türkeitürkischen Sprachwissenschaft
Von Klaus Röhrborn, Gießen
1. Zur Frage der Universalität der Komposition
2. Die Praxis der Türkisehen Spraehgesellschaft bis zum Beginn der 80er Jahre und die Position von Vecihe 1 1 . ripoÖLU
3. Die Position vonTAHSiN BANor( i(':lu und die Praxis der Türkischen Spraeh¬
gesellschaft seit Mitte der 80er Jahre 4. Erstarrung und „natürliche" Fügungsenge 5. Die „Bestimmungsgruppen" als freie Wortgruppen 6. Die „unvollständige Genitiv-Gruppe" als Kompositum
1. Zur Frage der Universalität der Komposition
Eine Verbindung von mehreren freien Morphemen, die den Charakter
eines einfachen Wortes besitzt, neimt man Wortzusammensetzung oder
Kompositum.' Wenn gelegentlich von „Sprachen ohne Komposita"
gesprochen wird^, so ist das in dieser allgemeinen Form irreführend.
Wohl aber ist es denkbar, daß es Sprachen gibt, die nicht die Möglich¬
keit haben, Wurzeln oder besser Stämme zu komponieren, wie das
Sapir erwähnt.'
Man könnte auf die eine Seite Sprachen stellen, die das Kompositum
durch positive formale Besonderheiten — durch die Verwendung von
Stammformen (wie im Sanskrit), durch Akzenteinheit (wie im Deut¬
schen) oder andere Besonderheiten — charakterisieren. In diesen Fällen
sind alle Fügungen mit diesen formalen Merkmalen als Kompositum
anzusprechen, und freie Wortgruppen mit denselben Merkmalen exi¬
stieren nicht.'' Daneben mögen in diesen Sprachen noch erstarrte
Fügungen in der Form von freien Wortgruppen vorkommen, wie im
Deutschen die Bildungen des Typs „Rote Rübe". Da diese Typen unpro¬
duktiv oder von sehr geringer Produktivität sind, köimen sie eher als
idiomatische Wortgruppen gelten.
' Wir beschränken uns in dieser Studie auf die Nominalkomposition.
^ So Rohrer 223, Anm. 58 (Fehhnterpretation von Sapir).
Edward Sapir: Language. An introduction to the study of speech. New York
1921, 68.
* Für okkasionelle oder ad-hoe-BUdungen s.u. Abschrütt 6.
4«
Auf der anderen Seite wären dann Sprachen, die das Kompositum
nicht durch positive formale Besonderheiten bezeichnen. Nach einer
Reihe von älteren Autoren sind die Komposita des Französischen in for¬
maler Hinsicht mit freien Wortgruppen identisch, so daß die einheit¬
liche Gesamtbedeutung als wichtigstes Kennzeichen des Kompositums
angesehen wird.' Nach der neueren Forschung scheint aber auch im
Falle des Französischen dm-ch die Aufdeckung von Beschräidiungen in
der Verwendbarkeit bestimmter Fügungen eine Möglichkeit der forma¬
len Abgrenzung von Kompositum und freier Wortgruppe gegeben. So
hat Christian Rohrer — in Anlehnung an Martinet — das Prinzip
der „ausschließlich globalen Modifizierung" zur Bestimmung des fran¬
zösischen Kompositums entwickelt.' Ein Kompositum kann nach die¬
sem Prinzip nur als ganzes durch Attribute oder Affixe modifiziert wer¬
den.'
Damit sind die Pole, zwischen denen sich die Diskussion um das tür¬
keitürkische Nominalkompositum bewegt, auch schon bezeichnet.
Unsere Studie ist ein Versuch, das Ringen um den Begriff des türkeitür¬
kischen Kompositiuns zu verfolgen, und wir würden es als Gewinn
betrachten, wenn dadurch auch die Diskussion hierzulande angeregt
werden sollte.
2. Die Praxis der Türkischen Sprachgesellschaft bis
zum Beginn der 80er Jahre und die Position von
Vecihe Hatipoglu
Mit der türkischen Schriftreform des Jahres 1928 wurden auch neue
orthographische Regelungen nötig, und deshalb erschien noch im sel¬
ben Jahre ein „Orthographisches Wörterbuch".* Das in kurzer Zeit
erstellte Werk enthält keine Stellungnahme zur Frage der Komposition,
sondem dieses Problem machte sich erst bemerkbar, als man im Jahre
1941 eine Neuauflage vorbereitete. In der Zeitschrift der Türkischen
Sprachgesellschaft' publizierte man einen „Vorentwurf in der Form
' Für einen Abriß der Forschungsgeschiehte vgl. Rohrer, 21 ff., ferner
NicoL C. W. Spenge: Composi nominal, locution et syntagme libre. In: La lingui¬
stique. Revue internationale de linguistique g6n6rale 2 (1969), 5 ff.
« Rohrer 31 ff., 200.
' Das ist ein Aspekt der besonderen Fügungsenge des Kompositums (vgl.
dazu unten Abschrütt 4).
