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Archiv "Gesundheitswesen der DDR Aufbruch und Ausbruch" (23.11.1989)

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Gesundheitswesen der DDR

Aufbruch und Ausbruch

Personelle Engpässe

Kritik an Bürokratie und Gängelei von oben

Erste Überlegungen zu einer ärztlichen Berufsvertretung

AKTUELLE POLITIK

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

D

r. med. Michael Burgkhardt (44) leitet als ärztlicher Di- rektor die Poliklinik Ost in Leipzig. In seinem Haus arbeiten 350 Mitarbeiter - auf dem Papier jeden- falls, denn 17 von ihnen haben die DDR inzwischen verlassen, 9 haben die Ausreise beantragt. Das ist der Stand am 14. November, dem Tag, an dem Burgkhardt im Deutsch- landfunk (DLF), in der Bundesre- publik Deutschland zu einem Ge- spräch in einer Live-Sendung über das DDR-Gesundheitswesen und die Auf- und Umbrüche in der DDR mit dem Präsidenten der Bundes- ärztekammer, Dr. Karsten Vilmar, zusammentrifft.

An Burgkhardts Statistik mag sich noch einiges ändern. Insgesamt scheinen die DDR in den letzten Wochen knapp zehn Prozent der Ärzte verlassen zu haben. Ein be- drohlicher Aderlaß, denn die DDR hat wenig personelle Reserven, auch nicht im medizinischen Bereich.

Denn, so erläutert Dr. Burgkhardt, entsprechend der Planungsideologie wurden genauso viele Mediziner aus- gebildet, wie man zu benötigen glaubte. Demnach entspricht die Zahl von (bisher) 37 000 Ärzten dem veranschlagten „Bedarf". Und davon fehlt nun eben ein Zehntel. Für ein- zelne Polikliniken, einzelne Kran- kenhäuser oder einzelne Fachgebie- te einer medizinischen Einrichtung, die besonders betroffen sind, bedeu- tet der Verlust, daß sie praktisch nicht mehr für die Patientenversor- gung zur Verfügung stehen können.

Die Möglichkeiten, die Lücken zu schließen, sind beschränkt. Im- merhin, es gibt sie: Ärzte aus den Regierungskrankenhäusern - das sind bestens ausgestattete Kranken- häuser für die Behandlung von Funktionären und deren Angehöri- gen - können in der allgemeinen Krankenversorgung eingesetzt wer- den, desgleichen Ärzte aus der Volksarmee. Ein - freilich unkalku- lierbares - Potential ließe sich er- schließen, wenn es gelänge, die poli- tischen Lasten vom Gesundheitswe- sen zu wälzen. Hier haken auch jene Ärzte ein, die aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt sind.

Sie sagen nämlich, die Engpässe gä- be es im Gesundheitswesen der

DDR schon lange. Der Unterschied zu früher sei lediglich der, daß heute darüber geredet werde. Sie beklagen die Überlastung mit Bürokratie und mit politischer Schulung. Mindestens zwei Stunden pro Woche gingen al- lein für den fruchtlosen sozialisti- schen Wettbewerb drauf.

Auch Dr. Burgkhardt gehört zu denen, die schon einmal mit dem Gedanken an Übersiedlung gespielt haben. Er aber hat sich zum Bleiben entschlossen und bedauert heute, ja kritisiert heftig, das Weggehen vieler Kolleginnen und Kollegen. Kenn- zeichnend sein offener Brief an zwei Kollegen. Darin heißt es:

„Ich habe zu Ihnen beiden ein sehr gutes kollegiales und wohl auch freundschaftliches Verhältnis ge- habt. Wir haben gerade in den letz- ten Wochen oft im Kreis engagierter Kollegen zusammengesessen und

