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Archiv "Wende im DDR-Gesundheitswesen 1989/90: Vom Westen viel Neues" (08.09.2006)

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pätsommer 1989: In Scharen lief die Bevölkerung dem DDR-Regime da- von, darunter viele Angehörige der Gesundheitsberufe. Das DDR-Regime kollabierte unter dem Druck der Ausrei- sewelle. Ärzte, die blieben, suchten nach Möglichkeiten zur Verbesserung der La- ge im Gesundheitswesen. Bereits im September 1989 begannen auf Initiative von Prof. Dr. med. Harald Mau, Kinder- chirurg an der Berliner Charité, die Vor- bereitungen für die Gründung eines frei- en Ärzteverbandes, benannt nach Ru- dolf Virchow. Wesentliche Aufgaben des Ärzteverbandes sollten sein, verbesserte Arbeitsbedingungen herbeizuführen so- wie beratend und kontrollierend auf den Gesundheitsminister einzuwirken.

Ein „Bund Deutscher Ärzte, Zahn- ärzte und Apotheker“ – fast wäre be- reits vor 45 Jahren in der DDR eine auf freier Mitgliedschaft beruhende Inter- essenvertretung der Heilberufe gegrün- det worden. Nur mit weitgehenden Zu- geständnissen glaubte die DDR-Füh- rung 1961 der wachsenden Unzufrie- denheit innerhalb der Ärzteschaft und deren „Abstimmung mit den Füßen“, das heißt dem Exodus gen Westen, be- gegnen zu können. Die vom Gesund- heitsministerium entwickelten Grund- sätze und Ziele des „Bundes Deutscher Ärzte . . .“ sahen einen über Kreis- und Bezirksverbände demokratisch legiti- mierten Bundeskongress als höchstes Gremium vor. Dieser Bundeskongress sollte alle zwei Jahre zusammentreten – Ähnlichkeiten mit den Deutschen Ärz- tetagen im Westen waren wohl nicht un- beabsichtigt. Die in Aussicht gestellten Zugeständnisse an die Ärzte waren so weitgehend, dass sich diejenigen, die bis dahin tatkräftig an der Verstaatlichung des DDR-Gesundheitswesens mitge-

wirkt hatten, brüskiert fühlten, denn viele ihrer Kollegen hofften nun „auf ei- ne Restauration einer medizinischen Versorgung, wie sie im Westen üblich ist“. Diese Hoffnung währte jedoch nur kurze Zeit. Nach dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 bestand keine Veranlassung mehr für die DDR- Staatsführung, den Interessen der Ärz- teschaft mit weitreichenden Konzessio- nen entgegenzukommen. Das Projekt einer Standesorganisation der Ärzte, Zahnärzte und Apotheker wurde ge- stoppt, die Verstaatlichung in der ambu- lanten ärztlichen Versorgung weiter vorangetrieben.

Nur kurze Zeit des Möglichen

Kurz nach dem Fall der Mauer versam- melten sich am 21. November 1989 im Hörsaal der Hautklinik der Charité mehr als 500 Ärzte und beschlossen die Gründung des Rudolf-Virchow-Bundes.

In einer Resolution an den Gesund- heitsminister forderten sie, die Ursa- chen, die die Ärzte zum Verlassen des Landes bewegten, zu beseitigen. Binnen weniger Wochen signalisierten rund 8 000 Ärzte ihr Interesse an einer Mit- gliedschaft in der neuen Organisation.

Zu seiner Gründungsversammlung trat der Rudolf-Virchow-Bund am 3. Febru- ar 1990 in Berlin zusammen.

Prof. Dr. med. Ingrid Reisinger, Ärz- tin für Nuklearmedizin und Kinderheil- kunde an der Charité, die damals zur stellvertretenden Präsidentin des Vir- chow-Bundes gewählt wurde, erinnert sich: Es habe nur eine kurze Zeit des Möglichen gegeben; danach sei alles vom Westen entschieden worden. „Wir ha- ben den Transformationsprozess passiv

