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Kulturdialoge in der politischen Anwendung

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last einer nicht kritisch befragten Sakralord- nung, die seit mehr als tausend Jahren um die alleinige und unumschrånkte Souverånitåt Gottes (hakimijat Allah) kreist, wie sie sich in der Offenbarung des Korans gezeigt hat, der die Adaption der wichtigsten intellektuellen und rechtlichen Prinzipien der Moderne fçr die Muslime so schwer macht: Wenn Gott der Souverån ist, kann es das Volk nicht sein.

So kommt es nicht von ungefåhr, dass das fundamentalistische Kænigreich Saudi-Ara- bien bis heute keine rechte Verfassung hat, sondern der Koran und die Lehrentscheidun- gen der wahhabitischen Ulema das Gerçst des Staates bilden. Entweder Verfassung oder Koran ± so ist man versucht zu fragen. In letzter Zeit hat es den Eindruck, als habe sich, was Modernisierungsprozesse angeht, das Zentrum des Nahen Ostens aus seinem ehe- maligen Kernraum zwischen Øgypten und Syrien weiter nach Osten verschoben. Wåh- rend die traditionellen Zentren zu stagnieren scheinen, sind die kleineren arabischen Golf- staaten ± zwischen Kuwait und Oman ± in ra- scher Modernisierung begriffen. Dazu gehært auch eine Úffnung zum politischen Pluralis- mus. Gewiss wird keine der dort herrschen- den Dynastien ihre Macht grundsåtzlich in Frage stellen lassen, doch haben der Emir von Kuwait, die Herrscher der Vereinigten Arabi- schen Emirate (VAE), der Herrscher von Qatar oder der Sultan von Oman eine be- scheidene Demokratisierung angestoûen, die ausbaufåhig ist. Die Parlamente arbeiten (wieder), und Frauen erhielten das Wahlrecht.

Qatar wurde Sitz des Senders al Dschazira, der in ungewohnter Offenheit teilweise pro- vozierend pluralistische Programme in der is- lamischen Welt anbietet. Auch im Erzie- hungswesen, etwa bei der Ausbildung von Frauen, haben die Golfstaaten groûe Fort- schritte gemacht, zu deren antreibenden Kråften etwa in Qatar die Frau des Herr- schers, Scheicha Mouza, gehært.

Ûberhaupt spricht vieles dafçr, dass der is- lamische Orient eines Tages den Anschluss an die Moderne erst dann finden wird, wenn er die Frauenfrage im Sinne der allgemeinen Er- klårung der Menschenrechte, der Gleichbe- rechtigung der Geschlechter und der Emanzi- pation der Frau in einer Zivilgesellschaft ge- læst haben wird.

Naika Foroutan

Kulturdialoge in der politischen Anwendung

D

ie Frage nach der politischen Anwend- barkeit von Kulturdialogen ist allgegen- wårtig ± nicht nur innerhalb der breiten Be- vælkerung, wo es den Anschein hat, als ob Kulturdialoge nur ein Gerede von ¹Gutmen- schenª ohne politische Wirkung seien. Auch im Feuilleton schwingen sich manche Schrei- ber auf den Zug, der lauthals verkçndet, Kul- turdialog fçhre zu nichts und stehe ¹in einer langen Reihe von poli-

tischen Absichtserklå- rungen, deren einziges Ziel es ist, virtuelle De- batten zu erzeugen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, dafçr aber politisches und kulturelles Enga- gement simulierenª.1

Diese Vorwçrfe ma- chen deutlich, wie sehr

ein Groûteil der Úffentlichkeit in der Aus- schlieûlichkeit der ¹Kampf-der-Kulturen-De- batteª gefangen ist. Die Kurzsichtigkeit und mangelnde Kenntnis çber Funktion und Wir- kung des Kulturdialoges wird vollends deut- lich, wenn empært abgelehnt wird, dass dieser Dialog auf gleicher Augenhæhe und ohne Vorbedingungen erfolgen solle: ¹Wçrde je- mand vorschlagen, Kannibalen und Vegeta- rier, Brandstifter und Feuerwehrleute, Dro- gendealer und Junkies sollten in einen Dialog miteinander eintreten, wçrde man ihm zur Ernçchterung kalte Fuûbåder verordnen.ª2

Abfållige Bemerkungen wie ¹Dialog-In- dustrieª, ¹Dialogitisª, ¹Goethe-Institut-De-

Naika Foroutan

Dr. rer. pol., geb. 1971; lehrt Internationale Beziehungen an der Universität Göttingen und der FU Berlin.

Seminar für Politikwissenschaf- ten, FU Berlin, Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients, Ihnestraûe 22, 14195 Berlin.

foro@zedat.fu-berlin.de

1 Henryk M. Broder, Dialog? Nein Danke!, in:

www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,403133,00.

html (20. 5. 2006).

2 Ebd. Fçr den Leser ist logisch, dass in der Assozia- tionskette die Kannibalen, die Brandstifter und die Drogendealer natçrlich die Muslime sind.

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battenª und ¹Phrasen-Allmachtª zeigen, wie wenig der Begriff fçr die Úffentlichkeit mit seinem Anspruch, Verånderbarkeit im politi- schen Raum zu erzeugen, einhergeht. Das græûte Hindernis fçr die Akzeptanz des Kul- turdialoges ist jedoch Ungeduld. Kulturdia- log ist ein Prozess: eine Abfolge sich wieder- holender, miteinander verknçpfter Aktivitå- ten zur Erstellung von Produkten oder Leistungen. Zentral ist wie bei jedem Prozess, dass sich die Abfolge wiederholen muss, damit die Leistung oder das Produkt erstellt werden kann: mehr Sicherheit, Systemstabili- tåt, Aufbau von Integrationsmechanismen, Konfliktregulierung und Abbau von Denk- barrieren im Kulturkampf-Dogma zwischen der Mehrheits- und der Minderheitsgesell- schaft (auf nationaler Ebene) und zwischen verfeindeten Zivilisationen (auf internationa- ler Ebene).