* Imlä lügati. Istanbul: Devlet Matbaasi 1928. (Lemmata in arabischer und
lateinischer Schrift).
' Türk düi belleteni Ser. 2, Nr. 7/8 (1941), 19-58.
Der Begriff des Nominalkompositums
einer Umfrage, der im gleichen Jahr auch als Sonderdruck verbreitet
wurde.'" Im „Vorentwurf heißt die „Grundregel" für die Bestimmung
des Kompositums (bile^ik kelime), daß „alle Wörter [eines Komposi¬
tiuns] oder wenigstens eines davon ihre eigene Bedeutung verloren
haben und die so vereinigten Wörter eine eigene und neue Bedeutung
zum Ausdruck bringen [müssen]"." Als Beispiel wird derPflanzermame ÄammeZi „Geißblatt" (eig.: „Frauenhand") angeführt, der mit einer wirk¬
lichen „Frauenhand" ja luchts mehr zu tun hat.
Das Kompositum wird also semantisch definiert, und als Komposi¬
tum sollen nur idiomatisierte Fügungen gelten. Weiügstens ein
Bestandteil eines Kompositums soll nicht in der Bedeutung vorliegen,
die er im freien Gebrauche hat, wenigstens ein Bestandteil soll durch
Verlust oder Zugewinn von semantischen Merkmalen semantisch iso¬
liert sein. Es heißt ausdrücklich, daß „[zwei] Wörter, die die Unterart
einer Gattung oder die Individuen einer Unterart ausdrücken, lücht als
zusammengesetzte Wörter gelten", wie z.B. armut agaci „Birnbaum"
oder mine gi^egi „Eisenkraut" (wörtl.: „Glasur-Blume").'^
Im „Orthographischen Führer", der daim im Jahre 1942 erschien", wird die „Grundregel" des „Vorentwurfs" nicht wörtlich zitiert, aber
man folgt doch denMaximen dieses Entwurfs: (a) Das Gros der Kompo¬
sita besteht aus Fügungen, die äußerlich wie freie Wortgruppen aus¬
sehen: einmal Komposita in der Form von „unvollständigen Genitiv-
Gruppen""', wie hammeli „Geißblatt" oder harpsonu „Kriegsende",
i§ba§t „Vorarbeiter", kafaigi „Hirnschale", zum anderen Fügungen von
der Form „Adjektiv" plus „Substantiv", wie akbaba „Aasgeier", üksöz
„Vorwort" usw. (b) Eine weitere Gruppe sind die durch leicht erkenn-
'" Yeni imlä kilavuzu üzerine bir öntasar. Ankara 1941. Wir zitieren nach dem Sonderdruck als „Vorentwurf".
" Vorentwurf 23 f: . . . kelimelerden hepsinin veya hig olmazsa birinin kendi anlammi kaybetmi§ olmasi ve böylelikle bile^en kelimelerin ayn ve yeni bir anlam göstermesidir.
Vorentwurf 22.
Die Erstauflage stand uns leider nicht zur Verfugung. Wir zitieren nach
einer späteren Auflage (Imlä kilavuzu. 5. Aufl. Ankara 1957. [Türk Dü Kurumu yayinlan. 171.]), die naeh einer Bemerkung hn Vorwort (S. Ill) ein unveränder¬
ter Nachdruck der Erstauflage ist.
''' Diese Bezeichnung ist — diachron gesehen — eigentlich unzutreffend. Wir bevorzugen den Terminus wegen seiner Klarheit, und weü er durch die europäi¬
schen Grammatiken eine gewisse Bekaimtheit erlangt hat (vgl. z.B. Petbrs
32). In türkischen Grammatiken ist der Teminus rücht geläufig, aber auch
Ergin (S. 364) bezeichnet das erste Glied dieser Verbindung als „im Genitiv ste¬
hend, aber endungslos".
bare formale Isolierung charakterisierten Fügungen: „unvollständige
Genitiv-Gruppen" ohne Personalsuffix, wie Qanakkale (Ortsname) , dil-
bilim „Sprachwissenschaft" und Sümerbank (Firmermame) , oder auch
die Verbindung eines Nomens mit einer Verbform, wie mirasyedi „Play¬
boy" usw.
Die unter (a) genarmten Fügungen sind nur durch ihre semantische
Isolierung als Komposita zu erkeimen. Sie sind zu trennen, so heißt es,
von normalen, freien Verbindungen, wie ay sonu „Monatsende", hafta
ba§i „Wochenanfang", oda igi „Zimmerinneres" oder ak sax^i „weißbär¬
tig", ilk görü^e „erstes Treffen" usw.
