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Archiv "Interview mit Prof. Dr. iur. Ulrich Wenner, Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht: „Die Mängel im jetzigen System erscheinen mir erträglich“" (06.12.2013)

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A 2360 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 110

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Heft 49

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6. Dezember 2013

„Die Mängel im jetzigen System erscheinen mir erträglich“

Er sieht sich als Hüter des Kollektivvertrags: Ulrich Wenner über die Wandlungs - fähigkeit eines 100 Jahre alten Systems, gefährliche Spaltungstendenzen innerhalb der Ärzteschaft und die Tatsache, dass es völlig ohne Bürokratie nicht geht.

Mit dem Berliner Abkommen wurde vor 100 Jahren der Grundstein für den Kol- lektivvertrag und die gemeinsame Selbstverwaltung von niedergelasse- nen Ärzten und Krankenkassen gelegt.

Ist das System noch zeitgemäß?

Wenner: Der Kollektivvertrag funktioniert. Er garantiert Versor- gung auf einem weltweit anerkann- ten Niveau mit einem hohen Maß an Gleichheit und Unabhängigkeit von den sozialen Verhältnissen der Einzelnen. Dafür ist es wichtig, dass alle Ärzte aller Fachgebiete al- len Versicherten zur Verfügung ste- hen.

lich werden, was er in der Alltags- versorgung leistet, die praktisch keine Schnittstellen mit dem Kran- kenhaus hat. Was wird zum Bei- spiel aus der konservativen Augen- behandlung? Es ist eine leere Dro- hung der Augenkliniken, dass sie das alles mitmachen können.

Leisten wir uns aus der Tradition her - aus eine zu teure doppelte Facharzt- schiene?

Wenner: Ich sehe die hochqualifi- zierte ambulante Versorgung eher als eine deutsche Stärke. Die gilt es auszubauen und die Krankenhäuser auf die schwereren Behandlungs- fälle zu beschränken. Mit den zen- tralen Bereitschaftsdienstpraxen hat sich ja auch die Notfallversorgung durch niedergelassene Ärzte erheb- lich verbessert. Davon profitieren nicht nur die Patienten, das spart auch Kosten. Denn wenn erfahrene niedergelassene Ärzte Bereit- schaftsdienst leisten, können unnö- tige Krankenhauseinweisungen ver- mieden werden. Dass der Pathologe aus Aachen in den umliegenden Ei- feldörfern Notdienst leistete, war eine Fehlentwicklung. Das hat die Patienten in die Krankenhäuser ge- trieben.

Viele halten das System inzwischen für viel zu kompliziert. Wie lange kann das noch gutgehen?

Wenner: Das System hat sich seit 1913 als so wandlungsfähig erwie- sen, dass es immer wieder gelungen ist, es zu modernisieren. An einem Punkt wäre allerdings für mich eine

INTERVIEW

mit Prof. Dr. iur. Ulrich Wenner, Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht

Zur Person: Ulrich Wenner (57) ist seit 1995 Richter am Bun- dessozialgericht. Seit 2008 ist er Vorsitzen- der des 6. Senats, der

für das Vertragsarzt- recht zuständig ist.

Wenner stammt aus Mülheim an der Ruhr und studierte Jura in Bonn. Der Jurist ist Honorarprofessor an der Universität Frank- furt am Main und Vor- sitzender der Deut- schen Gesellschaft für

Kassenarztrecht.

Der Kollektivvertrag hat aber auch zu einer gewissen Unbeweglichkeit ge- führt. So gelingt es zum Beispiel nur schwer, die Sektorengrenze ambulant/

stationär durchlässiger zu machen. . . Wenner: Da muss man tatsächlich mehr tun, obwohl es über diesen traditionellen deutschen Graben in- zwischen auch schon viele Brücken gibt. Wir haben Schnittstellen mit sozialpädiatrischen Zentren, die an Krankenhäuser angebunden sind, oder die Neufassung von §116 b SGB V mit der spezialfachärztli- chen Versorgung – all das sind Brü- cken, über die man gehen kann. Ich kann mir auch vorstellen, bestimm- te hochspezialisierte Leistungen, wie das Labor, aus dem Sicherstel- lungsauftrag auszugliedern.

Jedenfalls ist es sinnvoller zu überlegen, wo eine gemeinsame Or- ganisation von Leistungserbrin- gung möglich ist, als das Brett an der dicksten Stelle zu bohren und den Sicherstellungsauftrag zurück- zuziehen. Dann würde schnell deut-

Foto: Georg J. Lopata

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6. Dezember 2013 Grenze erreicht: Wenn die Vertrags-

ärzte sich wirklich organisatorisch und inhaltlich in Hausärzte und Fachärzte aufteilen wollen – dar - über stritt man ja bei der letzten Vertreterversammlung der Kassen- ärztlichen Bundesvereinigung am 8. November –, ist das System nicht mehr steuerbar.

Sie brauchen ein Minimum an demokratischer Legitimation für die Gestaltung der Gebührenord- nung, die Honorarverteilung. Soll das dann jeweils die halbe Vertre- terversammlung beschließen? Sie können kein öffentlich-rechtliches, körperschaftliches Versorgungssys- tem gestalten, hinter dem nicht auf beiden Seiten Mehrheiten von

Krankenkassen und Vertragsärzten stehen. Beide müssen das System aus innerer Überzeugung bejahen und dessen Fehler überwinden wol- len. Ich kann allerdings nicht beur- teilen, ob diese Bindungskräfte noch stark genug sind.

Zuweilen treten die Partner der Selbst- verwaltung eher als Gegner auf. Es müssen Schiedsstellen angerufen wer- den, Schiedssprüche werden beklagt.