erlebt.“ Gemeinsam mit anderen Zeit- zeugen und Historikern setzte sich Rei- singer bei einem vom Hannah-Arendt- Institut für Totalitarismusforschung veranstalteten Workshop in Dresden mit dem Thema „Transformation des Gesundheitswesens in den neuen Bun- desländern 1990: Erfolge, Probleme, of- fene Fragen“ auseinander. Unter der Regierung von Hans Modrow habe der Virchow-Bund am „Runden Tisch Ge- sundheitssystem“ noch auf den Erhalt der Polikliniken in der ambulanten Ver- sorgung hinwirken können; unter der Übergangsregierung von Lothar de Maizière hat es Reisinger zufolge kaum noch Einwirkungsmöglichkeiten gege- ben. Es sei nicht gelungen, den Vir- chow-Bund als einen einheitlichen Ver- band auf dem Gebiet der DDR zu grün- den; alles sei „viel zu schnell“ gegangen.

Zudem hätten die Ärzteorganisationen Westdeutschlands, seien es die Körper- schaften oder freien Verbände, keiner- lei Interesse an einer neuen Organisati- on im Osten gehabt. Deren Bestreben sei es vielmehr gewesen, sich möglichst schnell auf dem Gebiet der DDR aus- zubreiten. Diese Entwicklung habe dann bereits im Verlauf des Jahres 1990 zu der Entscheidung geführt, einen Zu- sammenschluss mit dem NAV – Ver- band der niedergelassenen Ärzte Deutschlands anzustreben.

Die Macht des Faktischen

Wie Reisinger sieht auch Prof. Dr. med.

Jürgen Kleditzsch, letzter DDR-Ge- sundheitsminister vor der Wiederverei- nigung, rückblickend nur sehr begrenz- te Gestaltungsmöglichkeiten; nach dem Einigungsbeschluss hätten sich die Er- T H E M E N D E R Z E I T

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A2288 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 36⏐⏐8. September 2006

Wende im DDR-Gesundheitswesen 1989/90

Vom Westen viel Neues

Die Meinungen gehen auseinander: Für die einen ist die Wiedervereinigung eine Zeit der verpassten Chancen.

Die anderen sehen vor allem die Vorzüge des übernommenen

westdeutschen Gesundheitssystems.

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eignisse überschlagen. Qualifiziertes Personal im Ministerium gab es Kle- ditzsch zufolge kaum. „Gesetze wurden am Abend vorbereitet und am nächsten Morgen verabschiedet.“ Gleichwohl habe man bereits damals strukturelle Defizite in der Gesundheitsversorgung für ganz Deutschland vorhersehen kön- nen. Deshalb habe er im Mai 1990 auf dem 93. Deutschen Ärztetag in Würz- burg den Wunsch nach einem verän- derten Gesundheitswesen für ganz Deutschland formuliert. 1990 habe es die historisch einmalige Gelegenheit gegeben, von Anfang an und von Grund auf neue und bessere Wege zu beschrei- ten, „wenn denn Politik, Funktionäre und Lobbyisten nur gewollt hätten“, be- dauert der ehemalige DDR-Gesund- heitsminister.

Kleditzsch betonte, bei aller Rück- ständigkeit im DDR-Gesundheitswesen habe es auch positive Elemente gege- ben: so zum Beispiel die gut funktio-

nierende Verzahnung zwischen statio- närem und ambulantem Sektor, das Betriebsgesundheitssystem, die gute Versorgung von Diabetes- oder Rheu- mapatienten, das Tumorregister oder das Impfsystem. Monatelang habe man bei den Verhandlungen über den Eini- gungsvertrag um den Bestandsschutz für die Polikliniken gerungen. „Der Druck von außen, hier zu einer Eini- gung zu kommen, war enorm – der Eini- gungsprozess sollte nicht durch ,Klein- kram‘ aufgehalten werden.“ In § 311 des Einigungsvertrags wurde schließlich festgeschrieben, dass „die Niederlas- sung in freier Praxis mit dem Ziel zu för- dern ist, dass der freiberuflich tätige Arzt maßgeblicher Träger der ambulan- ten Versorgung wird“. Es gab zwar im Zuge des Einigungsprozesses vielfältige Ideen und Reformvorschläge, erinnert sich Kleditzsch. Die konnten aber nicht berücksichtigt werden. Denn nicht ver- gessen dürfe man die wirtschaftlichen

Interessen der Medizingeräte- und Pharmaindustrie. Deren Vertreter hät- ten vor der Tür gestanden, um einen neuen Markt zu erobern; am Erhalt der Polikliniken, ist sich Kleditzsch sicher,

„waren sie nicht interessiert“.

