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Archiv "Hexenkessel statt Frauenfessel: Viele der Opfer des Massenwahns der Hexenjagd waren heilkundige weise Frauen" (13.11.1985)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Kulturmagazin

HEXENKESSEL.,

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er Stiefel (Knochenbrecher aus Metall) wird angetan und etwas zugeschraubt.

Schreit: 'Soll ich denn lügen', stellt sich weinend, übergeht ihr aber kein Auge. Obzwar stark angezogen, bleibt sie doch auf einerlei. 'Oh, ihr zwingt einen!' Schreit jämmerlich ... " Nüch- tern schildert der Folterknecht 1662 die Tortur einer „Hexe":

„Meine Hände zittern, meine Fü- ße verkrampfen sich, ein Ekel- gefühl steigt hoch und ein Wür- gen im Hals zwingt mich, aufzu- stehen und auf die Toilette zu gehen. Ich übergebe mich und plötzlich brechen Schmerz, Ver- zweiflung und unbändiges Wei- nen aus mir heraus." Das erlebt Judith Jannberg, eine Frau von heute, beim Lesen eines Folter- protokolls. Vor zwei Jahren be- kannte sie: „Ich bin eine Hexe".

Und in ihrem Buch gleichen Ti- tels behauptet sie: „Die Hexen kommen wieder."

Viele der Opfer des Massenwahns der

Hexenjagd waren heilkundige

weise Frauen

Schon vor 350 Jahren erhob ei- ner warnend seine Stimme ge- gen die grausamen Hexenpro- zesse: Der Jesuitenpater Fried- rich Spee war Beichtvater vieler

„Hexen" und begleitete die ver- zweifelten und unschuldig ver- urteilten Frauen zum Scheiter- haufen. 1631 veröffentlichte er seine „Cautio criminalis" — an- onym. Denn in dieser Schrift — die er allen widmete, die sie nie lesen würden — beschrieb er bis ins Detail die für das Opfer in je- dem Falle ausweglose Prozeß- Logik. Ob Aussage, ob Schwei-

gen, ob bei der Folter standhaft oder schwach, jedwedes Verhal- ten führte unweigerlich zum Tod im Feuer. Unerschrocken mach- te Spee auch Obrigkeit und Kir- che für die absurde Gewalt ver- antwortlich und forderte gegen den endlosen Gebrauch der Fol- ter zum ersten Mal: „in dubio pro reo".

Spee hatte ein heißes Eisen an- gepackt. Denn noch galt unan- gefochten die Lehre des „He- xenhammers" von 1487: „Was ist das Weib anders als die Fein- din der Freundschaft, eine un- entrinnbare Strafe, ein notwen- diges Übel, eine häusliche Ge- fahr, ein ergötzlicher Schade, ein Mangel der Natur mit schö- ner Farbe gemalt? ..." Und vor allem ist das Weib unersättlich in seiner sinnlichen Lust.

Ohnehin prädestiniert für über- natürliche Kräfte, vermachen

Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 46 vom 13. November 1985 (83) 3457

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Die neuen Hexen

Frauen dem Teufel ihre Seele, besiegeln diesen Pakt mit der leiblichen Vereinigung (Teufels- buhlschaft) und sind dann zu all dem fähig, was man jungen Mädchen wie Greisinnen in un- zähligen „Geständnissen" ab- preßte: Sie töten Mensch und Vieh, hemmen die Zeugungs- kraft der Männer, fliegen in der Walpurgisnacht auf den Blocks- berg, feiern dort rituelle Orgien und erweisen dem Satan den obzsönen Lehnskuß auf den Hintern. Millionen Frauen wur- den Opfer dieses Massenwahns, der sich ausbreitete wie eine Epidemie, in der Zeit der begin- nenden Zivilisation von den ver- unsicherten Menschen panisch aufgegriffen. Ihnen schien die Endzeit angebrochen. Unter den Opfern waren viele heilkundige Frauen und Hebammen, kann- ten sie doch die Geheimnisse von Schwangerschaft, Geburt, auch Verhütung und Abtrei- bung.

Wider die zerstörerische Rationalität

Zweihundert Jahre später kom- men die Haghetissen wieder. In Walpurgisnächten erobern sie die Nacht zurück, steigen auf Besen und machen die Straßen unsicher. Sie treffen sich im Lo- kal „Blocksberg" oder lesen im

„Hexengeflüster" über Hausge- burt, Selbstuntersuchung und Kräuterheilkunde. Und sie sin- gen: „The witches are back. You thought, we were gonna, but the witches are back. And this time we're here to stay!"

Diese Wiederkehr war nicht ge- plant. Die modernen Hexen in- teressierte weniger die Historie als ihr neues, eher diffuses Ge- fühl einer Nähe zur Vergangen- heit: zur gewalttätigsten Form der Frauen-Unterdrückung. Das Bild der Hexe verdichtete sich zum allumfassenden Symbol, auch ironisch benutzt gegen die männlichen Mythisierungen von Weiblichkeit: Im Filmvamp, im

Diese moderne Hexe hat sich für die Walpurgisnächte aggressiv und auffällig wie ein Punk bemalt

alles verschlingenden Sinnen- weib, in der mächtigen Kurtisa- ne — in allen steckt ein Stück der Hexe.