Man war sich offenbar klar, daß man eine sehr enge Definition des
Kompositums gewählt hatte. Deshalb findet sich schon im „Vorent¬
wurf nach dem Paragraphen 23 (über „Komposita") ein Paragraph
über „die in Termini gebrauchten Komposita"". Diese Terminus-Kom¬
posita sollen zusammengeschrieben werden, „wenn sie auf eine einzige
Bedeutung hinweisen, selbst wenn die Bedeutungen der Komponenten
nicht verloren gegangen sind oder selbst wenn [diese] Komposita in der
Form von Bestimmungs[gruppen] vorliegen"". Dieser Satz wurde wört¬
lich in den „Orthographischen Führer" von 1942 übemommen. Als Bei¬
spiele für solche Terminus-Komposita werden dort gegeben: artardamar
„Schlagader", (Offaire „Litosphäre", möZ^er „Kaloriemeter" und dilbüim
„Sprachwissenschaft"". Wie die Lemmata des „Führers" zeigen, sind aber auch dilbilgisi „Grammatik", buzdagi „Eisberg" und dergleichen
als solche Terminus-Komposita zu betrachten.
Hier liegt also ein offener Widerspmch vor, denn die „Termini" in
Form der „unvollständigen Genitiv-Gmppe", die als Kompositum gel¬
ten sollen, sind ja freien Wortgmppen, wie ay sonu „Monatsende" oder
hafta ba§i „Wochenanfang" zum Verwechseln ähnlich: In beiden Fällen
behalten die Komponenten nämlich ihre „ursprüngliche Bedeutung".
Das konnte nicht unbemerkt bleiben. In der 9. und 10. Auflage des
„Neuen orthographischen Führers" von 1977 und 1980'* werden nur die
" Vorentwurf 23: terinderde kuUandan bile^ik kelimeler.
Vorentwurf 23: . . . bir tek aTÜania dMlet ettikleri zarmn, igirideki kdirnelerin ardamlan kaybolmami^ ve yahut bile§ik kelime terkip §eklinde bulunmu^ olsa bile . . . Für die „Bestimmungsgruppen" s.u. Abscfmitt 5.
" Das Beipiel ist hier deplaziert, denn es gehört zu den formal isolierten BU- dungen, weü das Personal-SufTix fehlt.
'* YazKü 1977/1980, 36f Bis zur 7. Auflage (YazKü 1973, 50) ist das noeh
nicht so klar formuliert. Der spätere Standpunkt war aber schon präkonzipiert, da nur „Termirü" mit deutlich fühlbarer semantischer Isolierung als Beispiele gegeben werden.
Der Begriff des Nominalkompositums
„Termini" (terimler) zu den Komposita gezählt, die „die Qualität von
Komposita"" haben, was sich hier nur auf die semantische Isolierung
der Komponenten beziehen kann: buzdagi „Eisberg" ist demnach Kom¬
positum, hava haritasi „Wetterkarte" ist es nicht, firtina kufu „Sturmvo¬
gel (thalassidroma pelagica)" ist Kompositum, kaya güvercini „Felsen¬
taube" nicht usw. Das ist eine Einteilung, die nicht nachvollziehbar ist.
Defiidtion und Einteilxmg der Komposita in den beiden zitierten
„Neuen orthographischen Führern" von 1977 und 1980 entsprechen
ziemlich genau den Vorstellungen, die Vecihe Hatipoglu in einem
Aufsatz aus dem Jahre 1963/64 entwickelt.^" Komposita sind demnach
Verbindungen, die in verschiedener Weise gegenüber freien Wortgrup¬
pen isoliert sind. Sie sind entweder durch „semantisches Abgleiten"^'
(Typ hammeli „Geißblatt, ince hastalik „Tuberkulose" u. a.) oder durch
„lautliche Verschmelzung"^^ der Komponenten {Typ pazartesi „Montag"
u. a.) oder auch durch „Abgleiten der Wortklasse"^' der Komponenten
isoliert (Typ gecekondu „Notquartier" u.a.).
Hatipoglu setzt sich in diesem Zusammenhang auch ausfuhrlich mit
den „Termini" (terimler) auseinander und kommt zu dem Schluß, daß
eine Verbindung nur daim ein „Terminus" ist, wenn ein „semantisches
Abgleiten" (ardam kaymasi) zu konstatieren ist, das auch einfach eine
„Bedeutungsverengung" (ardam daralmasi) sein könne. Wie schlüpfrig
hier der Boden ist, zeigt die Junktur ay tutulmasi „Mondfinsternis"
(wörtl.: „Gefangennahme des Mondes"), die Hatipoglu in diesem
Zusammenhang als Paradebeispiel für eine freie Wortgruppe ohne
semantische Verengung anfuhrt. Ay tutidmasi ist nach Hatipoglu kein
„Terminus" und damit kein Kompositum, weil „beide Wörter in ihrer
eigentlichen Bedeutung gebraucht werden, ohne daß sie sich in der
" L.C.: bile^ik sözcük niteligi.