Übernahme ohne Abstriche

Nach der Wiedervereinigung ging es mit der Zahl der Polikliniken rapide bergab.

Bereits im April 1991 waren im Bei- trittsgebiet mehr Ärzte niedergelassen als in Polikliniken tätig, erläuterte Dr.

Heidi Roth während des Workshops in Dresden. Drei Jahre später seien nur noch zwei Prozent aller ambulanten ärztlichen Leistungen in Polikliniken er- bracht worden. Für die Leipziger Histo- rikerin, die sich mit den Aktenüberliefe- rungen aus dem DDR-Gesundheitsmi- nisterium befasst hat, steht fest, dass die DDR-Führung bereits vor 1989 über den kritischen Zustand des Gesund- heitswesens informiert war. Der Regie- rung unter Erich Honecker lagen im August 1989 Analysen vor, die den Rückstand in vielen Bereichen gegen- über dem Westen aufzeigten. Die Krise verschärfte sich noch, nachdem im Ver- lauf des Jahres 1989 rund 4 000 Ärzte die DDR verlassen hatten. Gesundheitsmi- nister Klaus Thielmann forderte im No- vember 1989 von Hans Modrow mehr Geld für das staatliche Gesundheitswe- sen. Die Gesundheitsversorgung berüh- re einen entscheidenden Nerv der Ge- sellschaft, schrieb Thielmann; ein Schei- tern in diesem Bereich könnte das ganze System zum Einsturz bringen.

Die Modrow-Regierung, schilderte Roth, sei noch vom Fortbestand eines staatlich dominierten Gesundheitswe- sens beim Zusammenwachsen der bei- den deutschen Staaten ausgegangen. In Verkennung der Realitäten habe sich die DDR-Führung einen wechselseiti- gen Gesundheitsreformprozess vorge- stellt, der auf ein höheres Versorgungs- niveau im vereinigten Deutschland führen sollte. Positiv bewertete Be- standteile der Gesundheitsversorgung im Osten sollten erhalten bleiben. Mit dem beschleunigten Einigungsprozess unter de Maizière konnte davon jedoch keine Rede mehr sein. Bundesarbeits- minister Norbert Blüm, lautet das Ur- T H E M E N D E R Z E I T

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A2290 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 36⏐⏐8. September 2006

DÄ:Herr Prof. Mau, Ende 1989 haben Sie maßgeblich zur Gründung des ersten frei- heitlichen Ärzteverbandes in der damaligen DDR beigetra- gen. Verstanden Sie sich als Gegner des sozialistischen Systems?

Prof. Mau:Nein. Wir wa- ren lediglich die Bevormun- dung satt. Mit der Gründung des Rudolf-Virchow-Bundes ging es uns nicht darum, dem bundesdeutschen System nachzueifern, sondern wir wollten den bestehenden Missständen innerhalb des staatlichen Gesundheitswe- sens abhelfen. Eine Kommer- zialisierung des Gesundheits- wesens oder eine Trennung des ambulanten vom statio- nären Sektor lehnten wir ab.

DÄ:Wie kam es zur Fusi- on des Virchow-Bundes mit dem NAV-Verband der nie- dergelassenen Ärzte?

Prof. Mau:Nach der Wie- dervereinigung beider deut-

scher Staaten verloren wir als Ärzteverband der DDR unse- re Existenzberechtigung. Wir brauchten einen Partner, ei- nen, mit dem wir uns zusam- mentun können, ohne uns verbiegen zu müssen. Ein rei- ner Ostverein wollten wir nicht sein.

DÄ:Und da kam der NAV mit seinem damaligen Vorsit- zenden Erwin Hirschmann ins Spiel?

Prof. Mau:Erwin Hirsch- mann und ich verstanden uns persönlich sehr gut, wir ver- folgten gemeinsame Denk- ansätze. Eine unserer größten Gemeinsamkeiten war das Thema Polikliniken. Wir wa-

ren derselben Ansicht, dass Kooperationen zwischen Ärz- ten innerhalb einer Poliklinik sinnvoller und effizienter sind als Einzelpraxen. Außerdem war keine der anderen Ärzte- organisationen im Westen zu einer gleichberechtigten Part- nerschaft bereit.