Zusammenprall der Zivilisationen

Jede Zivilisation3hat ihren Bestand an Welt- anschauungen und Wertvorstellungen. Diese kænnen sich von einer anderen Zivilisation so sehr abgrenzen, dass es bei zwangslåufigen Kontakten zwischen den einzelnen Gruppen zu gewaltsamen Konflikten kommt. Beson- ders in Gesellschaften, die unter externem oder unter sozioækonomischem Druck ste- hen, werden Fragen der politisch-kulturellen Identitåt bedeutsam. Die Konfliktursachen werden mit zivilisatorischen Attributen un- termauert: Man spricht von ethnischen Span- nungen und von religiæsen, kulturellen, natio- nalen oder historischen Ursachen, die auf Traditionen, Kollektiverfahrungen oder Mis- sionsgedanken und anderen diffusen Krite- rien aufbauen. Sie alle basieren zusåtzlich zu der zivilisatorischen Auûenrhetorik auf klas- sischen Konfliktparametern wie territorialen, geopolitischen, soziopolitischen, machtpoliti- schen oder sozioækonomischen Motiven und læsen die ein halbes Jahrhundert dominieren-

den ideologischen Konfliktmotive ab. Signifi- kant fçr diese Konflikte der neuen Welt- ordnung ist, dass die kulturellen oder zivili- satorischen Faktoren çberbetont und als hauptsåchliche Konfliktmotivation angege- ben werden, was dem Konflikt eine antagoni- stische Werteausrichtung gibt ± dies wiede- rum erinnert an die ideologischen Auseinan- dersetzungen der vergangenen 50 Jahre. Der Unterschied besteht darin, dass sich die anta- gonistischen Konflikte der bipolaren Welt- ordnung auf zwei Konfliktgegner ± Kommu- nismus versus Kapitalismus ± reduzierten, wåhrend die neuen Konflikte zahlreiche Eth- nien, Kulturen, Religionen, Nationen, kurz:

Zivilisationen mit scheinbar hæchst diversen Konfliktmotivationen involvieren, was eine gewisse Unçberschaubarkeit mit sich bringt.

Solange ein Konflikt rationale Ursachen auf- zuweisen hat wie den Zugang zu Wasser oder Rohstoffquellen, den Kampf um Territorien oder die berechtigte Forderung nach der Vertei- lung von Gçtern und sozialen Leistungen oder nach Partizipation, kænnte ein imaginåres Schiedsgericht die Læsung des Konfliktes nach Gerechtigkeitsaspekten beschlieûen. Ist der Konflikt jedoch vælkisch, ethnisch, religiæs oder gar zivilisatorisch begrçndet, so entstehen irrationale Kråfte, die Menschen aus dem eige- nen, ¹gerechtenª Sichtfeld in eine emotionale Position hineinkatapultieren, die politisiert und dadurch besonders konfliktlastig ist. Dies ge- schieht auf der internationalen Ebene, wo ein Zivilisationskonflikt zwischen ¹dem Westenª und ¹der islamischen Weltª diagnostiziert wird.

Dies geschieht aber auch auf nationaler Ebene, wo eine immer stårkere Entfremdung zwischen muslimischen Migranten und der Mehrheitsge- sellschaft spçrbar wird, ausgedrçckt durch Fremdenhass und Diskriminierung auf der einen und Abschottung, Aggression und

¹Parallelgesellschaftenª auf der anderen Seite.

Bei Konflikten zwischen Zivilisationen låsst sich niemals eine einzelne Begrçndung als Krisenursache feststellen. Offensichtlich ist, dass jede der Zivilisationen sich selbst ge- gençber der anderen als çberlegen betrachtet.

Diese Hierarchisierung ist Kernbestandteil des zivilisatorischen Zusammenpralls. In einem solchen politischen Moment befinden wir uns spåtestens seit dem 11. September 2001. Die Forderung nach verstårkten Sicher- heitsmaûnahmen auch militårischer Natur ist in Momenten der steigenden gesellschaftli-

3Zivilisation soll hier in Anlehnung an Norbert Elias als Oberbegriff fçr historische Abgrenzungs- sowie nationale Selbstfindungsprozesse verstanden werden.

Diese Funktion çbernehmen innerhalb einer Gesell- schaft sowohl Ethnizitåt als auch Kultur, Religion und Nation. Eine Zivilisation bildet demzufolge eine Ver- wandtschaftsgruppe aus græûeren kulturellen, ethni- schen und nationalen Gruppierungen. Vgl. Norbert Elias, Zur Soziogenese der Begriffe Zivilisation und Kultur, in: ders., Ûber den Prozess der Zivilisation, Bd. 1, Frankfurt/M. 1997.

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chen Unsicherheit nachvollziehbar.4 In der æffentlichen Meinung wurde die Rhetorik der US-Regierung der ¹pråventiven Interventionª weithin akzeptiert. Auch in der Sicherheitspo- litik der Europåischen Union ist nach dem 11.

September eine erhæhte Akzeptanz fçr militå- rische Formen der Konfliktregulierung nach- weisbar.5 Die Antwort auf Terrorattacken von Islamisten wird in militårischen Gegenat- tacken gesucht. Der britische Diplomat und Mitarbeiter von Javier Solana, Robert Cooper, schreibt, der Westen lebe bereits im Postmo- dernismus, wåhrend der Groûteil der restli- chen Welt noch im Pråmodernismus, in einer vormodernisierten Welt lebe, in einem Chaos ohne Regeln und Werte. Das erfordere andere Methoden der EU: ¹When we are operating in the jungle, we must also use the laws of the jungle.ª6Gleiches wird mit Gleichem vergol- ten, vermeintlich Stårke symbolisiert und der Kulturdialog veråchtlich aus dem politischen Raum auf den Nebenschauplatz des kulturel- len Austausches verdrångt.