^° Hatipoglu 1963/64, 206ff., besonders 217. Hatipoglu knüpft ihrerseits
an ältere Schulgrammatiken an. Man vergleiche Nbcmi (344), wo hammelixmd
Kadiköy als Beispiele für Komposita gegeben werden (ohne prinzipielle Defini¬
tion des Kompositums), oder Genjan (1959, 162 ff.), der aber viel unschärfer formuliert als Hatipoglu (vgl. für Genjan u. Anm. 36). Letztlich geht Hatip- OGLUS Ansatz vielleicht auf Pauls Principien der Sprachgeschichte zurück. Nach Paul entstehen Komposita durch semantische oder syntaktische „Isolierung"
einer Verbindung oder eines Gliedes einer Verbindung, d. h. also durch Verlust
oder Zugewinn von semantischen Merkmalen oder dureh Erstarrung eines syn¬
taktischen Musters, wie in dt. „Hungersnot". Das alles natürhch auf der Folie einer idg. Sprache mit formal charakterisierten Komposita (vgl. Paul 278f.).
^' L.c: ardam kaymasi.
L.c: ses kayna§masi.
L.c.: kelime smifi kaymasi.
Bestimmungsgruppe^" verändern", und weil „auch die Bedeutung, die
durch die Bestimmungsgruppe zustande kommt, nicht verengt ist, son¬
dem bleibt, wie sie war".^' Tatsächlich hatte ay tutulmasi oder sein alt-
türkisches Äquivalent schon bei seiner Entstehung in vorislamischer
Zeit eine verengte Bedeutung, weü es gegenüber einer entsprechenden
okkasionellen freien Gmppe das zusätzliche semantische Merkmal
[durch rähu] enthält.^' Mit dem Untergang des alttürkischen Weltbil¬
des wurde dieser Sachverhalt unbekannt,^' und heute weiß der Spre¬
cher lücht mehr, wer „den Mond fängt", und die Verbindung ay tutul¬
masi ist demotiviert.
Die Türkische Sprachgesellschaft hat die soeben beschriebene Posi¬
tion, die wohl auf Hatipoglu zurückgeht, bis zu ihrer Suspendiemng
im Jahre 1983 beibehalten, und das Kompositum und die „Termini"
werden noch im „Türkischen Wörterbuch" von 1983^* in ähnlicher
Weise definiert wie in den „Neuen orthographischen Führem" von 1977
und 1980.
3. Die Position von Tahsin Banguoglu und die Praxis
der Türkischen Sprachgesellschaft seit Mitte der
80er Jahre
Die offizielle Definition des Kompositums, wie sie in den „Orthogra¬
phischen Führem" zum Ausdmck kommt, wurde nicht von allen türkei¬
türkischen Sprachwissenschaftlem akzeptiert. Namentlich Ban¬
guoglu polemisierte gegen diese „enge" Definition, nach der „zwei
Wörter verschmelzen, um ein neues Wort entstehen zu lassen, indem
sie hinsichtlich Form, Stmktur, Akzent oder Bedeutung eine Verände¬
mng erfahren"^'. Komposita von dieser Art, wie z.B. hammeli „Gei߬
blatt" (wörtl.: „Frauenhand") oder karafatma „Laufkäfer" (wörtl.:
^* Für „Bestimmungsgruppe" s.u. Abschnitt 5.
" Hatipoglu 1963/64, 220: . . . iki kelime de kendi anlaminda tamlamada
degi§meden kuüanüir ve tamlamadan fikan anlam da daralmamiq, oldugu gibi
kalmi§tir.
" Vgl. dazu Kudara/Röhrborn in: ZDMG 132 (1982), 347.
^' Im Arabischen spricht man vom „Herabsinken des Mondes" (husüf al-
qamar). Eine ältere arabische Vorstellung ist möglicherweise mit der alttürki¬
schen verwandt, aber jedenfalls heute nicht mehr virulent.
2* Vgl. TüSözl 1983, X-Xl.
^' Banguoölu 1974, 296: . . . iki kelimenin yeni bir kelime meydana getirmek üzere qekil, yapi, vurgu, veya anlamca bir degi§iklige ugrayarak kayna§maai . . .
„Schwarze Fatma") u.a., seien zwar in allen Sprachen vorhanden, das
Kompositiun sei damit aber nicht ausreichend definiert.
Nach Banguoglu ist vielmehr die semantische Verschmelzung der
beiden Komponenten zu einem neuen Begriff fiir das Kompositum kon¬
stitutiv: „Im Grunde genommen ist es angebracht, jede Bestimmungs-
gruppe'", die den Wert eines besonderen Wortes gewonnen hat, als
Kompositum zu betrachten."" Die „unvollständige Genitiv-Gruppe"
hält Banguoglu fiir besonders, aber durchaus nicht für ausschließlich
geeignet für die „Verschmelzung der Bedeutungen" (mana kaynofmasi) ,
und Komposita, die nach dem Muster der „unvollständigen Genitiv-
Gruppe" gebaut sind, rangieren nach seiner Meinung als „Gattungsbe- grifTe" (cim isimler) an vorzüglicher Stelle: di§ fircasi „Zahnbürste", orman bekgisi „Waldhüter", ba§ agnsi „Kopfschmerz", merrdeket sevgisi
„Patriotismus", istikbcd dü§üncesi „Zukunftssorgen" usw.'^ Wie man
sieht, sind das alles Beispiele, bei denen eine Bedeutungsveränderung
der Komponenten im Sirme von Hatipoglu nicht vorliegt. Eine scharfe
Grenzziehung, so meint Banguoglu, zwischen Bestimmungsgruppe
(belirtme öbegi)^^ und Kompositum sei jedoch lücht leicht, „weil die
begriffliche und formale Integration bei den Komposita stufenweise vor
sich geht"'".