Wenner: Es gehört zur Tradition mindestens seit dem Kassenarzt- rechtsgesetz von 1955, dass die Entscheidungen der Schiedsämter ebenso wie die Richtlinien des Ge- meinsamen Bundesausschusses be- klagt werden können. Das darf aber nicht zur Regel werden, weil es die Institutionen und die Schiedsperso- nen delegitimiert. Wenn von vorn- herein klar ist, dass eine Seite ohne- hin vor Gericht geht, dann sind die Bindungskräfte, von denen ich eben sprach, aufgezehrt.

Ich bin seit 18 Jahren Richter am Bundessozialgericht (BSG). In die- ser Zeit haben wir 15 Urteile zu Schiedssprüchen im ärztlichen wie im zahnärztlichen Bereich gefällt.

Das ist überschaubar. Zumal zwei Drittel der Entscheidungen Fälle betrafen, in denen das BSG nicht die fehlende Einigung der Vertrags- partner ersetzt hat, sondern Muster-

entscheidungen zur Auslegung der maßgeblichen gesetzlichen Vorga- ben getroffen hat.

Die Krankenkassen sind seit 2008 ge- setzlich verpflichtet, mit dem Hausärzte- verband Verträge zur hausarztzentrier- ten Versorgung zu schließen. Wie ver- trägt sich das mit dem Kollektivvertrag?

Wenner: Ich halte es für einen schweren ordnungspolitischen Feh- ler, das den Kassen zur Pflicht zu machen und ihnen den Vertrags- partner vorzugeben. Gute Angebote und gute Verträge setzen sich auch ohne Zwang durch.

Zurzeit stehen vor den Sozialge- richten die ersten Entscheidungen zur hausarztzentrierten Versorgung an.

Bei allen Verfahren geht es um die Bereinigung der Gesamtvergütung.

Es wird ja merkwürdigerweise nicht um gute Verträge gestritten. Stattdes- sen werden die Gerichte über die Be- reinigung steuernd eingreifen. Das ist eine Fehlentwicklung.

Vor einem Jahr hat die KBV die 150 000 Vertragsärzte zum Sicherstellungsauf- trag befragt. Das Ergebnis: Die Ärzte wollen den Sicherstellungsauftrag nur dann beibehalten, wenn sie feste Prei- se für ihre Leistungen erhalten, Thera- piefreiheit garantiert und Bürokratie abgebaut wird. Was halten Sie von die- sem Votum?

Wenner: Entscheidend war für mich, dass die Rückgabe des Si- cherstellungsauftrags keine Mehr- heit gefunden hat – abgesehen da- von, dass das ein gesetzlich zuge- wiesener Auftrag ist, den man nicht einfach zurückgeben kann. Was die Bedingungen betrifft, müssen die Ärzte aber auch erkennen, dass es eine völlige Illusion ist zu glauben, sie könnten die gesamte Bevölke- rung nach eigenen Maßstäben be- handeln, eine Rechnung stellen, das Geld bekommen und sich um wei- ter nichts kümmern müssen. Das gibt es in keinem System der Welt.

Der Rechtsrahmen in Europa be- steht im Wesentlichen darin, dass Ärztinnen und Ärzte Angestellte in staatlichen Institutionen sind oder

dass sie als Freiberufler mit einem Reglementierungssystem öffentlich rechtlicher Art leben müssen. Vor dem Hintergrund erscheinen die Mängel in unserem jetzigen System, die ich nicht leugne, doch erträglich.

Denn an dem Punkt, an dem es besonders hakt – bei der Therapie- freiheit – gibt es mit dem G-BA ei- nen relativ produktiven Dialog dar - über, was an Verfahren anerkannt wird. Und vieles, was die Ärzte im Bereich der Arzneimittelversorgung als Reglementierung empfinden, ist dem Umstand geschuldet, dass Deutschland sich nicht entschlossen hat, die Arzneimittelversorgung in das System einzupassen – dass also Arzneimittelhersteller völlig freie Unternehmen sind und auf einen hochreglementierten Markt treffen.

Was die Bürokratie betrifft, sollte man so viel wie möglich vereinfa- chen. Die Vorstellung aber, Qualität sei wie vor 30 Jahren allein dadurch dokumentiert, dass der Arzt studiert hat, scheint mir der Komplexität heute nicht mehr gerecht zu werden – in keinem Beruf.

Das System der Selbstverwaltung hat viel mit Repräsentanz und Interessen- vertretung zu tun. Wie bewerten Sie in dem Zusammenhang die Hauptamtlich- keit der KV- und der KBV-Vorstände?

Wenner: Das BSG hat dazu vor kurzem ein grundlegendes Urteil verkündet. Es hat entschieden, dass die hauptamtlichen Vorstandsmit- glieder der KV diese beim Ab- schluss von Verträgen vertreten und sich die Vertreterversammlung eine Genehmigung dieser Verträge nicht vorbehalten darf. Damit wird die hauptamtliche Struktur gestärkt.

Ich halte das für ein konsequen- tes Modell. Denn wenn es auf der Kassenseite einen hauptamtlichen handlungsfähigen Vorstand gibt, muss man auch auf der Ärzteseite den Willen bündeln, was dort we- gen der Vielfalt der individuellen Beteiligten schon immer viel schwieriger war. Der Vorstand ist nach außen abschlussfähig und muss sich nach innen seine Mehr- heiten suchen. Er ist aber nicht von jeder Stimmungslage abhängig.

Das Interview führten Thomas Gerst und Heike Korzilius.

Das System hat sich als so wandlungsfähig erwiesen, dass es immer wieder gelungen ist, es zu modernisieren.

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