Der klassische Vorteil militårischer Kon- fliktregulierung liegt in der mæglichen, schnellen und vollståndigen Unterwerfung des Konfliktgegners zur Durchsetzung der ei- genen Interessen. Dies ist zumindest der An- spruch einer militårische Intervention. In der sicherheitspolitischen Debatte wird ange- fçhrt, dass im Kontinuum der Instrumenta- rien zur Friedensdurchsetzung die robustes- ten Mittel schneller und wirksamer seien. Er- fahrungswerte, etwa in Afghanistan, im Irak oder in Somalia, beweisen jedoch das Gegen- teil: Auch nach Beendigung der unmittelba- ren militårischen Aktionen sind dort die Konflikte keineswegs beendet. Der islamisti- sche Terrorismus ist ein Krieg um Werte, und dieser kann nicht militårisch ausgefochten werden. Es wird deutlich, dass interzivilisato- rische Konflikte mit militårischen Konfliktlæ- sungsformen nicht dauerhaft zu beheben sind, da der Konflikt sich, selbst nach einem

augenscheinlich errungenen Sieg, auf eine la- tente Ebene zurçckzuziehen droht und jeder- zeit als ,kollektives Trauma` wieder aktiviert werden kann.

Øhnliches gilt auch fçr die nationale Ebene: Die westlichen Industrienationen sind angreifbar und kænnen sich gegen die interna- tionalisierten Formen des Terrors nicht allein sicherheitspolitisch schçtzen, ohne dabei Grundprinzipien der liberalen Demokratie aufzugeben. Denn um einen sicherheitspoliti- schen Allroundschutz zu erringen, mçsste ein Ûberwachungsstaat etabliert werden, was einer offenen demokratischen Gesellschaft, die es zu schçtzen gilt, zuwiderlåuft. Dem- nach mçssen die Mæglichkeiten des Schutzes gegen Terrorismus in Alternativen zu einer verschårften Sicherheitspolitik gesucht wer- den. Auch fçr den Schutz der westlichen Ge- sellschaften wird der interzivilisatorischen Dialogfçhrung eine aktivere Rolle als bisher zukommen mçssen.

Kulturdialoge zur Konfliktregulierung

Kulturdialoge wirken deeskalierend, pråven- tiv und langfristig. Sie werden auf nationaler und auf internationaler Ebene gefçhrt. Ihr Ziel ist es, Gleichwertigkeit der Verhand- lungspartner im Dialog herzustellen und der diagnostizierten Hierarchisierung von Zivili- sationen entgegenzuwirken. Im jåhrlichen Bericht çber die Lage der Auslånderinnen und Auslånder in Deutschland, der von der Beauftragten der Bundesregierung fçr Migra- tion, Flçchtlinge und Integration herausgege- ben wird, ist zu lesen: ¹Der Kern ausgrenzen- der Haltungen und somit auch Basis fçr fremdenfeindliche, rassistische und antisemi- tische Einstellungen ist die Vorstellung von der ,Ungleichwertigkeit` verschiedener Men- schengruppen.ª7Empfohlen wird, an der Be- hebung dieses Missstandes zu arbeiten und frçhzeitig mit Demokratieerziehung und To- leranzfærderung zu beginnen; dies gilt als Zielkriterium des Kulturdialoges.8

4 Vgl. Bassam Tibi, Politisierung der Religion. Sicher- heitspolitik im Zeichen des islamischen Fundamenta- lismus, in: Internationale Politik, (2000) 2.

5 Vgl. Jçrgen Wagner, Die Blaupause fçr Europas Kriege der Zukunft: Das European Defence Paper, in:

IMI-Analyse 2004/038, Tçbingen 2004, auf: www.imi- online.de/2004.php3?id=1074 (13. 5. 2006).

6 Robert Cooper, The European Answer to Robert Kagan, in: Transatlantic ± Internationale Politik, (2003) 2, auf: www.weltpolitik.net/Sachgebiete/Internation- ale%20Sicherheitspolitik/GASP (10. 11. 2005).

7 Bericht çber die Lage der Auslånderinnen und Aus- lånder, hrsg. von der Beauftragten der Bundesregierung fçr Migration, Flçchtlinge und Integration, Bonn 2005, S. 261.

8 Vgl. zu den Zielen des Kulturdialoges Naika Forou- tan, Kulturdialoge zwischen dem Westen und der isla- mischen Welt. Eine Strategie zur Regulierung von Zi- vilisationskonflikten, Wiesbaden 2004.

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Es wird ein Dialog auf gleicher Augenhæhe gefordert ± aber nicht ohne Forderungen.

Vielmehr gehært die Formulierung von For- derungen zum fundamentalen Funktionskata- log von Kulturdialogen. Man spricht von Dialogen im Plural, da sie auf politischer, ge- sellschaftlich-kultureller und wirtschaftlicher Ebene gefçhrt werden. Ziel der Dialoge ist ein Wertekonsens, der fçr beide Seiten einen verbindlichen Handlungsrahmen vorgibt, etwa das Primat der Verfassung oder die Reli- gionsfreiheit. Es wird jedoch håufig unter- stellt, dass es zwischen der westlichen und der islamischen Kultur einen solchen Werte- kanon nicht geben kænne. Dabei basieren Dialog und Argumentation auf dem Zielprin- zip der konsensualen Einigung. Diese kann sich jedoch erst im Verlauf eines Streitgesprå- ches, Diskurses, Dialoges entwickeln. Vorzu- geben, welcher Konsens erreicht werden muss, damit der Dialog als erfolgreich gilt, hemmt die Konfliktparteien, sich in diesen Prozess hineinzubegeben. Dabei ist im Kul- turdialog der Weg das Ziel.

Um den Kulturdialog in der Politik als konfliktregulierendes Modell zu etablieren und um Erwartungsstabilitåt und Planungssi- cherheit zu erlangen, mçssen Mæglichkeiten zu dessen Institutionalisierung geschaffen werden. Denn ¹Institutionen haben keine raum- und zeitspezifischen Bedingungen ihres Entstehens und Wirkens, und es ist ganz natçrlich, dass sie sich nach dem Wegfall von Hemmnissen konsequent vertiefen und/oder erweitern. Je mehr die Institutionen Fuû fas- sen, desto mehr nehmen die Konflikte ab; In- stitutionen sind gleichbedeutend mit Fort- schritt und politischer Kompetenz, Institutio- nen verkærpern erkenn- und nachahmbare Modelle guter politischer Ordnung.ª9

Der interzivilisatorische Kulturdialog kann pråventiv zur Konfliktregulierung beitragen, wenn Dialogforen zwischen den Zivilisatio- nen auf internationaler und auf nationaler Ebene institutionalisiert werden. Mit der ins- titutionellen Verankerung unterschiedlicher Dialogebenen kann das Verhåltnis zwischen ehemaligen Konfliktgegnern stabilisiert wer- den und einen Entwicklungsprozess bilden, der bereits im Vorfeld Systemstærungen wahrnehmen und darauf reagieren kann.

