Psyche und Schmerzen des Bewegungsapparates
Umwälzende Erkenntnisse in der Behandlung funktioneller Schmerzen nach
Bagatellverletzungen und -erkrankungen Dr. med. Ingmar Schenk
Leiter Psychiatrisch- Psychologischer Dienst BGM Tagung Päffikon SZ, 28.08.2019
Inhalt
1) Das neue Verständnis vom Gehirn
2) Schmerzmittel machen Schmerz (nicht selten) 3) Stress verstärkt Schmerz
4) Schlafstörungen vermehren Schmerzen
5) Besondere berufliche Problemlagen machen Schmerzen 6) Neues Diagnosekriterium: Umgang mit Schmerz
7) Therapie: um so früher um so besser 8) Praxisempfehlung Nudging
9) Praxisempfehlung Motivational Interviewing 10)Praxisempfehlung Gewaltfreie Kommunikation
1) Das neue Verständnis vom Gehirn
● In jüngster Zeit kam es zu einem Umdenken in Hinsicht auf die Hirnfunktion:
● Das Gehirn „macht sich ein Bild von unserer Welt“
● Es entscheidet bewusst und nicht-bewusst, welche Informationen als wichtig eingestuft werden
● Auf Basis von Vorerfahrungen werden Geschehnisse und Wahrnehmungen „erwartet“
● Gefühle werden gemacht, einschliesslich Schmerzen
● Wir sind nicht hilflos unseren Gefühlen ausgeliefert
● https://www.ted.com/talks/lisa_feldman_barrett_you_aren_t_at_the_mercy_of_your_emotions_your_bra in_creates_them
● Mixed emotions in the predictive brain, Hoemann K, Gendron M, Feldman Barrett L, Curr Opin Behav Sci. 2017; 15: 51–57.
2) Schmerzmittel machen Schmerz (nicht selten)
● Längere Einnahme von Schmerzmitteln (> 6 Monate) führt in vielen Fällen zu vermehrten Schmerzen
● Nicht-Steroidale Antirheumatika wie ASS, Paracetamol und Triptane -> Medikamenten-induzierter Kopfschmerz
● Opiate -> Opiat-induzierte Hyperalgesie, Schlafstörung, Depression (Opiate)
● Analgesic efficacy of opioids in chronic pain: recent meta-analyses; Reinecke H, Weber C, LangeK, SimonM, Stein C, Sorgatz; HBrit J Pharmacology (2015) 172:324–333
3) Stress verstärkt Schmerz
● Emotionale und kognitive Bewertung, Ausgrenzungserleben, Stresserleben, Affektregulation, Unsicherheit und Angst
● haben periphere (körperferne) und zentrale (körpernahe, im Gehirn) Effekte
● haben vielfältige Wirkung auf den Körper u.a. auf den Hormonhaushalt, Immunsystem (Cortisol, proinflammatorische Cytokine) und Neurotransmitter wie Serotonin (Schmerzschwelle)
● Neurobiologie von Schmerz und Stress, G. Roth, U. T. Egle, Ärztliche Psychotherapie 2016; 11; 120- 129
4) Schlafstörungen vermehren Schmerzen
● Nächtliches Gedankenkreisen und Unruhe durch Ängste und Perfektionismus, Psychische Traumen
● Einige Schmerzmittel beeinträchtigen den Melatonin-Stoffwechsel und
● Opiate können die Atmung beeinträchtigen
häufige Schlafunterbrechungen oder Wachphasen verstärken Schmerzempfinden
● Sleep disturbances and severe stress as glial activators: key targets for treating central sensitization in chronic pain patients? Jo Niljs, Marco L. Loggia, Expert opinion on therpeutic targets, 2017 Vol. 21, No.
8, 817-826
5) Besondere berufliche Problemlagen machen Schmerzen
● Besondere berufliche Problemlagen (BBPL) - ein Begriff der deutschen Rentenversicherung
● problematische, sozialmedizinische Verläufe (einschliesslich häufige Arbeitsunfähigkeit)
● eine negative subjektive Selbstprognose
● aus sozialmedizinscher Sicht notwendige berufliche Veränderung
● Kernbestandteil der Medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation, systematisch erfasst
● Charakteristikum: Patienten mit BBPL haben in allen Rehabilitationen (neurologische,
muskuloskeletale, psychosomatische) ein schlechteres Rehaoutcome als Patienten ohne BBPL
● Mit spezifischen psychosozialen Therapien können BBPL aufgefangen werden
● http://forschung.deutsche-
rentenversicherung.de/ForschPortalWeb/ressource?key=MBOR_Management_Abschlussbericht.pdf
6) Neues Diagnosekriterium: Umgang mit Schmerz
● Eine Revolution in der Psychiatrie/ Psychosomatik:
● ICD-11 (seit 2018 international gültig) bzw. DSM 5 (seit 2014 in Amerika gültig)
somatische Belastungsstörung
● Beschäftigt der Patient sich unangemessen mit seinen Beschwerden? Andauernd? Exzessiver Zeit und Kraftaufwand? Länger oder kürzer als 6 Monate?
● Eine körperliche Diagnostik muss nicht abgewartet werden
● bereits in den ersten Krankheitsstadien kann therapeutisch Einfluss genommen werden, um Chronifizierung zu vermeiden
● «Die somatische Belastungsstörung: Stress durch Körpersymptome», von Känel, Georgi, Egli, Ackermann; Primary and Hospital Care 2016;16(10):192-195
7) Therapie: um so früher um so besser
● bei Auftreten von Beschwerden
● Mitbehandlung der psychosozialen Aspekte beim Hausarzt und beim somatischen Facharzt
● Betreuung vom ambulanten interprofessionellen bis hin zum stationären psychiatrisch/
psychosomatischen Setting
● Chronifizierung möglichst früh entgegenwirken
● https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/051-001k_S3_Funktionelle_Koerperbeschwerden_2019- 08.pdf
8) Praxisempfehlung Nudging
● Das NUDGE Konzept der amerikanischen Verhaltensökonomen Richard Thaler and Cass Sunstein funktioniert auch in der Gesundheitskommunikation und Psychotherapie
● Sichtweise beeinflussen durch Auswahl der geeigneten Fakten
● Beispielanmerkung: „...häufig verschlimmern Stress und Ärger die Schmerzen, deswegen unterstützen Psychotherapeuten in der Schmerztherapie...“
● The Role of Behavioral Economic Incentive Design ....to changing health behaviors: A meta- analysis... Haff, Mitesh & Lim (2015). American Journal of Health Promotion
9) Praxisempfehlung Motivational Interviewing
● Motivational Interviewing ist eine Technik, um eine Änderungsmotivation durch indirekte Fragen zu erzeugen
● Beispiel: „haben Sie sich schon Gedanken gemacht, wie Sie die Beschwerden verbessern könnten/
was Sie tun könnten, um weniger Beschwerden zu haben?“
● Motivationsförderung bei chronischen Schmerzpatienten, J. Rau, F. Petermann, Der Schmerz, Ausgabe 2/2008, https://www.springermedizin.de/motivationsfoerderung-bei-chronischen-
schmerzpatienten/8561354
10) Praxisempfehlung Gewaltfreie Kommunikation
● Empathie und Mitgefühl
● Vermeidung von aggressiven Begriffen und Machtverhalten
● Konfliktlösung durch Bedürfnisklärung auf allen Seiten
● https://nonviolentcommunication.com/aboutnvc/workplace_communication.htm