Be§ir Gögü§ schließt sich in einem Aufsatz aus dem Jahre 1963 der
Auffassung von Banguoglu an. Es heißt dort sehr klar, daß Komposita
auch „Gruppen von Wörtem [sein köimen] , die ihre Bedeutung lucht
verloren und keine lautlichen Verändemngen erfahren haben, aber
einen neuen Begriff ausdrücken"Das Kompositum (bile^ik kelime)
könne man deshalb im weitesten Sinne definieren als „Wort, das aus
mehr als einem Wort entsteht und einen neuen Begriff ausdrückt"".
Der Ansatz von Banguoglu wird aber auch in einer späteren Auflage
der Grammatik von Genjan" und außerhalb der Türkei vor allem von
Für „Bestimmungsgruppe" s. u. Abschiutt 5.
" Banguoglu 1974, 296: Ashnda ayn bir lügat degeri kazanmt^ olan her
belirtme öbegini birle^ik kelime saymak yerinde olur.
" Banguoglu 1940, 67.
" Für Banguoglu sind das freie Wortgruppen (vgl. u. Abschnitt 5).
Banguoglu 1974, 295: . . . ^ünkü birleqik kelimelerde anlamca ve ^ekHce
bütünle^me (intigration) derece derecedir.
" Göötj§ 246: . . . anlamlannikaybetmemi^, sesfedegi§ikligeugramami§,fakat yeni bir anlam bildiren kelime gruplan ....
" L. c: birdenfazla kelimeden meydana gelen ve yeni bir kavram bildiren kelime.
" Gbnjan 1979, 241, 246. Gbnjan vertrat ursprünglich eher den Ansatz, den wir o. in Abschnitt 2 schUderten (vgl. o. Anm. 20).
Majzel''* und Baskakov" rezipiert, ohne daß Banguoglu dort zitiert würde.'"'
Spätestens seit 1985 macht sich auch die Türkische Sprachgesell¬
schaft Banguoglus Auffassung zu eigen. Der „Orthographische Füh¬
rer" von 1985 betrachtet als „Komposita" (birle§ik kelime) alle Verbin¬
dungen, deren kompositionelle Bedeutung offensichtlich mit der Bedeu¬
tung der Komponenten nichts mehr zu tun hat, wie im Falle von hammeli
„Geißblatt" usw., femer alle Verbindungen mit lautlichen Verändemn¬
gen in der Kompositionsfuge, wie bei pazartesi „Montag" usw., sowie
erstarrte Sätze des Typs gecekondu „Notquartier" usw. Das sind also
semantisch oder lautlich isolierte Bildungen im Sirme von Hatipoglu.
Eine eigene Rubrik „Termini" fehlt in diesem Führer, und die Junktu-
ren, die früher als zweigliedrige „Termirü" galten, werden einfach als
„Komposita" (birle^ik kelime) bezeichnet. Es heißt ausdrücklich, daß
Jedes Wort, das sich an einem Kompositum beteiligt, seine eigene alte
Bedeutung bewahren kann""'. Und das wird durch ein halbes Hundert Beispiele illustriert, fast ausschließlich „unvollständige Genitiv-Gmp- pen", wie dil bilgisi „Grammatik", und attributive Fügungen des Typs beyaz peynir „Schafskäse".
4. Erstarrung und „natürliche" Fügungsenge
Für Vecihe Hatipoglu ist das Kompositum durch „Erstarrung"
(kaliplofma) charakterisiert.''^ Nach den „Neuen orthographischen Füh¬
rem" von 1977 und 1980 „können Derivations-und Flexionssuffixe oder
auch andere Wörter nicht zwischen die Wörter treten, die ein Komposi-
" Majzel' 113. Majzel' scheint seinerseits fur Baskakov maßgebend
gewesen zu sein. Majzel' hatte durchaus Zugang zu zeitgenössischem türki¬
schen Material (vgl. z.B. Majzel' 78 et pass.).
" Vgl. Baskakov 23. Baskakov untersucht allerdings die unfreien Wort¬
gruppen lueht detailliert, da nach seiner Meinung ihre Strukturtypen mit den
Strukturtypen der freien Wortgruppen identisch sind.
Natürlich ist es möglich, daß alle Genannten auf den semantischen Ansatz der französischen Schule zurückgehen, der erstmals vielleicht von BRfiAL klar formuliert wurde (vgl. Michel Bu^al: Essai de shnaviique. Science des signifi¬
cations. 6. Aufl. Paris 1924, 160f ). Karl Brugmann, der diesen Ansatz phüo- logisch untermauert, bezieht sich in seiner Studie Über das Wesen der sogenannten
Wortzusammensetzung (wieder abgedruckt in: LiPKA/GtjNTHER 135-178) aus
dem Jahre 1900 ausdrücklich auf die Erstaullage von Bräal von 1897.
