forderte 1852 eine regelmäßige Untersuchung der Schulkinder in Preußen (Haase 2001, S. 27).

1879 führte der preußische Hofzahnarzt Carl Zimmer in Kassel erstmalig zahnärztliche Reihenuntersuchungen an Kindern durch. Bedürftige Kinder wurden zudem kostenlos behandelt (Hippchen 1973). Zimmer war damit der Begründer der systematischen Schulzahnpflege. Damals war die Zahnpflege an den Schulen jedoch noch kein Thema (Groß 1994, S. 306; Groß 2006b; Groß 2016b; Hesse 1936). Auch in der Gesellschaft bestand noch kein Bewusstsein dafür, welche große Bedeutung die Zahngesundheit für die Entwicklung der Kinder hat. Einige deutsche Zahnärzte wiesen zwar schon frühzeitig auf die Wichtigkeit der Prophylaxe im Kindesalter hin, sie wurden jedoch zunächst nicht beachtet. Obwohl sich die approbierten Zahnbehandler bereits 1859 im

‚Central-Verein deutscher Zahnärzte‘ organisiert hatten, konnten sie kaum auf die Behörden einwirken. Dies lag auch daran, dass Zahnärzte wenig anerkannt waren, zumal die Ausbildung zum Zahnarzt bis 1909 nicht an die allgemeine Hochschulreife gebun-den war. Besonders die akademischen Ärzte zweifelten die Qualifikation der Zahn-behandler an. Die wissenschaftliche Anerkennung wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass mit der offiziellen Freigabe der Heilkunde für Laien im Jahr 1872 eine große Zahl nichtapprobierter Zahnbehandler hinzu kam (Groß 1994, S. 375). Mit der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes im Jahr 1883 bestand nur ein Rechtsanspruch des Versicherten auf freie ärztliche Behandlung, nicht aber für Zahnbehandlungen (Groß 1998, S. 369).

Vor diesem Hintergrund wurden die ersten systematischen Untersuchungen der Zahn-verhältnisse bei Schulkindern von sozial engagierten Zahnärzten auf eigene Initiative

Vor diesem Hintergrund wurden die ersten systematischen Untersuchungen der Zahn-verhältnisse bei Schulkindern von sozial engagierten Zahnärzten auf eigene Initiative