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Archiv "Für die Menschen von morgen" (14.11.1974)

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Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen FEUILLETON

Für die

Menschen von

morgen ··

Zum 25. Todestag

· des verkannten Malers James Ensor

Theodor Kiefer

Am 19. November 1949 starb in Ostende der 89jährige bei- gisehe Maler James Ensor.

Seihern Werk, welches in Deutschland bislang viel zu wenig bekannt gemacht wur- de, ist dieser Beitrag g.ewid- met, vor allem der Auseinan- dersetzung mit zwei ärztli- chen Kritikern, die - ohne li- terarische und zeitgeschicht- liche Bildinterpretationen - in Ensors großem CEuvre Merk- mate· der Bildnerei von Schi- zophrenen zu entdecken glaubten. Der Autor, einer qer wenigen Ensor-Kenner, weist jedoch nach, daß es sich um das bisher meist un- verstandene Werk eines ge- nialen Malers und Zeichners handelt, der uns - seiner Zeit weit voraus - mit dem Bösen und dem Phantasti- schen konfrontiert.

James Ensor: Selbstporträt mit Masken, dl"auf Leinwand, 120 mal 80 cm, Samm- lung Jussiant, Antwerpen

Obwohl in vielen deutschen Galeri- en Werke des belgischen Malers James Ensor hängen, ist er bei uns wenig bekannt. Er hinterließ ein umfassendes CEuvre. Seine Werke sind jedoch in alle Winde zerstreut, und selbst große Ausstellungen, wie diejenige in Stuttgart im letzten Sommer, können keinen Eindruck vom Gesamtwerk vermitteln.

Sein Schaffen umfaßt ein breites Spektrum. Viele seiner Bilder betö-

ren durch eine Farbgebung von er- lesener Schönheit. Andere sind ab- stoßend, zynisch, makaber. Man kann Ensor als Maskenmaler be- zeichnen, wenn man die entspre- chenden Bilder in den Vordergrund stellt, und ebenso als Graphiker, wenn man seine Radierungen, Li- thographien, Zeichnungen zusam- menfaßt Es gibt von ihm aber auch eine große Reihe von Massendar- stellungen und viele. Bilder, die rein psychologische Themen erörtern. C>

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James Ensor

Wer bei Ensor nur das Schöne su- chen wollte, wird nicht zufrieden- gestellt; er suchte wie ein Philo- soph die Wahrheit und beschönigte dabei nichts. Sein Hauptwerk "Der Einzug Christi in Brüssel" stellt die Tragödie des Massenmenschen dar, dem ein Ziel gezeigt wird, das er jedoch aus den Augen verliert, während er einen eingeschlagenen Weg weiterverfolgt

Für Ensor gab es kein Tabu, er suchte bedingungslos die Wahr- heit. Voraussetzungslose Wissen- schaft kennt keine gesetzten Schranken, Konventionen, Sitte und Etikette. Er konfrontierte sich lediglich mit seinen Erlebnissen und Erfahrungen: Man findet ent- setzliche Schilderungen, man kann sagen, scheußliche Zeugen der menschlichen Schwächen und da- neben geheimnisvolle und undeut- bare Darstellungen.

Wahrheitssucher werden, wie man weiß, leicht für geisteskrank er- klärt. ln letzter Zeit wurde von zwei Ärzten (1, 2) die Behauptung aufge- stellt, Ensor sei schizophren gewe- sen; in beiden Fällen ohne klini- sche Unterlagen. Als Grundlage der Diagnose dienten lediglich ein- zelne Bilder.

Nicht Psychopathie, sondern geniale Begabung

Um auf Einzelheiten einzugehen:

Hans Birkhäuser (1) schreibt fol- gendes: " ... fällt zunächst der er- staunliche Stilwandel des Künst- lers auf."

Dazu ist zu sagen: Stilwandel kann bei jedem großen Maler beobach- tet werden. Ensor wurde 89 Jahre alt. Während seines Lebens gab es in der Malerei mindestens zehn verschiedene Richtungen, Impres- sionismus, Neoimpressionismus, Pointilismus, Nabismus, Fauvismus, · Kubismus, Futurismus usw.

Wenn sich Ensor also jeweils im Stil seiner Zeit ausdrückte, so ist ein Stilwandel nicht erstaunlich.

Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen

James Ensor: Russische Musik, 1881, Öl auf Leinwand, 133 mal 110 cm, Musee Royal des Beaux-Arts, Brüssel . •

Wenn außerdem siebzig große Öl- gemälde von der Kritik in Grund und Boden verdammt werden, so ist dies wohl 'Anlaß genug für den Künstler, sich der Grafik zuzuwen- den. Weder von· Schwäche noch vom Nachlassen der Kraft sollte man reden; denn Ensor schuf in- nerhalb kurzer Zeit 130 Grafiken.

