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Archiv "„ . . . zu den Menschen von morgen sprechen„ Emile Verhaeren und James Ensor" (22.05.1980)

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zu den Menschen von morgen sprechen'

Emile Verhaeren und James Ensor

Theodor Kiefer

Aufsätze . Notizen

FEUILLETON

Schon im

vorigen Jahrhundert ha- ben große Geister die Entwicklung unseres Jahrhunderts erkannt und angegeben, wo die Forderungen un- serer Zeit sein werden. Diese pro- phetische Schau vermitteln der bel- gische Maler James Ensor und der belgische Dichter Emile Verhaeren.

Die Königliche Bibliothek in Brüssel bezeugt dem größten Dichter des Landes, Emile Verhaeren, ihre be- sondere Wertschätzung, indem sie sein Arbeitszimmer erhält. Dort hängt sein Porträt, von James Ensor gemalt.

Emile Verhaeren lebte von 1855 bis 1916, James Ensor von 1860 bis 1949.

Selten findet man eine Geistesver- wandtschaft zwischen Maler und Dichter in gleicher Art. Beide began- nen mit flämischem Impressionis- mus. Bei beiden trat eine heftige Kri- se des Geistes und des Körpers ein.

Danach änderte sich ihr Stil. Beide schöpften fortan aus der Vorstel- lung.

So wie bei Ensor die Gründung der XX (avantgardistische Gruppe in Brüssel), gab es bei den Dichtern 1885 „Die Dekadenten und Symboli- sten" als Sezession von dem Her- kömmlichen.

Aber während sich Ensor lediglich auf die Aussage seiner Bilder ver- ließ, konnte Verhaeren durch seine Gedichte deutlich machen, was er sagen wollte.

Mit ihrer unbegrenzten Fantasie setzten beide ihre Mitmenschen in Erstaunen. Was sie jedoch auszeich-

net, ist ihre Vision von der Welt, die—

weit vorausgesehen — eine Philoso- phie des XX. Jahrhunderts darstellt.

Sie waren die Ersten und Einzigen, die von der auf uns zukommenden Massenbewegung sprachen. Ensor malte schon 1888 den „Einzug Chri- sti in Brüssel". Die Menschen lebten zwar noch unter dem Namen Christi, gingen jedoch ihren eigenen Weg.

Ensor selbst sagt dazu: „Zum wie- vielten Male vor dem Werk „Der Ein- zug Christi in Brüssel", konnte ich niemals der Menschenflut widerste- hen, der überschäumenden Flut, die in diesem Gemälde wogt. Wenn ich mich in diesen Strom versetze, hin- eingezogen in diesen Fluß der Kör- per und Gesichter, fühle ich mich wie ein namenloser Wassertropfen, das kleinste Teilchen in einem Rie- senstrom. Welche Kraft treibt diesen Fluß oder führt ihn? Welche Bestim- mung hat er? Der Hering, der ver- gessen auf einer Bank liegt, weiß ebensowenig über sein Schicksal, wie der Backstein, der in seine Mau- er eingefügt ist. Und diese Entsa- gung der Persönlichkeit, diese Un- terwerfung unter die ewigen Mäch- te, habe ich oft genug mit Vorbe- dacht erfahren am Strand von Ost- ende."

Verhaeren schilderte in seinen Ge- dichten das Industriezeitalter. Er sah die Vergrößerung der Städte, den Zug der Landbevölkerung in den Moloch, die ville tentaculaire. Er sah auch die negativen Folgen.

Ensor und Verhaeren nahmen nicht nur die Befunde der überquellenden Städte auf, sondern empfanden auch die seelische Entwicklung im einzelnen Menschen. Sie wußten

Bis zum 1. Juni 1980 finden in Ingelheim „Die belgischen Ta- ge" statt. Neben Kunstausstel- lungen, Konzerten, Seminaren zu Politik, Wirtschaft und Kul- tur, Sportveranstaltungen und einem Medizinischen Kollo- quium enthält das Programm auch einen Vortrag über den belgischen Maler James En- sor, mit dem sich auch der Feuilleton-Autor des DEUT- SCHEN ÄRZTEBLATTES, Sa- nitätsrat Dr. med. Theodor Kiefer, Kaiserslautern, intensiv befaßt. Er ist besonders durch sein Werk über James Ensor

„. . zu den Menschen von morgen sprechen" bekannt geworden, das 1976 im Verlag Aurel Bongers, Recklinghau- sen erschienen ist. Auch im DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT hat Theodor Kiefer über Ensor publiziert (Hefte 23/1974, 46 und 47/1974). Anläßlich der belgischen Tage, veranstaltet von der Firma C. H. Boehrin- ger Sohn, Ingelheim, macht Theodor Kiefer auf die Bezie- hungen zwischen James En- sor und dem großen belgi- schen Dichter Emile Verhae- ren aufmerksam.

von den Entdeckungen der Psycho- logen, sie hatten Kenntnis von den neuen Wissenschaften, von der Psy- choanalyse, von der Relativitäts- theorie, von den Atomwissenschaf- ten, von der Biogenetik. Sie sannen auf eine neue Ethik, sie suchten eine Erlösung, sie waren unserer Zeit weit voraus.