DÄ:Wie bewerten Sie die Fusion rückblickend?

Prof. Mau: Wir haben das erreicht, was unter den damaligen Bedingungen zu erreichen war. Verbands- rechtlich war unsere Fusion die einzige, die nach der Wen- de erfolgt ist. Und darauf sind wir besonders stolz.

DÄ-Fragen: Martina Merten Prof. Dr. med. Harald Mau ist Mitglied des Bundesvor- standes des NAV-Virchow- Bundes und Direktor der Klinik für Kinderchirurgie an der Charité – Humboldt- Universität zu Berlin.

Foto:Bernhard Eifrig

Nachgefragt

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teil der Historikerin, setzte sich mit der Auffassung durch, dass der westdeut- sche Sozialstaat ohne Abstriche auf die neuen Länder übertragen werden müs- se. Blüm sei ein fairer Verhandlungs- partner gewesen, betont Kleditzsch.

„Was mit ihm vereinbart wurde, zähl- te.“ Der Handlungsspielraum sei aller- dings sehr begrenzt gewesen.

Polikliniken: „Juwel der DDR“

Einzig das Beharren der Regierung de Maizière auf den Erhalt der Poliklini- ken sorgte nach Auffassung von Roth für Konfliktstoff bei den Einigungsver- handlungen. Ein erster Entwurf zum Einigungsvertrag habe im Westen, so etwa bei der Kassenärztlichen Bundes- vereinigung, für Aufregung gesorgt.

Hiernach sollten sich Polikliniken und niedergelassene Ärzte die ambulante Versorgung teilen und dort, wo es eine Poliklinik gab, sollte die Niederlassungs- freiheit beschränkt werden. Der Entwurf

wurde überarbeitet und dem niederge- lassenen Freiberufler der Vorrang bei der ambulanten Versorgung zuge- schrieben. Die Polikliniken erhielten für eine Übergangszeit Bestandsschutz, dieser galt jedoch nur für Polikliniken in der jeweils bestehenden Form. „Eine Weiterentwicklung oder ein Wechsel in der Trägerschaft in den Folgejahren war unmöglich“, kritisiert Dr. med. Thea Jordan, Ärztin in einer Berliner Polikli- nik, rückblickend.

Harsche Kritik an der Art, wie die Politik die Polikliniken in der Wende- zeit abwickelte, übt Dr. med. Bernd Köppl. Schließlich hätte ein Großteil der Bevölkerung das ambulante poli- klinische Versorgungssystem wegen seiner kooperativen und kostengünsti- gen Form „hoch geschätzt“, betont der Ärztliche Leiter des Sana Gesundheits- zentrums Berlin im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt. Wie Kleditzsch erinnert sich Köppl an „Legionen von Beratern aus den ärztlichen Körper- schaften, von Banken oder der Phar- ma- und Medizinprodukteindustrie“, die durch die Poliklinik-Praxen gezo- gen seien und versucht hätten, das westliche System anzupreisen. Mit „un- realistischen Versprechungen“ habe man Ärzte dazu animiert, sich für die eigene Niederlassung zu verschulden – was viele nach der Budgetierung der kassenärztlichen Vergütung, die der damalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer einführte, bitter bereut hätten. Vor allem ältere Kollegen seien in die freie Niederlassung gedrängt worden, ohne dass man sie über das wirtschaftliche Risiko aufgeklärt habe.

„Dabei“, kritisiert Köppl im Nachhin- ein, „hätte man sehen müssen, dass es in der DDR mit den Polikliniken ein Juwel gab.“ Er hält es für einen

„großen historischen Fehler“ der da- maligen Politikerriege, in Bausch und Bogen all das abgeschafft zu haben, was sich unter dem DDR-Sozialismus entwickelt hatte. Dieses massive Ab- wehrverhalten hat Köppls Ansicht nach dazu beigetragen, dass die übrig gebliebenen Polikliniken nach der Wende lange Zeit mit dem Makel von Auslaufmodellen behaftet blieben. Erst das Entstehen von Medizinischen Ver- sorgungszentren (MVZ) und die recht- liche Gleichstellung der noch beste-

henden Polikliniken mit den MVZ ha- be zu einer Veränderung der Sichtweise auf diese „DDR-Überbleibsel“ beige- tragen, meint Köppl.