Institutionalisierung der Kulturdialoge

Eine Institutionalisierung von Kulturdialogen findet auf mehreren Parallelebenen statt ± auf der obersten Staatsebene ebenso wie auf der Grassroots-Ebene. Um die Institutionalisie- rung weiter voranzutreiben, mçssen neben der staatlichen Ebene weitere geschaffen bzw.

vertieft werden. Jeder dieser Systemstufen kommen unterschiedliche Bedeutungen und Ziele fçr die Realisierung einer friedlichen Konfliktlæsung zu: Vorrangig sollen sie dazu beitragen, den interzivilisatorischen Kultur- dialog auf gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Ebene zu institutionalisieren.

Im Folgenden skizziere ich in Anlehnung an den Multi-Track-Ansatz10 acht Ebenen zur Institutionalisierung von Kulturdialogen.

Diese Ebenen sind keine starren Konstrukte und auch nicht konstitutiv. Sie kænnen weiter differenziert werden und sind stark vereinfa- chend. Sie sollen jedoch einen Orientierungs- rahmen fçr die Umsetzbarkeit von Kulturdia- logen bieten und dem Vorurteil entgegenwir- ken, dass Kulturdialoge nur Randdebatten kultureller Foren seien. Es soll deutlich ge- macht werden, dass Kulturdialoge, wenn sie konfliktregulierend und pråventiv wirken sollen, zeitgleich auf unterschiedlichen Ebe- nen gefçhrt und institutionalisiert werden mçssen.

Der angestrebte Dialog kann jeweils auf einer Einzelebene gefçhrt werden, die Sys- temstufen laufen jedoch auf eine Vernetzung hinaus. Es besteht keine Verpflichtung, auf allen Ebenen gleichzeitig zu kommunizieren.

Somit entsteht fçr den interzivilisatorischen Kulturdialog der positive Effekt, dass selbst bei einem Kommunikationsabbruch auf einer Ebene nicht såmtliche Kommunikationska- nåle verschlossen werden, was eine Normali- sierung der Beziehungen erleichtert. Hierbei ist die Rolle von Fçhrungspersænlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft fçr die Transformation eines interzivilisatori- schen Konfliktes ebenso wichtig wie die Rolle interner Akteure, die unmittelbar von den Konflikten betroffen sind. Diese ¹partei- lichen Insiderª mçssen aus verschiedenen

9Alexander Siedschlag, Politische Institutionalisie- rung und Konflikttransformation, Opladen 2000.

10 Vgl. Louise Diamond/John McDonald, Multi- Track Diplomacy. A System Approach to Peace, Wa- shington D.C. 1993. Die ursprçnglich neun Ebenen werden von mir zu acht zusammengefasst.

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Sektoren der Zivilgesellschaft heraus fçr die aktive Konfliktverhçtung mobilisiert wer- den.11 Dies ist der Sinn des Multi-Track- Konzeptes, welches im Folgenden auch als Mehr-Ebenen-Konzept bezeichnet werden soll. Folgende Ebenen kænnen unterschieden werden.

DerStaats- und Regierungsebene wird bei der internationalen Institutionalisierung von Kulturdialogen die Fçhrungsfunktion zuge- standen. Nur auf dieser Ebene kænnen inter- nationale Abkommen geschlossen werden.

Involviert sind politische und militårische Fçhrungspersonen als Repråsentanten der staatlichen Ebene der Konfliktparteien. Zu dieser Fçhrungsgruppe zåhlen auch suprana- tionale Institutionen wie die Vereinten Natio- nen, die EU oder die OSZE. Aber auch fçr den Kulturdialog auf nationaler Ebene ist die Staatsebene entscheidend, so z. B. bei der For- mulierung von Gesetzen zur Integration von Migranten.

Professionelle Verhandlungsfçhrung er- gånzt die Regierungsebene und verlåuft paral- lel zur offiziellen Diplomatie.12 Der Anstoû eines inoffiziellen Dialoges, der zur Aufnah- me neuer Konfliktverarbeitungskanåle fçhrt, ermæglicht es den Teilnehmern, zu einem ver- ånderten Verståndnis des Konfliktes zu gelan- gen. Dies ist çber den offiziellen Weg inter- staatlicher Diplomatie kaum mæglich. Das Problem und der Konflikt kænnen neu kon- zeptionalisiert werden, was dazu beitragen kann, die æffentliche Meinung und die politi- schen Eliten der verfeindeten Konfliktpartei- en fçr einen Neuanfang zu gewinnen.13Ins- besondere, wenn die Diplomatie auf staat- licher Ebene durch Konflikteskalation gestoppt ist, kommt dieser zweiten Ebene die Aufgabe zu, alternative Læsungskonzepte zu erarbeiten, in der Vergangenheit etwa bei den Osloer Friedensgespråchen. Diese Ebene ist fçr Kulturdialoge auf nationaler Ebene weni- ger bedeutend.