Frauen gruben die verschüttete Weisheit ihrer Vorfahrinnen wie-

der aus. Auf Seminaren erinner- ten sie die Ursprünge matriar- chalischer Spiritualität und Ma- gie, um zu neuen Bewußtseins- ebenen vorzustoßen. Seminar- beispiel einer internationalen Konferenz „Feminismus und Spiritualität" im April dieses Jahres — „Der Neumond — die Wiederentdeckung der weib- lichen Magie. Der Neumond, der die greise Göttin und weise Frau darstellt, führt uns auf eine Rei- se in Bereiche der Trance, wo wir in uns den tiefen Quell weib- licher Vision und Macht entdek- ken können".

Die Veranstalterin eines Astrolo- gie-Workshops stellt sich so vor:

„Ich bin 26 Jahre alt, mein Son- nenzeichen und Aszendent Steinziege, meine Mondin ist in Wasserfrau. Seit über sieben Jahren lebe ich in Frauen-/Les-

benzusammenhängen. Ich ver- suche, mein Leben, meinen All- tag, den ich seit zwei Jahren auf dem Land verbringe, in Einklang mit den naturbezogenen und universellen Gesetzen zu gestal- ten. Dabei behilflich sind mir viele Auseinandersetzungen mit Frauen, aber auch der Umgang mit Natur und Tieren."

böse auf die todessüchtigen, kriegswütigen, unterdrückeri- schen Erde-Luft-Wasser-Leben- Zerstörer", schreibt Judith Jann- berg; „Ich bin eine magische, ei- ne mächtige, eigen-mächtige, eine vermögende Frau". Sie ist völlig ausgestiegen aus der Männergesellschaft, lebt allein auf dem Land, in Übereinstim- mung mit der alten und neuen Göttin Natur. Und sie ist über- zeugt, schon einmal als Hexe gelebt und gelitten zu haben.

Diesen Frauen, die sich Flügel- frauen oder auch Hexen nen- nen, geht es nicht um eine neue Mode. Ihre Neubesinnung geht tiefer. Dem von Männermacht, Konkurrenz und dualer Rationa- lität beherrschten Leben wollen sie eine integrierte, ökologische

.E g Lebensweise entgegensetzen.

„So bin ich eine böse Alte ...

3458 (84) Heft 46 vom 13. November 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Die neuen Hexen

Unter ihrer Anleitung werden auch andere Frauen zu „hage- dissen", zu Zaunreiterinnen zwi- schen den Wirklichkeiten. In Trance, während ihrer „Reinkar- nations-Regression" erleben sie zum zweiten Mal Folter und Feu- ertod.

Nur wenige sind so radikal wie Judith Jannberg. Sie ist durch- aus umstritten. Aber viele Frau- en arbeiten, denken und fühlen in eine ähnliche Richtung. Auch Frauen, die sich nicht zur Frau- enbewegung zählen. Wie Marita Hillemeier, eine Psychologin, die auch Horoskope erstellt. Für sie ist Astrologie keine billige Vorhersage von Ereignissen, sondern ein Symbolsystem für

die menschliche Entwicklung.

Häufig wird sie von Frauen be- sucht. „Frauen sind in einer ge- schichtlichen Situation, wo sie sich mehr mit Geist-Aspekten, auch mit Intuition auseinander- setzen", sagt sie. „Sie sind an sich selbst interessiert, wollen sich stellen und konfrontieren."

Eine andere Kunst, von den wei- sen Frauen der Zigeunervölker überliefert, das Tarot, behält Marita Hillemeier noch für sich Das wird zelebriert; dafür nimmt sie sich viel Zeit und unbedingte Ruhe. „Das sind Karten mit ei- ner wirklich tiefen Bedeutung.

Wenn ich die lege — und das ma- che ich nur bei wichtigen Ent- scheidungen — befinde ich mich

in einem anderen space", er- zählt sie. Dann sei sie völlig ver- sunken und konzentriert. „Die Karten enthalten ein tiefes Wis- sen — und ich selbst bin auch Wissen. Ich lege die Karten — und sie sind sinnvoll."

Die modernen Hexen sind eben- sowenig boshafte Zauberinnen wie vor fünfhundert Jahren.

Wohl aber sind sie ebenso ket- zerisch wie damals: elementare Verehrung für alles Natürliche, die Abwendung von patriarchali- scher Religion und Hierarchie, integratives, auf Einheit zielen- des Denken sind auch heute noch Geisteshaltungen für Au- ßenseiterinnen der „normalen"

Gesellschaft. Birgit Morgenrath

Die wiederkehrenden Hexen, die Flügelfrauen, hier in den Berliner Walpurgisnächten, haben Spaß an grotesken Verkleidungen, mit denen sie den Mythos vom alles verschlingenden Sinnenweib ironisch zur Schau stellen

3460 (86) Heft 46 vom 13. November 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

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