Haftreifen bewähren sich
Wintertest in Finnland
Rallye-Fahrer, Automobilingenieu- re und Journalisten aus Skandina- vien, Österreich und der Bundesre- publik traten kürzlich bei einer Au- ßentemperatur von minus 5 bis mi- nus 3 Grad auf einem zugefrorenen See unweit des nördlichen Polar- kreises in Finnland zum Kampf ge- gen den Sekundenzeiger an. Auf dem Programm des von Volvo durchgeführten Wintertestes stand die Erprobung von Winterreifen un- terschiedlicher Bauart. Zur allge- meinen Überraschung verhielt sich hierbei der nagellose Haftreifen, wie der Winterreifen der neuen Generation genannt wird, in der gegebenen Situation ähnlich wie der Spikesreifen, der auch in nor- dischen Ländern wegen seiner Wir- kung auf Straßendecken umstritten ist. Zumeist wurden auf dem aufge- rauhten Eis, bei genannten Tem- peraturen, mit dem Haftreifen bes- sere Zeiten als mit dem mit 120 Nägeln versehenen Spikesreifen erzielt. So benötigte Rallyefahrer Wikas auf einem zweimal zu durch- fahrenden und durch Fahnen abge- steckten Rundkurs mit Haftrei- fen 185 und mit Spikesreifen 192 Sekunden. Volvo-Entwicklungschef Salinger brachte es auf 196 bzw.
197 und der Unterzeichnete auf 209 bzw. 214. Besseres Verhalten auf dem Eis wurde nur durch einen mit 500 Nägeln bespickten Speziai-Eis- Rennreifen erzielt. Hier wurden auf derselben Strecke sogar nur 156, 162 bzw. 189 Sekunden gefahren.
Daß alle Winterreifen nur einen Kompromiß darstellen und kein Freibrief zum leichtsinnigen und bedenkenlosen Fahren sind, zeigte sich auf einer 500-km-Testfahrt über verschneite winterliche Stra- ßen in Finnland.
Rentiere sind unberechenbar Skandinavische Straßen im hohen Norden sind immer dort vom Neu- schnee geräumt, wo sie alltäglich
befahren werden. Salz zu verstreu- en ist in diesen Regionen unbe- kannt. Dagegen wird auf besonders glatten Stellen feiner Split ausge- worfen. Auf jeden Fall empfiehlt es sich, auf winterlichen Straßen nicht in Kolonnen zu fahren und immer nur so schnell zu sein, daß ohne scharfe Bremspedalbetätigung an- gehalten werden kann, auch wenn man nördlich des Polarkreises nur ganz wenigen Autos begegnet. Vor Kuppen muß scharf rechts gefah- ren werden. Auf den teilweise sehr schmalen Straßen verkehren auch Lastwagen, die den Großteil der Straßenbreite für sich in Anspruch nehmen können und deren Fahrer bestrebt sind, nicht in deil durch Schnee verdeckten Straßengraben zu gelangen.
Zur besonderen Gefahr können in Skandinavien Rentiere werden, die besonders zutraulich sind. Falls ein Rentier angefahren wird, darf der Autofahrer die Unfallstelle nicht eher verlassen, bis das Tier tot ist.
Der Vorgang muß der Polizei ge- meldet werden, die den Tierkörper abholt. Der Rentierbesitzer erhält dann vom~ Staat einen Schadener- satz. Trotz schneebedeckter Stra- ßen lassen sich die erlaubten Ge- schwindigkeiten unter günstigen Umständen durchaus ausfahren, die zumeist bei 80 km/h liegen. Nur in Ortschaften (60 km/h) und auf besonders guten Straßen (100 km/
h) gelten andere Begrenzungen.
Start bei minus 31 Grad
Die Testfahrt wurde übrigens bei 31 Grad Kälte begonnen. Über Nacht hatten die Fahrzeuge im Freien gestanden. Das Gummi- und Kunststoffmaterial an den zurVerfü- gung stehenden Volvo- und DAF- Wagen (bekanntlich übernahm Vol- vo die Majorität der holländischen DAF-Pkw-Produktion) war stein- hart. Die Zähflüssigkeit des Öls spürte man bei der ersten Umdre- hung des Anlassers. Das ist auch der Grund dafür, daß Volvo bei Temperaturen unter minus 20 Grad mit SAE 5W/20, ein Motoröl mit niedriger Viskosität, empfiehlt. Be- reits nach 5 Sekunden sprang der
Leserdienst Hinweise· Anregungen
AUTO
erste Funken über. Auch bei frisch aufgeladener Batterie soll man nur sekundenlang den Anlasser betäti- gen. Der Motor unseres Volvo-Wa- gens - es war ein 264 mit Automa- tik - lief bereits nach 10 Sekun- gen rund. Das Anlassen der DAF- Fahrzeuge dauerte länger. Aber auch diese Wagen konnten alle mit eigener Kraft starten.
~ Es empfiehlt sich auch im ho- hen Norden, sofort loszufahren und den Motor nicht im Stand warm laufen zu lassen, wie es fälschli- cherweise oft gehandhabt wird.
Auf den ersten Kilometern läßt sich bei großer Kälte das Getriebe ei- nes jeden Wagens schwer schal- ten; auch die Lenkung ist schwer- gängig. Radaufhängung, Stoß- dämpfer und Reifen sind noch spröde, was sich nachteilig auf die Laufruhe des Fahrwerks auswirkt.
Nach kurzer Zeit ändert sich das Materialverhalten.
Im skandinavischen Winter emp- fiehlt es sich bei den kurzen Ta- gen, zumindest mit Abblendlicht zu fahren. Es ist sehr wichtig, von an- deren Verkehrsteilnehmern sofort gesehen zu werden. Das ist auch ein Grund dafür, weshalb Volvo seine 75er-Modelle in Schweden mit sogenanntem Fahrlicht ausrü- stet, das sich automatisch beim Umdrehen des Zündschlüssels ein- schaltet. Bei Volvo wird es bedau- ert, daß dieses blendungsfreie Fahrlicht nicht überall zugelassen ist.
Die finnischen Alkoholbestimmun- gen sind sehr streng. Schon die Tatsache, daß ein Autofahrer nach Alkohol riecht, kann bei einer Poli- zeikontrolle ernsthafte Konsequen- zen haben. Natürlich gibt es im ho- hen Norden auch leichtsinnige Au- tofahrer, so daß man immer mit Überraschungen rechnen muß, auch wenn man eine halbe Stunde lang nicht ein einziges Auto gese- hen haben sollte. Volvo-Entwick- lungschef Salinger: "Auch in Skan- dinavien gibt es, wie überall in der Welt, Verwegene, die so fahren, als ob es Särge kostenlos gäbe." AM
DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 9 vom 27. Februar 1975 629