1910 übersetzte Stefan Zweig die Werke von Verhaeren in die deut- sche Sprache. Das Buch (drei Bän- de) erschien in der bekannt schönen Ausgabe des Inselverlages. In seiner Einleitung suchte er die geistigen Strömungen jener Zeit zu erfassen und zu erklären. Dabei stellen sich viele Gemeinsamkeiten mit den Er- lebnissen Ensors heraus.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 21 vom 22. Mai 1980 1423

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James Ensor: Porträt Emile Verhaeren, 1890, Öl auf Holz, 24 x 18,3 cm Aufsätze • Notizen

Emile Verhaeren und James Ensor

Stefan Zweig schreibt in dieser Ein- leitung: „Dieses neugeborene na- mentliche Bedingtsein heischt eine andere Moral, das neue Beisammen- sein eine neue Schönheit, das neue Untereinandersein eine neue Ethik.

Und dieses andere Gegenüberste- hen einer anderen erneuerten Welt, einem anderen Unbekannten, will ei- ne neue Religion, einen neuen Gott."

Weiter heißt es darin: „Denn der Mensch ist nicht mehr frei vom Ein- fluß der anderen, wie einst der Mensch der Felder ... Der Hunger ist umgesetzt in den Begriff des Gel-

des. Geld, Trinken und Essen ist der heiße Traum der Menge. Alle Werte sind untergeordnet dem Geldwerte.

Herrlich ist die Vision des Basars, wo in allen Auslagen, in allen Stock- werken, sich alles verkauft, aber nicht nur wie in den Wirklichkeiten die Dinge des Gebrauchs, sondern in einer höheren Symbolik auch die ethischen Werte, die Überzeugun- gen und Meinungen, Ruhm und Na- me, Ehre und Macht."

An einer anderen Stelle sagt Stefan Zweig: „Die Werke Verhaerens stel- len lyrisch das Europa um die Jahr- hundertwende vor, uns und unsere

Zeit, bewußt betrachten sie den gan- zen Umkreis der Lebensdinge: sie schreiben eine lyrische Enzyklopä- die unserer Zeit, die geistige Atmo- sphäre an der Wende des zwanzig- sten Jahrhunderts."

Er bekennt: „Wir können fliehen, aber nicht dem entfliehen, was von ihnen in uns eingedrungen ist; denn die Menge beherrscht uns wie eine Naturkraft."

Leider müssen wir feststellen, daß wir, die Nachfahren, noch nicht ge-

lernt haben, uns in die Masse zu integrieren.

Anschrift des Verfassers:

Sanitätsrat Dr. Theodor Kiefer Am Altenhof 2

6750 Kaiserslautern

Literatur:

Verhaeren, Emile: James Ensor, Librairie Na- tionale Art et d'Histoire, G. Van Oest u. Cie., Brüssel 1908 — Zweig, Stefan: Emile Verhae- ren, Inselverlag Leipzig 1910 — Teugels, Jean:

Variations sur James Ensor, öditions l'aqua- rium: Ostende, 1951 — Kiefer, Theodor: James Ensor, Verlag Bongers, Recklinghausen, 1976 Ich bin der Belgischen Botschaft in Paris zu großem Dank verpflichtet für die Unterstüt- zung mit Ensor-Literatur, Frau Dr. Lydia M. A.

Schoonbaert, Direktorin des Königlichen Mu- seum für Schöne Künste in Antwerpen, für ihre Teilnahme und Hilfe.

EJ

Emile Verhaeren, am 21. Mai 1855 in Sint-Amands (Antwerpen) geboren, studierte in Löwen Rechtswissen- schaft. Er ließ sich 1881 als Anwalt in Brüssel nieder, wandte sich aber bald ganz der Literatur und der Kunstkritik zu. Er ist Mitbegründer der Bewegung um die Zeitschrift

„La Jeune Belgique". Verhaeren gilt als der bedeutendste französisch- sprachige belgische Lyriker. Er be- gann mit Gedichten in der Art der Parnassiens (französische Dichter- gruppe des 19. Jahrhunderts): „Les Flamandes", in denen er seine flämi- sche Heimat besingt. Es folgten Sammlungen sensibler, zum Teil halluzinatorischer Gedichte. Die charakteristischsten Lyrikbände Verhaerens sind „Die geträumten Dörfer". Am 27. November 1916 starb er bei einem Eisenbahnun- glück in Rouen in Frankreich.

1424 Heft 21 vom 22. Mai 1980

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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