Das Jahr 1990 als ein Jahr der verpass- ten Chancen für einen Neuanfang im Gesundheitswesen zu bezeichnen – für diese Bewertung hat Dr. med. Klaus Penndorf nichts übrig. Für ihn war ein klarer Schnitt zwingend erforderlich.

„Wir haben in einem totalitären System gelebt, von dem ich keine Elemente hät- te übernehmen wollen“, betont der ehe- malige Vorsitzende der Kassenärztli- chen Vereinigung (KV) Sachsen-Anhalt.

Entschieden wehrt sich Penndorf gegen die Sichtweise, dem Osten sei damals wi- der Willen das Westsystem „überge- stülpt“ worden, es habe sich dabei um ei- ne Form des modernen Kolonialismus gehandelt. „In den vielen Jahren, in de- nen ich aktiv mitwirkte, ist mir nicht ein- mal der Gedanke gekommen, über den Tisch gezogen zu werden.“

Penndorf: Klarer Schnitt war erforderlich

Penndorf, der seit 1957 in der DDR ärztlich tätig war, hält die Idee der Poli- kliniken zwar grundsätzlich für sinn- voll. Aber: „Die Polikliniken der DDR folgten der Kommandostruktur des ,de- mokratischen sozialistischen Zentralis- mus‘. Sie waren Zellen, denen man sich unterzuordnen hatte.“ Polikliniken als bewahrenswertes Element zu deklarie- ren hieße die Bejahung dieser Kom- mandostruktur, findet Penndorf. Beim Workshop in Dresden schildert er das Gefühl der Befreiung, das er nach dem Zusammenbruch des DDR-Regimes 1989 empfunden habe. „Ich bin auch überzeugt, dass die meisten meiner Kol- leginnen und Kollegen so empfunden haben. Die meisten Ärzte sind mit Be- geisterung in die Niederlassung gegan- gen“, unterstreicht Penndorf. Worte wie Zwang oder feindliche Übernahme – Worte, die beispielsweise Köppl mit der Wendezeit in Verbindung bringt – sind Penndorf fremd. Der Übergang der an- gestellten Ärzte aus den Polikliniken und Ambulatorien in die freie Nieder- lassung sei einem „Massenandrang“

gleichgekommen. Dieser Massenan- drang habe verwaltungstechnisch von T H E M E N D E R Z E I T

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A2292 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 36⏐⏐8. September 2006

Grafik

Ambulant tätige Ärzte in den Bundesländern Ost 31. 12. 1989

in sonstigen Einrichtungen

11 %

7 %

18 %

62 % 2 %

in Staats- praxen

in Ambulatorien in Polikliniken niedergelassen

31. 12. 1994

3 % niedergelassen

97 %

in Einrichtungen

nach § 311 SGB V Quelle:KBV

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den gerade selbst im Aufbau befindli- chen Kassenärztlichen Vereinigungen bewältigt werden müssen. In kürzester Zeit hätten die zuständigen Ausschüsse die Zulassungsvoraussetzungen für Tausende von Ärzten geschaffen.

Der Präsident des Bundesverbandes der Freien Berufe, Dr. med. Ulrich Oesingmann, war zur Wendezeit Vorsit- zender der Kassenärztlichen Bundes- vereinigung. Er erinnert sich immer noch gern an die „bewundernswerte Bereit- schaft der Ärzte im Westen, den Kolle- gen in Ostdeutschland beim Aufbau zu helfen“. Auch die Unterstützung durch die West-KVen sei sehr wichtig gewe- sen. Er selbst, betont er im Gespräch, sei damals wöchentlich in die neuen Bun- desländer gefahren, um über die Struk- turen der westdeutschen Gesundheits- versorgung zu informieren.