Auf der Wirtschaftsebene werden Unter- nehmen angesiedelt, die die Mæglichkeit haben, Beitråge zu einer friedlichen Læsung eines interzivilisatorischen Konfliktes zu leis- ten. Wirtschaftliche Kooperation kann eine funktionale Sachlogik bei Konfliktparteien erzeugen, die den Weg fçr den Ausbau weite- rer Beziehungen ebnen kann. Die internatio- nalebusiness communityhat in den vergange- nen Jahrzehnten weltweit an Gewicht ge- wonnen, etwa aufgrund der Rolle, die ihr beim Aufbau der Entwicklungslånder zu- kommt, denn durch die Anhebung des Wirt- schaftsstandards eines Landes mittels Investi- tionen wird mancherorts bereits ein Beitrag zur Konfliktreduzierung geleistet. Wirt- schaftsunternehmen kænnen auch konflikt- hemmend wirken, indem sie androhen, bei aufkommenden Konflikten das Land zu ver- lassen: Nicht zuletzt ist es die Wirtschafts- welt, die çber das Kapital verfçgt, welches fçr eine kçnftige Konfliktvermeidung not- wendig ist. Der Dialog findet in dem Habitus statt, der fçr die Wirtschaftswelt charakteris- tisch ist, also in Form von gemeinsamen Pro- grammen fçr private Unternehmensstrate- gien, Entwicklungszusammenarbeit oder ko- operativer Wirtschaftsberatung. Ein Groûteil der Wirtschaft profitiert von Sicherheit, Plan- barkeit und Verlåsslichkeit, was in Friedens- zeiten eher gewåhrleistet wird.14

Natçrlich gibt es auch sehr viele Wirt- schaftszweige, die von Kriegen und Konflik- ten profitieren; darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden.15 Die Wirtschaft ist jene Ebene, auf der heute die meisten Kultur- dialoge stattfinden, ohne dass diese so ge- nannt werden: Da die Wirtschaft weniger an religiæsen oder gesellschaftlichen Wertmaû- ståben orientiert ist, sondern an einem Kos- ten-Nutzen Kalkçl, gelingt ihr der verbin- dende Brçckenschlag zwischen den Kulturen leichter. Auûerdem ist innerhalb der Wirt- schaft eine Hybridisierung (Vermischung) von zivilisatorischen Elementen zu beobach- ten, wenn dies dem Unternehmen dient, etwa der Verzicht auf Schweinefleisch bei Mc-Do-

11 Vgl. Norbert Ropers, Die internen Akteure stårken!

Krisenpråvention und Konflikttransformation durch Friedensallianzen, in: Tilman Evers (Hrsg.), Ziviler Friedensdienst ± Fachleute fçr den Frieden, Opladen 2000.

12 Vgl. Joseph V. Montville, Transnationalism and the Role of Track-Two Diplomacy. Washington D.C. 1993.

13 Vgl. Harold H. Saunders, When Citizen Talk:

Nonofficial Dialogue in Relations Between Nations, Washington D.C. 1995, S. 103±111.

14Vgl. Michael E. Brown/Richard Rosecrance (Hrsg.), The Costs of Conflict: Prevention and Cure in the Global Arena. Carnegie Commission on Preven- ting Deadly Conflict, Lanham 1999.

15Zur negativen Rolle der Wirtschaft in der Welt- politik vgl. Peter Lock, Úkonomien des Krieges, in:

Joachim Betz/Stefan Brçne (Hrsg.), Neues Jahrbuch Dritte Welt: Entwicklungsfinanzierung, Opladen 2001.

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nald's-Filialen in der islamischen Welt. Auf nationaler Ebene ist eine kulturelle Annåhe- rung auf der Wirtschaftsebene ebenfalls eher vollzogen als auf anderen Ebenen: Migranten als Dæner-Laden-Besitzer oder als Kollegen bei den Ford-Werken sind eine akzeptierte Assoziationskette ± allerdings weniger in ge- hobenen Positionen.

Auf der Ebene nicht-staatlicher Bçrger- initiativen/NGOs kann ein groûer Teil der Bevælkerung in den Kulturdialog eingebun- den werden. Hier sind aktive NGO-Gruppen und Stiftungen ebenso pråsent wie bilateral ar- beitende Berufs- oder Kulturgruppen. Die Rolle dieser vierten Ebene fçr den interzivili- satorischen Dialog ist vor allem deswegen von groûer Bedeutung, da in ihr in groûem Maûe idealistisch geprågte Vorstellungen verfolgt werden. Dies ist in den ersten drei Ebenen we- niger der Fall, wo Dialog und Konfliktresolu- tion stets mit der Realisierung eigener Vorteile in Verbindung stehen (was im Falle eines posi- tivenoutcomenicht beklagt werden soll). Al- lerdings sieht sich diese vierte Ebene am håu- figsten dem Vorwurf ausgesetzt, sie sei zu einer ¹Dialog-Industrieª geworden, die letzt- lich ¹heile Weltª spiele. Zu den Aktivitåten ge- hæren Initiativen von Bçrgerinnen und Bçr- gern, die in staatlichen, wirtschaftlichen und nebenstaatlichen Aktionen das notwendige Engagement vermissen. Der dialogische An- satz bezieht sich vorrangig auf die Herstellung von Kontakten zwischen Angehærigen der antagonistischen Gruppen. Ziel ist die Wie- derherstellung einer Verståndigung und die Herstellung einer funktionalen Kooperation.

Dies geschieht z. B. durch kulturçbergreifen- de Trainingsprogramme, die Ausbildung von Fçhrungskråften, wissenschaftliche und stu- dentische Austauschprogramme, Bçrger-Aus- tauschprogramme im kulturellen Bereich oder technische Zusammenarbeit auf internationa- ler Ebene.

Bereits institutionalisierte Dialogprojekte begleiten Kulturinstitute wie das Goethe-Ins- titut Inter Nationes oder auch Stiftungen, die aktiv einen interzivilisatorischen Austausch færdern, wie das Institut fçr Auslandsbezie- hungen (ifa). Auûerdem zåhlen berufliche Vereinigungen wie der Schriftstellerverband PEN, der sich weltweit fçr bedrohte Schrift- steller einsetzt und international und interzi- vilisatorisch organisiert ist, oder bilateral ar- beitende Berufsgruppen wie die deutsch-ira-

nische Rechtsanwaltsvereinigung zu jenen zivilgesellschaftlichen Gruppen, die fçr einen Dialog der Kulturen eintreten. Der Kultur- dialog wird çber die berufliche Verbunden- heit institutionalisiert und macht deutlich, wie auf einer gemeinsamen Basis zivilisato- risch bedingte Unterschiede vermittelt und aufgebrochen werden kænnen.