ImlKd 1985, 19: . . . birle§tirmede yer alan her kelime kendi eski ardamini saldami§ olabüir.
" Hatipoglu 1963/64, 203 et pass.
Der Begriff des Nominalkompositums
tum bilden; sie sind völlig erstarrt".'" Banguoglu selbst hat sich dazu
nicht explizit geäußert. Aber Gööv^, der den Ansatz von Banguoglu
weiterentwickelt, spricht ebenfalls von „Erstarrung" (kalipla§ma) , die
die Komposita vor freiän Wortgruppen auszeichnet."'' Die Frage nach
der Produktivität eines Bildungsmusters wird im Zusammenhang mit
den Komposita zxmächst nicht gestellt, auch nicht die Frage, ob es nicht
Wortgruppen gibt, die von Haus aus dadim;h charakterisiert sind, daß
keine Suffixe usw. zwischen die Elemente der Gruppe treten können,
die sozusagen eine „natürliche" hohe Fügungsenge"' haben.
Es ist seit langem bekannt, daß die türkeitürkischen Nominalgruppen
sich in dieser Hinsicht unterschiedlich verhalten und daß die „unvoll¬
ständige Genitiv-Gruppe" des Typs hahge kapist die Gruppe mit der
größten Fügungsenge ist. Das Prinzip der „ausschließlich globalen
Modifizierung" gUt für die „unvollständige Genitiv-Gruppe" ebenso wie
für die Nominalkomposita des Deutschen. Bildungen des Typs „Rei¬
tende ArtUlerie-Kaserne", die auch das Türkische kermf", sprechen
rücht dagegen. Wie im deutschen Beispiel die beiden ersten Elemente
(„Reitende Artillerie") eine idiomatisierte Wendung sind, so verhält es
sich auch mit den türkischen Beispielen. Auch ein Pluralsuffix am
ersten Glied ist lucht frei verwendbar: Eine schwache Produktivität
besitzen nur BUdungen mit demselben „Eigenschaftswort" als Vorder-
und Hinterglied, wie güzeller güzeli „die Allerschönste", oder gewisse
Ortsbezeichnungen, wie kahramardar duragi „Station der Helden",
andere BUdungen, wie daglar anasi „stattliche Frau", sind völlig
erstarrt."" Für die benachbarte, morphologisch reichere Genitiv-Gruppe
gUt das Prinzip der ausschließlich globalen Modifizierung nicht.
Ein weiterer Ausdruck der Fügungsenge ist die stabile Reihenfolge
der beiden Glieder der „unvollständigen Geiütiv-Gruppe", während bei
den übrigen Verbindungen von zwei Nomina eine gelegentliche Vertau-
YazKd 1977/1980, 31: Bile^ik sözcükleri olu§turan sözcüklerin aralanna yapim, gekim ekleri ya da ba^ka bir sözcük giremez; bunlar, tam bir kalipla§ma iqin- dedir.
Gööü? 245, 249, 254.
"' „Fügungsenge" verwenden wir in Aidehnung an Hansjakob Seiler: Die Prinzipien der deskriptiven und der etikettierenden Benennung. In: Hansjakob Seiler (ed.): Linguistic workshop. UL Arbeiten des Kölner Universalienprojekts.
1974. München 1975, 46f „Natürhch" ist nicht im Sinne der „Natürlichkeits¬
theorie" zu verstehen.
'" Vgl. das Beispiel gend müdür toplantilan „Versammlungen von General¬
direktoren", das bei Dede (17) angeführt wird.
Beispiele nach Necmi 344 und TüSözl 1959, 188b.
schung der Glieder durchaus vorkommt. Vor allem als Nachtrag bei
schnellem Sprechen, aber auch als poetische Lizenz ist bei der Genitiv-
Gruppe, selten auch bei der Attribut-Gruppe des Typs büyük kapi
„große Tür", inverse Wortstellxmg möglich: kapist bahgenin „des Gar¬
tens Tür" bzw. kapidan büyügünden „durch die Tür, die große". Das
gleiche gilt fiir Nominalgruppen, die durch Kasus oder Postpositionen
verbunden sind: babaya sevgi ~ sevgi babaya „Liebe ziun Vater" bzw.
babaya kar§i sevgi ~ sevgi babaya kar§i „Liebe gegenüber dem Vater".