Man vergleiche auch einmal den CEuvrekatalog von 1888, dem Jahr, in dem sein Hauptwerk entstand.

Oder einen anderen Satz von Birk- häuser: "Dazwischen findet man aber auch Erinnerungen an Breu- ghel, Rembrandt, Watteau."

Aber Ensor hat nie verheimlicht, daß er mit der Tradition verbunden ist. Das Selbstporträt mit den Mas- ken ist sogar mit dem von Rubens identisch; wir. bemerken die glei- che Haltung, die gleichen Augen, die gleiche Nase, den gleichen

Bart - nur ist Rubens ein freier, geachteter Mann, während Ensor von verständnislosen, uninteres- sierten, sogar feindseligen Leuten umgeben ist, die ihm kaum die Luft zum Atmen lassen.

Ein anderes Zitat: Nach seinem 32.

Lebensjahr "ist er sozusagen aus- gebrannt und pflegte noch bis zu seinem Tode im. Jahre 1949 mit Farbe und dem Farbstift spieleri- schen Umgang". · ·

Dieses kunsthistorische Urteil ist falsch. Daß jed~r Mensch im Alter langsamer und weniger arbeitet, scheint ein Naturgesetz zu sein.

Von Ensor haben wir bis ins hohe Alter Zeugnisse der besten Male- rei und dazu zahlreiche Dokumen- te seiner Philosophie.

Noch ein Birkhäuser-Urteil: "Die außerordentlichen . Bilder dieser

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 46 vom 14. November 1974 3361

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Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen James Ensor

Zeit haben einen besonderen Stil:

ungelenk, beinahe ataktisch, ama- teurhaft (etwa ,Die guten Richter' oder ,Gewissensbisse des Korsi- schen Menschenfressers', ,Ensor und Leman diskutieren über Male- rei')."

Bei den "Guten Richtern" ist rechts oben die Waage der Ge- rechtigkeit perspektivisch so ge- zeichnet, daß die eine Seite herun- terzuhängen scheint. ln der Mitte oben sieht man nur noch die an Holz genagelten Füße Christi. Un- ten eine Versammlung aller Arten von Blödheit, Dummheit, Interesse- losigkeit, Wichtigtuerei, auf die der

Maler vergeblich mit Engelszungen einredet. Was daran ataktisch sein könnte? Das Bild hätte glänzend in den Simplizissimus gepaßt, in dem damals sehr viel Ähnliches zu se- hen war.

"Ensor und Leman": Wenn ein Künstler und ein General über Ma- lerei diskutieren, dann weiß man zuvor, daß sie sich nicht einigen können.

Birkhäuser: "Am offensichtlichsten stellte er seine Ausnahmesituation in der Zeichnung dar, welche auf ,Dämonen, die mich quälen' abge- bildet ist: er selbst, umgeben, um-

James Ensor: Musik in der Rue de Flandre, Öl auf Holz, 24 mal 19 cm, Musee Royal des Beaux-Arts, Antwerpen

3364 Heft 46 vom 14. November 1974 DEUTSCHES ARZTEBLATT

schrien von fremden bedrohlichen Monstren und Fratzen."

"Die Geister, die mich bedrängen", könnte man als Einwand entgegen- halten, wenn es sich nur um eine ungeordnete Zeichnung handeln würde. Er hat aber gerade dieses Blatt ungefähr vi~rmal neu bearbei- tet, bis es graphisch so gegliedert war, daß es als Titelbild für eine Zeitschrift verwendet werden konn- te.

"Das tut seiner künstlerischen Lei- stung keinen Abbruch", schreibt Birkhäuser. "Es fragt sich nur, wie weit ihn die Psychopathie befähig- te, Schwächen und Ungereimthei- ten seiner Zeit schärfer zu sehen als andere."

Ensor ist in seiner persönlichen Problematik befangen gewesen und hat darauf aggressiv reagiert.

Aber ist seine Reaktion auf den Generalstreik und die Weltkriege nicht sehr viel mehr als "persönli- che Problematik"? Balzac, Baude- laire, lbsen, Strindberg sind gleich- falls Philosophen ihrer Zeit, die

"Schwächen und Ungereimtheiten schärfer sehen als andere". Man sieht sie aber nicht als geistes- krank an.

Nicht die Psychopathie, sondern seine geniale Begabung hat Ensor befähigt, "Schwächen und Unge- reimtheiten seiner Zeit schärfer zu sehen als andere". Tatsächlich ist es euphemistisch, von Schwächen und Ungereimtheiten zu reden; es ging um Menschenleben und Exi- stenzen. Wenn man es so betrach- tet, wird man den aggressiven Stil besser verstehen.

Birkhäuser: "Ensor ist kein schwe- rer Schizophrenie-Fall."