Der Bereich Forschung, Erziehung und Training wird als ¹Gehirn des Systems be- schrieben und verfçgt çber das Potential, das System mit Ideen, Methoden und Konzepten zu bereichernª.16 Der weltweite wissen- schaftliche und kulturelle Austausch kann zu einer geradezu ¹historischenª Form des inter- kulturellen Dialoges gezåhlt werden. Wissen- schaftler unterschiedlichster Kulturen, Natio- nen und Zivilisationen haben an den Kænigs- hæfen in Europa und Asien zu allen Zeiten wissenschaftlichen Austausch betrieben. Wis- senschaftlich gewonnene Erkenntnisse wie die Mathematik, Astrologie oder Medizin wurden losgelæst von zivilisatorischer Zuge- hærigkeit çbernommen und zum Allgemein- gut. Andere Wissenschaftszweige wie die Philosophie oder die Theologie blieben zivili- satorisch aufgrund ihrer Werteorientiertheit eingegrenzt, beeinflussten aber auûerhalb der wissenschaftlichen Zirkel die Gesellschaften.

Dieser Ebene kommt vorrangig die Auf- gabe zu, den fçr den Kulturdialog so wichti- gen gemeinsamen Wertekanon zu skizzieren.

Weitere Mæglichkeiten, zur Institutionalisie- rung des Kulturdialoges beizutragen, sind die Veranstaltung multiethnischer Wissenschafts- foren und die Erarbeitung von Strategien fçr die Staatsebene. Auch die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien in der politischen Bil- dung, die Aufklårung und Information çber andere Zivilisationen vermitteln, oder die Fortbildung von Lehrkråften çber bilinguale Bildungsangebote zu Konflikt- und Kultur- pådagogik zåhlen zum Kulturdialog auf der fçnften Ebene. Hier ist ein interzivilisatori- scher Kulturdialog vergleichsweise leicht zu gestalten, denn es ist davon auszugehen, dass die Teilnehmer an einem solchen Diskurs be- reits zu einer vergleichsweise gebildeten Elite zåhlen, die tendenziell die Bereitschaft zur Akzeptanz unterschiedlicher Ideen mit sich

16 Olliver Wolleh, Die Teilung çberwinden. Eine Fallstudie zur Friedensbildung in Zypern, Berghof Forschungszentrum, Berlin 2002, S. 24.

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bringen. Vom Gedanken der Logik geleitet, besteht in der Wissenschaft der Vorrang der richtigen Læsung vor der eigenen Meinung.

Aus diesem Grunde kommt dem Kulturdia- log hier eine Vorreiterposition zu, die als in- tellektueller think-tank der internationalen und nationalen Entwicklung vorgreifen kænnte.

Primåres Ziel vonAktivismus und æffentli- chem Protest ist es, Institutionen, Gewohn- heiten und Gesellschaften zu veråndern. Die Teilnehmenden an æffentlichem Protest emp- finden eine moralische Verpflichtung, unge- rechte politische Verhåltnisse und Unterdrç- ckung æffentlich anzuprangern. Auf dieser Ebene gelingt es, breite Bevælkerungsgrup- pen auf Notstånde, Bedçrftigkeiten oder po- litische Missstånde der eigenen Zivilisation aufmerksam zu machen und somit æffent- lichwirksam empfundenes Unrecht zu the- matisieren. Auch die æffentliche Formulie- rung der Interessen der Konfliktgegner und die Organisation von friedensbildenden Maûnahmen zwischen den Konfliktgegnern gehært zu dieser Ebene, ebenso wie die akti- ve Beobachtung und Dokumentation eines Konfliktes, etwa die Zåhlung jedes Toten seit dem Irak-Krieg auf der Website von Iraq Body Count. Diese Aktionen haben einen stark æffentlichen und håufig kurzfristigen Charakter. Es entstehen Ad-hoc-Initiativen, die nach der Konfliktregulierung wieder ab- ebben (z. B. die Kundgebungen vor der Leip- ziger Nikolaikirche fçr die beiden im Irak verschleppten deutschen Geiseln ± bei denen auch immer wieder auf die katastrophalen Zustånde im Irak fçr die dortige Zivil- bevælkerung aufmerksam gemacht wurde).

Eine Institutionalisierung von Kulturdialogen auf dieser Ebene ist schwierig. Dennoch kænnen aus æffentlichen Protesten Strukturen hervorgehen, die sich nachhaltig auf der vierten Ebene der NGOs und Stiftungen ansiedeln lassen.

Die Religion gilt als die spirituelle Ebene des Kulturdialoges, denn die Religionen bil- den ein konstitutives Element der Wertvor- stellungen sich im Konflikt befindender Zivi- lisationen. Religionen wird ein konflikttrei- bender Charakter zugesprochen, der in Form von religiæsem Extremismus oder Fundamen- talismus fçr verhårtete Fronten sorgt. Die Ex- pansion der Religionen, sowohl des Christen- tums als auch des Islams, war historisch mit

Gewaltakten verbunden.17 Auch heute wird von Seiten islamischer Fundamentalisten eine Rechtfertigung ihrer Terrorakte durch reli- giæse Argumentation zu erlangen versucht.

Religion ist fçr viele Menschen identitåtsstif- tend. Daher fållt es in ihr Aufgabengebiet, die spirituellen Grundargumente fçr einen Kul- turdialog zu liefern, der einen Weg fçr die Suche nach gemeinsamen Werten und Nor- men innerhalb der Weltreligionen ebnet und sie von dem Vorwurf befreit, stets die maû- gebliche Ursache der Zivilisationskonflikte darzustellen.18 Unterschiedlichste religiæse Gruppierungen sind auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene an der Institutio- nalisierung von Kulturdialogen beteiligt, in Form von religiæsen Bildungsprogrammen oder auch religiæser Elitenschulung, durch weltweit organisierte Konferenzen zum inter- religiæsen Dialog und durch den æffentlichen Protest von Religionsfçhrern gegençber Ak- tionen, die interzivilisatorische Gråben ver- tiefen.