Im Zusammenhang mit der Fügungsenge steht die hohe Informations¬
dichte in der „unvollständigen Genitiv-Gruppe". Alle Nominalgruppen
sind in gewissem Maße explikationsbedüritig, aber nur bei der „unvoll¬
ständigen Geiütiv-Gruppe" kommt es zu Mehrdeutigkeiten, wie im Bei¬
spiel anne sevgisi, das im Sinne des Genitivus subiectivus („Liebe sei¬
tens der Mutter") und im Sinne des Genitivus obiectivus („Liebe zur
Mutter") interpretiert werden kann. Beide Bedeutungen lassen sich
durch Nominalgruppen mit reicherer Morphologie eindeutig darstellen:
annenin sevgisi (Genitiv-Gruppe) „Liebe seitens der/einer Mutter" bzw.
anneye kar§i sevgi (postpositionales Attribut) „Liebe zur Mutter"."*
Hohe Fügungsenge und Informationsverdichtung sind auch für die
formal charakterisierten Komposita der germanischen Sprachen, das
heißt hier: für die nominalen Determinativkomposita, typisch. Die tür¬
keitürkische Sprachwissenschaft hat jedoch lange Zeit diesen Zusam¬
menhang nicht gesehen, sondem die „unvollständige Genitiv-Gmppe"
wurde und wird als freie Wortgmppe aufgefaßt.
5. Die „Bestimmungsgruppen" als freie Wortgruppen
Die „unvollständige Genitiv-Gmppe" wird von der traditionellen tür¬
kischen Grammatik als eine der „Bestimmungsgmppen"'" behandelt,
und dieser Begriff umfaßt die subordinierenden Wortgmppen sowie die
Gmppe: Nomen plus Postposition. Die Bestinmiungsgmppen als gan¬
zes werden als „uiteilslose Gmppen" den „Urteilsgmppen"'", d.h. den
Sätzen, gegenübergestellt. Als erste Bestimmungsgrappe werden
"* Nach Hatipoglu 1982, 18, wo sich weitere Beispiele finden. Vgl. dazu
auch Dede 72 f
Eine einheitliehe Terminologie hat sich nicht durchgesetzt: Banguoölu (1940, 75ff.; 1974, 497ff.) spricht von tayin gruplan oder belirtme öbekleri,
GöGü§ (249) von belirtme gruplan, Hatipoglu (1982, 2) von tamlamalar.
'° Banguoglu (1940, 79; 1974, 520) spricht von hüküm gruplan oder yargi
öbekleri, GöGtj§ (249) von hükümleme gruplan, Hatipoglu (1982, 2) von yargili anlatimlar.
Der Begriff des Nominalkompositums
gewöhnlich die sogenannten ^A^nfügungsgruppen" (izafetler) aufgeführt.
Die morphologisch reichere Geiütiv-Gruppe ist in Banguoglus Schul¬
grammatik von 1940 die „Anfügung I" oder die „bestimmte Anfü¬
gung"'', die morphologisch ärmere „unvollständige Genitiv-Gruppe" ist
die ,A^nfugung II" oder die „unbestimmte Anfügung"'^. Das geht auf
eine Einteilung in der arabischen Nationalgrammatik zurück, wo die
Genitiv-Verbindung als „Idäfa I" bezeichnet wird, wenn das zweite
Glied determiniert ist {bintu'l-malik „Tochter des Königs"), als „Idäfa n", wenn das zweite Glied indeterminiert bleibt {bintu malikin „Tochter eines Königs, Königstochter"). Neben der ,A^nliigung" gibt es bei Ban¬
guoglu noch 6 weitere Wortgruppen, wie ,A^ttribut-Gruppen"", „post- positionale Gruppen"'" usw.
Während bei Banguoglu, aber auch bei weiteren Autoren vor ihm
und nach ihm", nur die Genitiv-Gruppe und die „unvollständige Geni¬
tiv-Gruppe" unter einem Dach vereinigt werden, folgen andere türkei¬
türkische Grammatiken und Studien'* und dann auch Darstellungen
von nicht-türkischen Autoren" einer älteren Einteilung, indem sie noch
eine dritte Nominalgruppe als „Anliigung" bezeichnen: Stoffbezeich¬
nungen, die mit ihrem Bezugswort eine suflixlose Gruppe bilden [altm
saat „goldene Uhr").'* Die Gruppen dieses dritten Typs der Izafet haben
aber nicht den Grad von Fügungsenge, der für den zweiten Typ ( „unvoll¬
ständige Genitiv-Verbindung") charakteristisch ist." Die ältere Eintei¬
lung klassifiziert also nicht etwa nach fortschreitender Fügungsenge,
sondem nach dem Prinzip der abnehmenden morphologischen Mar¬
kiertheit: Zuerst wird die Genitiv-Gmppe behandelt (beide Glieder mar¬
kiert), dann die „unvollständige Genitiv-Gmppe" (nur das zweite Glied
" Banguoglu 1940, 75: birinci nevi izafet oder tayirdi izafet.
L.C.: ikinci nevi izafet oder tayinsiz izafet.
O.e. 76: sifat terkipleri.
'" O.e. 76: edat gruplan. Die erweiterte Fassung der Grammatik, die im Jafu-e 1974 erschien, hat auf den S. 497-519 eine leicht veränderte Form der Eintei¬
lung.
" Vgl. Necmi 338ff., Gögü§ 250, Ergin 364fr., Ediskun 122ff.