Gewiß gibt es leichte Fälle. Aber auch sie ·müssen Symptome zei- gen, die pathognomonisch sind.

Birkhäuser: " ... worin sich Geniali- tät und Wahnsinn gleichen und wo- durch sie sich unterscheiden."

Geisteskranke leben in ihrer "per- sönlichen Problematik". Genies

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aber sind Wahrheitssucher und messen ihre eigenen Probleme und die Gedanken anderer an den Ge- schehnissen der Zeit. Unter Weg- fassung des Nebensächlichen schildern sie konzentriert das We- sentliche.

Beim Generalstreik ging das Militär in ganz Belgien mit "beispielloser Grausamkeit" vor. ln Ostende wur- den fünf Fischer erschossen. Ensor charakterisierte die Lage in harten Bildern. An sich hätte er als Bürger auf der Siegerseite stehen müssen.

Daß er es wagte, sich auf die Seite der Streikenden zü stellen, spricht für seinen Gerechtigkeitssinn. Er selbst schrieb zu seiner Graphik:

"Ich will überleben, den Menschen von morgen vieles bringen."

Die Beschäftigung mit dem Bösen und dem Phantastischen:

eine Psychose?

Michael Koch (2) schreibt zu einem Bild - der Versuch einer Deutung des Dargestellten wurde nicht ein- mal unternommen: "Es weist, auch im Detail, viele Merkmale schizo- phrener Malerei auf und läßt, trotz einheitlicher Gesamtkonstruktion, schon eine deutliche technische Nachlässigkeit erkennen."

Ensor entwarf mehrere Zeichungen und Bilder nach Novellen von E. A.

Poe, dem bekanntesten amerikani- schen Dichter, den Baudefaire ins Französische übersetzt hatte. Ein Thema ist "Hop Frog" (Hüpfe, Frosch): Der König verlacht mit seinem Gefolge einen körperlich behinderten Buckligen. Dieser rächt sich auf eine unheimliche Art, indem er den König und seine Minister bei lebendigem Leib ver- brennen läßt. Sein ausgeklügeltes Racheunternehmen hat Erfolg, die entsetzten Zuschauer müssen starr vor Schrecken dem Ereignis zuse- hen, ohne helfen zu können. Wer dies in so eindringlicher Art darzu- stellen weiß, ist ein großer Künstler, aber geisteskrank ist er nicht.

Oder Koch: "Den letzten Zweifel an einer schizophrenen Prozeßpsy- chose zu nehmen, sind die folgen-

Spektrum der Woche Aufsätze · Notizen James Ensor

James Ensor: Le Repas des maigres, Öl auf ·Leinwand, entstanden während des 1. Weltkrieges, Privatbesitz New York; von Libby Tannenbaum als "Banquet of the Starved", fälschlich auf ca. 1925 datiert, an läßlich einer Ensor-Ausstellung des Museum of Mordern Art, New York, abgebildet

den Bilder von Ensor geeignet. Die Konzentration reicht für eine sorg- fältige Arbeit nicht mehr aus; die Details tragen den Charakter von Kinderkritzeleien. Dennoch spürt man im· ganzen noch die Hand des Routiniers, der den EiQ.9ruck des Flimmrig-Turbulenten recht gebän- digt wiedergibt und sowohl Raurn- aufteilung wie die Dynamik des Bil- des noch gut beherrscht. Es sind dies die Spuren jenes Könnens, das uns schon in so wenigen Bil- dern einen dramatischen, schizo- phren-halluzinatorischen Erlebnis- wandel ein wenig nachvollziehbar.

werden ließ."

Neben den Gemälden der dunklen Periode, der Grafik, den Masken mit dem Tod und den Massendar- stellungen, neben diesen vier Schwerpunkten seiner Malerei, er- gänzt durch Landschaften und Stilleben, Selbstporträts und Por- trätzeichnungen, malt Ensor noch in einer fünften Manier: Für alles Unheimliche, Anstößige und Peinli- che, für alle Grundfragen der Menschheit, die nicht in -der Öffent-

lichkeit besprochen zu werden pflegen - die Domäne von Sig- mund Freud -, bedient er sich ei- ner besonderen Technik. Es sind Bilder, an die man herantreten muß, um etwas zu erkennen; man ist aufgefordert, sie zu analysieren, . vieles ist mit Absicht undeutlich gehalten, weil ja die Vorgänge in der menschlichen Seele oft genau so undeutlich und undeutbar sind.

Solche Darstellungen finden wir nicht etwa nur in der späteren Zeit, sondern auf sein ganzes Lebens- werk verteilt. Mit solchen Bildern will Michael Koch eine endogene Psychose nachweisen.

e

Wird fortgesetzt

Anschrift des Verfassers:

Sanitätsrat Dr. med. Theodor Kiefer 675 Kaiserslautern

Am Altenhof 2

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