Die Medien haben einen beherrschenden Einfluss auf die æffentliche Meinung. Die Rolle der Medien bei der Schaffung und Læ- sung von Konflikten hat in den vergangenen Jahren so sehr an Bedeutung gewonnen, dass sie als eigenståndiger Akteur im internationa- len System agieren, neben den Nationalstaa- ten und dem internationalen Recht. Medien kænnen massiv zur Verstårkung von Konflik- ten beitragen. Als erschreckendster Beleg dafçr sei an das ¹Hate Radioª erinnert, wel- ches das ethnische Abschlachten zwischen Hutu und Tutsi in Ruanda anstachelte. Isla- mische Fundamentalisten benutzen die Me- dien, um Hassparolen gegençber dem Westen zu verbreiten oder Forderungen zu çbermit- teln (z. B. die Aussendung der Botschaften Osama Bin Ladens durch den Fernsehsender Aljazeera). Die spektakulåre Geiselnahme im Moskauer Theater durch eine Gruppe tschet- schenischer Terroristen im Oktober 2002 oder das blutige Geiseldrama in Beslan wurde von massiver Medienpråsenz begleitet; die Aufmerksamkeit wurde auf die desolate Si- tuation in Tschetschenien gelenkt. Auf natio-

17Vgl. Bassam Tibi, Selig sind die Betrogenen, in: Die Zeit Nr. 23/2002, in: www.zeit.de/archiv/2002/23/

200223_essay.tibi.xml (28. 2. 2006).

18Vgl. Fred Kniss/Todd David Campbell, The Effect of religious Orientation on International Relief and Development Organization, in: Journal for the Scien- tific Study of Religion, 36 (1997) 1, S. 93 ff.

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naler Ebene wurden der ¹Ehrenmordª an der tçrkischen Migrantin Hatun Sçrçcç und die Vorfålle in der Rçtli-Schule in Berlin stark medial begeleitet. National und international hat der Medienkonflikt çber die Verbreitung der Mohammed-Karikaturen das Bild von verfeindeten Zivilisationen vertieft. Es hat den Anschein, als ob es Extremisten besser gelånge, die Medien fçr den Transport ihrer Botschaften zu benutzen. Diese Position muss ihnen von den Medien genommen wer- den, indem mediale Strukturen des Kultur- dialoges aufgebaut werden. Die Rolle der Medien im Kulturdialog liegt in der Aufklå- rung der Massengesellschaft, im Abbau von Feindbildern sowie in der Sensibilisierung fçr soziales Elend.

Anwendbarkeit auf nationaler Ebene

In einem politischen Moment, der das Thema Integration als akutes Sicherheitsproblem de- finiert, kænnte ein Sofortprogramm fçr die Institutionalisierung von Kulturdialogen unter Einbindung der acht skizzierten Ebe- nen und in Anlehnung an etablierte Modelle der Konfliktregulierung in vier Phasen erfol- gen.19

Anamnese/Problemerkennung: Eine Klå- rung dessen, worum es tatsåchlich in dem be- stehenden Konflikt geht, ist zur Entmystifi- zierung des Zivilisationskonfliktes unver- zichtbar. In diese Phase gehært das Aufbrechen der ¹political correctnessª: Es mçssen såmtliche Vorwçrfe, Stereotypen, Schuldzuweisungen, Angst-, Hass- und Ra- chegefçhle formuliert und gesammelt wer- den. Diese Rolle kann von den Medien çber- nommen, aber auch von der Politik initiiert werden. Ebenso mçssten sich die Vertreterin- nen und Vertreter der Religionsgemeinschaf- ten beteiligen.

Diagnose: Die Analyse der Ursachen des Konfliktes kommt vor allem den Integrati- ons- und Migrationsforschern zu. Studien, die den Fremdenhass in Ostdeutschland auf

fast 60 Prozent taxieren, mçssen den Studien des Zentrums fçr Tçrkeistudien gegençber- gestellt werden, in denen festgestellt wird, dass die tçrkische Bevælkerung sich immer mehr von der deutschen Gesellschaft ent- fremdet und diese umso mehr ablehnt, je mehr sie soziale Zuflucht in die Moscheever- eine sucht.20Die Forschungsergebnisse mçs- sen çber die Medien an die Úffentlichkeit ge- langen. Das Amt der Integrationsbeauftrag- ten kann das Parlament mit Informationen versorgen, welches in Ausschçssen çber Ge- setzesånderungsmæglichkeiten beråt. NGOs und Institute bzw. die politischen Stiftungen mçssen ihre Forschungsdaten stårker publik machen und aktiv an die politische Ebene herantreten, auch mit Hilfe von Aktivisten.

Læsungsmæglichkeiten:Hier erfolgt eine ge- meinsame Entwicklung und Reflexion mægli- cher Konfliktregelungen. Zugrunde liegende Interessen und Rahmenbedingungen mçssen ausfçhrlich thematisiert werden. In dieser Phase werden Problemregelungsvarianten und -strategien entwickelt, die von beiden Sei- ten akzeptiert werden kænnen. Dazu ist ein in- terkultureller Brçckenschlag (cross-cultural- bridging)notwendig, der alternative Wertvor- stellungen zwischen den konkurrierenden Wertesystemen als Basis erarbeiten soll. Hier ist eine Beteiligung der meisten Ebenen ge- fragt (Regierungsebene/Wirtschaft, NGOs, Institute, Wissenschaft, Religionsvertreter, Medien). Folgende Ideen kænnten verfolgt werden.21 Affirmative Aktionen fçhren zur stårkeren Einbindung von Menschen mit Migrationshintergrund in die Úffentlichkeit als positive Identifikationsfiguren (etwa als Nachrichtensprecher, Talkshow-Moderator, Politikerin, Konfliktpådagogen in Problem- schulen). Mit der Einfçhrung einerQuotenre- gelung kænnte die strukturelle Diskriminie- rung çberwunden werden. Zwar wird meist eingeråumt, dass viele Deutsche mit Migrati- onshintergrund mittlerweile qua Ausbildung

19In Anlehnung an die Alternative Dispute Resolu- tion (ADR) der Harvard School in den sechziger Jah- ren, vgl. dazu Joseph A. Scimecca, Conflict Resolution in the United States: The Emergence of a Profession?, in: Kevin Avruch/Peter W. Black/Joseph A. Scimecca (Hrsg.), Conflict Resolution. Cross Cultural Per- spectives, London 1991, S. 19±39.