Die Mauer ist aufgebrochen, sichtbares Zei- chen des Umbruchs und Aufbruchs in der DDR. Hier der neugeschaffene Grenzüber- gang Bemauer Straße Foto: dpa

unsere Sorge um die Entwicklung im Lande artikuliert. Sie haben sich da- bei mit uns in Übereinstimmung ge- funden, wenn wir formulierten - und dieses mit Stolz und Trotz -, daß wir Hierbleiber verpflichtet sind, uns in die Tagespolitik einzumischen. Auch Ihr, zumindest mir gegenüber, for- muliertes Bekenntnis war ein Be- kenntnis zum Hierbleiben. Sie wis- sen, daß ich immer und öffentlich dafür eingetreten bin, jedem Men- schen das Recht auf freie Wahl des Wohnortes zu gewähren. Allerdings habe ich auch nie einen Zweifel dar- an gelassen, daß dies für einen Arzt nur mit Einschränkungen gelten kann. Patienten unversorgt zurück- zulassen ist eine Verhaltensweise, die ich verurteile!"

Mit anderen Worten: Nach Burgkhardt und jenen, die ähnlich denken wie er, werden die Ärztinnen und Ärzte zum einen um der Kran- kenversorgung willen benötigt, zum anderen aber auch, weil ihre Kräfte bei den jetzt einsetzenden Umwäl- zungen - so sie denn erfolgreich sein sollten - benötigt werden, im Ge- sundheitswesen und auch in der Ta- gespolitik. Denn „Einmischung in die Tagespolitik" gehört gleichfalls zum Programm des Dr. Burgkhardt;

und so wie er stellen sich viele, die sich bisher auf ihr Berufsfeld kon- zentriert haben, für übergreifende Aufgaben zur Verfügung. Burgk- hardt (der selbst bescheidene politi- sche Erfahrungen als liberaldemo- kratischer Stadtverordneter in Leip- zig hat) verweist etwa auf den Diri- genten des Gewandhaus-Orchesters, Prof. Masuhr.

Ein bezeichnendes Schlaglicht:

Als der DLF-Interviewer seinen Ge- sprächspartner als „Reformer" titu- lieren will, wehrt Burgkhardt heftig ab: so bezeichne sich neuerdings so- Dt. Ärztebl. 86, Heft 47, 23. November 1989 (17) A-3557

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Ein Rundfunkgespräch brachte sie zusammen: Dr. Michael Burgkhardt, Vorkämpfer für Strukturveränderungen im Gesundheitswesen der DDR (Mitte), und Dr. Karsten Vilmar, den Präsidenten der Bundesärztekammer (rechts). Vilmar bot Gespräche und die Vermittlung von Know-how beim Aufbau einer ärztlichen Selbstverwaltung an. Trotz vieler Versuche ist es der Bundesärztekammer bis heute nicht gelungen, offizielle Verbindungen in die DDR zu knüpfen. Gesprächskontakte gab es bisher über die WHO (Regionalbüro Europa). — Links im Bild DLF-Redakteur Rainer Sörensen Foto: d-e-w gar Egon Krenz . . . Neue Strukturen

müssen, so Burgkhardt, von unten aufgebaut werden. Das gelte auch für das Gesundheitswesen. Eine ärztliche Berufsorganisation müsse von der Basis her neu entstehen. Er denkt an einen Leipziger Ärzte- verein (wem käme da nicht der Ge- danke an den alten Leipziger Ver- band des Dr. Hartmann?). Von der Basis her, auf örtlicher Ebene müsse auch das Gesundheitswesen organi- siert werden.

An eine Neuorganisation des Gesundheitswesens denkt auch der Dekan der Medizinischen Fakultät der Ost-Berliner Humboldt-Univer- sität, Prof. Dr. Heinz David. Er ge- hört zu den Unterzeichnern eines of- fenen Briefes, der dieser Tage im

„Neuen Deutschland" erschienen ist.