Oesingmann räumt zwar rückblik- kend ein, dass der Weg in die freie Nie- derlassung für viele Ärzte im Osten kein einfacher Schritt war. So hätten zum Beispiel viele massive Probleme mit der neuen Bürokratie gehabt. Auch habe der ein oder andere Arzt in den neuen Ländern bei der Niederlassung in freier Praxis falschen Versprechun- gen unseriöser Berater geglaubt und sich so über die Maßen verschuldet, so- dass man die Enttäuschung mancher auch heute noch verstehen könne. Für die schlechte Honorarentwicklung in den vergangenen Jahren sei die ärztli- che Selbstverwaltung jedoch nicht ver- antwortlich. Die Gesundheitspolitik ha- be – beginnend mit der Budgetierung unter Seehofer 1992 – eine Wende zum Schlechten genommen. Die Zuverläs- sigkeit der Bundespolitik habe zu wün- schen übrig gelassen. In Bezug auf die Honorarentwicklung wirft Oesingmann den Politikern vor, nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Insgesamt sei der da- mals eingeschlagene Weg aber der rich- tige gewesen.

Aus Sicht von Dr. med. Manfred Richter-Reichhelm gab es kaum Wider- stände der Ost-Berliner Ärzte, das west- deutsche System anzunehmen. „Der Reiz der Freiberuflichkeit war sehr groß“, so Richter-Reichhelm, der in den Jahren 1989/90 KV-Vorsitzender in Berlin war. Anders als zu DDR-Zeiten habe man Medikamente verordnen können, wie man es für notwendig er-

achtete. Die meisten Ärzte im Osten hätten die Vorteile eines liberalen Gesundheitssystems gesehen. Zweifel geäußert am Transformationsprozess hätten überwiegend „ältere Kollegen, die nicht den Mut hatten, das finanziel- le Risiko einer Freiberuflichkeit auf sich zu nehmen“. Diese hätten sich in den Regelmäßigkeiten eines staatlich organisierten Gesundheitswesens bes- ser aufgehoben gefühlt.

Vom Osten nichts Altes

Für den Präsidenten der Landesärzte- kammer Sachsen, Prof. Dr. med. Jan Schulze, ist die Entwicklung der ärztli- chen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern eine Erfolgsgeschichte, auch wenn er sich in Teilbereichen an- deres gewünscht hätte. Bereits sehr frühzeitig, am 24. Februar 1990, hätten sich die Vertreter der organisierten Ärzte Sachsens für die Gründung einer Landesärztekammer ausgesprochen.

Auch aus heutiger Sicht erscheine eine Ärztekammer zur Sicherung der ärztli- chen Berufsfreiheit unabdingbar, beton- te Schulze beim Dresdener Workshop.

Allerdings hätte er sich gewünscht, dass gute Erfahrungen und Projekte aus der DDR-Zeit in das vom Westen übernommene System eingepasst wor- den wären. So sei es 1990 nicht gelun-

gen, die Vorsorge und Betreuung chro- nischer Erkrankungen (Dispensaire- Einrichtungen) an den Großkliniken zu installieren oder die poliklinischen Strukturen gegen den Druck der Phar- ma- oder Medizintechnikindustrie in neuer Form weiterzuführen. Gleiches gelte für Tumorregister, Obduktions- recht oder Impfpflicht. Vielerorts sei es Ende 1990 in Polikliniken und Ambu- latorien zu flächendeckenden Kündi- gungen der Ärzte gekommen; dies sei rechtswidrig gewesen, da ein Bestands- schutz bis Ende 1995 vereinbart worden war. Rückblickend bedauert der sächsi- sche Kammerpräsident, dass es nach der Wende nicht möglich gewesen sei, eine einheitliche Körperschaft, das heißt eine Landesärztekammer mit an- geschlossener Verrechnungsstelle für die niedergelassenen Ärzte, zu schaf- fen; hier sei der Gegendruck aus den al- ten Bundesländern zu groß gewesen.

Martina Merten, Thomas Gerst T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 36⏐⏐8. September 2006 AA2293

Die Polikliniken als „Juwel der DDR“ oder als

„Zellen, denen man sich unterzuordnen hat- te“: Die Beurteilung könnte kaum unter- schiedlicher sein. Hier abgebildet ist die Poli- klinik West, Leipzig, im Jahr 1990.

Fotos:Mahmoud Dabdoub

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