20 Vgl. die Ergebnisse der Langzeituntersuchungen des Instituts fçr interdisziplinåre Konflikt- und Ge- waltforschung (IKG) zur gruppenbezogenen Men- schenfeindlichkeit, auf www.uni-bielefeld.de/Univer- sitaet/Einrichtungen/Zentrale%20Institute/IWT/FWG /Feindseligkeit/Einfuehrung.html (28. 4. 2006), sowie Dirk Halm/Martina Sauer, Parallelgesellschaft und eth- nische Schichtung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (2006) 1±2.

21 Als Impulsgeber und engagiertem Diskussions- partner danke ich Farhad Dilmaghani.

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zur Elite gehæren. Eine tatsåchliche Einbin- dung in angemessene Positionen erfolgt je- doch kaum, denn Migranten werden noch immer nur ungern als gleichberechtigte Kon- kurrenten im Berufsleben angesehen. Nach einer ersten Phase, in der eine Sammlung der Vorurteile stattgefunden hat und æffentlich ge- macht wurde und nach einer zweiten, in der eine Analyse der Grçnde erfolgte, kænnte in einer dritten PhaseRassismus gesetzlich sank- tioniert werden. Mit dem Antidiskriminie- rungsgesetz hat die Bundesregierung (auf Umsetzungsdruck einer entsprechenden EU- Richtlinie) bereits einen Anfang gemacht, lei- der jedoch, ohne gleichzeitig auf den ersten beiden Stufen zu arbeiten, weswegen in der Úffentlichkeit die Notwendigkeit dieses Ge- setzes bisher kaum erkannt wird. Auch von Seiten der Migranten mçssenaffirmative Ak- tionen erfolgen: ein deutliches Bekenntnis zum Grundgesetz, æffentliche Distanzierung von extremistischen Handlungsmotiven, står- kere Einbindung in sicherheitspolitische Fel- der (Polizei, Armee) und in die gesellschafts- politische Ebene (Kommunal- wie Bundespo- litik). Mæglicherweise ist auch die Bildung einer politischen Partei wçnschenswert, die das Thema Integration und Abbau von Paral- lelgesellschaften im Kontext der verånderten sicherheitspolitischen Situation fçr sich be- setzt. Eine solche Partei kænnte die æffentliche Meinung fçr dieses Kernthema der Politik im 21. Jahrhundert sensibilisieren.

Therapie: Die Entscheidung fçr eine be- stimmte Form der Konfliktregelung und die Vereinbarung von Maûnahmen zu ihrer Um- setzung mçssen zwischen der Mehrheits- und der Minderheitsgesellschaft formuliert und fi- xiert werden. Der Vorwurf ¹Die reden immer nur çber uns und nichtmit unsª muss ent- kråftet werden. Auch hier sind fast alle ge- nannten Ebenen zur aktiven Umsetzung des Kulturdialoges gefragt. Es muss die Mæglich- keit bestehen, an jeder dieser Phasen gleich- zeitig zu arbeiten und nicht erst nach erfolg- reichem Abschluss einer Phase in die nåchste çberzugehen. Charakteristisch ist vor allem der zirkulåre Charakter des Kulturdialogs, der dazu fçhrt, dass die Konfliktlæsung nicht als punktuell und abgeschlossen gilt, wenn ein Konflikt beseitigt worden ist oder seinem Ausbruch vorgebeugt werden konnte. Dies hebt den Prozesscharakter der Kulturdialoge hervor. Sie mçssen als Kontinuum gefçhrt werden, nicht als akutes Konfliktlæsungszen-

trum, gleich einer Notrufzentrale, die akti- viert und in Alarmbereitschaft versetzt, da- nach aber deaktiviert wird.

Vergemeinschaftung statt Parallelgesellschaft

Der Weg, den Kulturdialoge weisen kænnen, um konfliktpråventiv zu wirken, ist ein Pro- zess in Richtung politischer ¹Vergemein- schaftungª.22 Es geht um die Vereinbarkeit von Grundwerten, um die Erweiterung von grenzçberschreitenden Kommunikationsvor- gången, umresponsiveness (die Aufgeschlos- senheit stårkerer Partner fçr die Belange schwåcherer), um die Erwartung von gemein- samen Vorteilen durch akzentuiertes Wachs- tum, um die Steigerung von Problemlæsungs- fåhigkeit durch Institutionalisierung der Ver- håltnisse, um die Definition von Kerngebieten mit Zugpferdfunktion, um die Akzeptanz von Rollenwechseln, um die Erweiterung gemein- samer Eliten statt Abkapselung und Abgren- zung, um das Erkennen der Chancen eines neuen/alternativen Lebensstils durch Heraus- bildung von politischer Gemeinschaft auf- grund von Alltagserfahrungen sowie um die Voraussagbarkeit der Motive und des Verhal- tens (Erwartungsstabilitåt und Planungssi- cherheit).

Es gilt, dem Zusammenprall der Zivilisatio- nen und der Entfremdung entgegenzuwirken.

In Zeiten, in denen die klassischen Muster der Sicherheitspolitik vor aller Augen versa- gen, in Zeiten von Terrorismus, islamischem Fundamentalismus, Fremdenhass und zerfal- lendem gesellschaftlichen Konsens sind Kul- turdialoge und Vergemeinschaftung nicht mehr schængeistige, idealistische Plaudereien von Intellektuellen, sondern aktive Sicher- heitspolitik.

22Vergemeinschaftungskonzept çbernommen von Dieter Senghaas, Frieden ± ein mehrfaches Komplex- programm, in: ders. (Hrsg.), Frieden machen, Frank- furt/M. 1997, S. 566 ff.

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