Im Gespräch mit dem Deutschland- funk (David wurde über eine Lei- tung zugeschaltet) spricht er von der beabsichtigten Gründung eines Ver- bandes der Ärzte und Zahnärzte in der DDR. David, der auch schon un- ter den bisherigen Verhältnissen. in verantwortlicher Position gestanden hat, scheint demnach das Konzept

des von oben nach unten zu favori- sieren — wenn auch mit neuem Geist und unter neuen Vorzeichen.

Übereinstimmend ist die Kritik von DDR-Ärzten — jener, die im Lande bleiben, jener, die gegangen sind — an der Bürokratie, etwa dem ausufernden Berichtswesen, dem die Ärzte unterworfen sind: Berichte an die Partei, den Gewerkschaftsbund, den Stadtbezirksarzt, den Kreisarzt, den Bezirksarzt. Burgkhardt in ei- nem Interview mit einer DDR-Zei- tung: „Alles wurde wiedergekäut.

Das beschäftigte Bevölkerungsstäm- me mit Dingen, zu denen Kranken- häuser gar nicht da sind, das stahl Zeit, die am Krankenbett wesentlich sinnvoller investiert wäre." Selbst ZK-Mitglied Prof. Dr. Moritz Mebel, Vorsitzender der IPPNW-Sektion der DDR und einer der etablierten Gesundheitsfunktionäre, beklagt im Zentralkomitee die unerträgliche bürokratische Last. Acht leitende staatliche Instanzen gäbe es für das Gesundheitswesen.

In einem Zeitungsbericht, in dem ein ähnlich tönender Kreisarzt (Prof. Dr. Heinz Metzig) zitiert wird,

der sich für Strukturveränderungen stark macht, fragt der Reporter so- dann sich und die Leser: „Die glei- chen Menschen, die das heute mög- lich machen, haben dies doch über Jahre verhindert. Ist ihnen denn erst seit 14 Tagen ein Licht aufgegangen?

Wir müssen genau wissen, was und warum in der Vergangenheit falsch gemacht wurde."

In dem schon apostrophierten offenen Brief ist von einer Neube- stimmung der Stellung des Gesund- heitswesens, ist von leistungsgerech- ter Entlohnung die Rede, und es wird die Forderung erhoben, einen deutlich höheren Anteil des nationa- len Einkommens für das Gesund- heitswesen aufzuwenden.

Was hält man in der DDR von Vorschlägen, Ärzte aus der Bundes- republik sollten aushelfen? Solche Vorschläge häufen sich zur Zeit.

Handfeste Programme und An- schriften, an die sich interessierte Ärzte wenden könnten, gibt es heute freilich noch nicht. Der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Kar- sten Vilmar, erneuert in dem Ge- spräch mit Dr. Burgkhardt die Anre- gung, die großen Hilfsorganisationen wie etwa das Rote Kreuz könnten als Anstellungsträger fungieren und Ärzte gleichsam entsenden. In West- Berlin wird von Ärztekammer und Senat die Möglichkeit geprüft, Ost- Berliner Krankenhäuser als Wei- terbildungsstätten nach westdeut- schem/Westberliner Weiterbildungs- recht anzuerkennen. Ungeklärt ist bis heute die Bezahlung (nach Höhe und Konvertibilität), problematisch ist möglicherweise die Unterbrin- gung.

Bei ihrem Gespräch im Kölner Deutschlandfunk verfallen weder Dr. Burgkhardt noch Dr. Vilmar auf die Patentlösung. An einem aber läßt Burgkhardt keinen Zweifel:

• Die Ärzte in der DDR wollen keine Ärzte aus der Bundesrepublik, die mit einem privilegierten Status ausgestattet sind. Ärzte sind indes willkommen, wenn sie helfen wollen und wenn sie unter genau denselben Bedingungen arbeiten wollen, unter denen auch ihre Kollegen in der DDR arbeiten. So könnte man Dr.

Burgkhardt zusammenfassen. NJ A-3558 (18) Dt. Ärztebl. 86, Heft 47, 23. November 1989

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