" Cevat 295 fT., Bilgegil 116fr., Genjan 1959, 116fr., Genjan 1979,
158ff., Dede Iff.
" Wied 21 f., Majzel' 24 ff.
Banguoglu (1940, 30), Eroin (363 ff.) und Ediskun (122) fassen nur die
Genitiv-Gruppe und die „unvollständige Genitiv-Gruppe" zusammen und stellen den Typ altm saat zu den Attribut-Gruppen. Bilgegil (123) bezeichnet das aus¬
drücklich als „falsch".
" Vgl. u. Anm. 69.
markiert) , und den Schluß bilden die Gruppen des Typs altm saat „gol¬
dene Uhr", die ohne jede morphologische Markierung sind. Abneh¬
mende Markiertheit geht bei der Izafet II und III nicht mit zunehmender Fügungsenge parallel.
Die „unvollständige Genitiv-Gruppe" wird in all' diesen Granunatiken
und Studien als eine freie Wortgruppe behandelt, und die
„Komposita"'" werden ausdrücklich davon unterschieden." Die beson¬
dere morphologische Fügungsenge der „unvollständigen Geiütiv-
Gruppe" findet in den beiden Grammatiken von Banguoglu keine
Erwähnung. Im GegenteU, im Zusammenhang mit der doppelten Mar¬
kiertheit der Genitiv-Gruppe heißt es in der Grammatik von 1974: Die
Genitiv-Gruppe ist „eine . . . Bestimmungsgruppe, die dem Türkischen
eigen ist und eine engere Bindung besitzt"'^.
Tatsächlich entspricht aber bei der Izafet I und II die abnehmende
Markiertheit einer größeren Fügungsenge, was in der Türkei natürlich
rücht ganz unbemerkt geblieben ist. Hinweise darauf finden sich bei
Genjan*\ besonders aber in der Grammatik von Haydab Ediskun'",
wo sich überhaupt ein Umdenken in der Bewertung der „unvollstän¬
digen Genitiv-Gruppe" andeutet.
6. Die „unvollständige Genitiv-Gruppe" als Komposi¬
tum
Während bei anderen Nominalgruppen eine größere Fügungsenge
durch „Erstarrung" zustande kommt, liegt sie bei der „unvollständigen
Genitiv-Gruppe" in der Natur der Gruppe. Europäische Autoren haben
deshalb ganz spontan eine Verbindung zwischen der „unvollständigen
Genitiv-Gruppe" und den Nominalkomposita der germanischen Spra¬
chen hergestellt. So schreibt Karl Wied in seiner „Leichtfaßlichen
Anleitung zur Erlernung der türkischen Sprache" folgendermaßen: „In
dieser Verbindung schränkt das bestimmende Wort den in dem
bestimmten Worte liegenden allgemeineren Begriff durch Angabe der Art
oder Klasse ein. Im Deutschen braucht man hier ein zusammengesetztes
'° Mürekkep kelime, birle^ik kelime, birle^ik.
" Vgl. z.B. Banguoölu 1974, 332.
Banguoglu 1974, 333: Türkceye mahsus daha stki hir baglantiya sahip . . . bir belirtme öbegi.
" Genjan 1979, 165f
" Ediskun 121.
Der Begriff des Nominalkompositums
Substantiv."*' Wie selbstverständlich verwendet auch K. Gbönbech'' den Terminus „Kompositum" für die „unvollständige Geiutiv-Gruppe".
In der Türkei vermeidet man diese Identifizierung im allgemeinen.
Ediskun kommt einer Gleichsetzung von Kompositum und „unvoll¬
ständiger Genitiv-Gruppe" sehr nahe, wenn er sagt, daß die seman¬
tische Verknüpfung zwischen den Gliedern dieser Gruppe „dauerhaft"
(sürekli) und „eng" (siki) sei: „Fast alle 'imvoUständigen Genitiv-Grup¬
pen' sind deshalb bereit, Komposita zu werden."*' Noch weiter geht
MuHARBEM Ergin: „Tatsächlich sind alle 'unvollständigen Genitiv-
Gruppen' in der Art von Komposita."**
Eine tatsächliche Gleichsetzung findet sich nur in der „Syntaktischen
und semantischen Analyse der türkischen Nominalkomposita" von
Mt:§ERREF Dede,*' und man fragt sich, ob damit nun das letzte Wort
gesprochen ist. Dede selbst ist ja idcht so ganz glücklich mit ihrer
These und möchte bestimmte Bildungen als „Pseudo-Nominalkompo-
sita" ausschließen. Steht ihre Studie rücht vielleicht unter dem Einfluß
des KompositionsbegrifTes der germanischen Sprachen, zumal sie ja
vorwiegend unter Benutzung von amerikanischer Literatur zustande
'' Wied 22 (Kursivierungen vom Autor) , älmlich auch Peters 32.
" Grönbech 101-103. Merkwürdig ist Grönbechs Bemerkung (S. 104),
die Genitiv-Gruppe sei ein besonderer Fall des J^ominalkompositums". Baska-
Kovs (6) Behauptung, Grönbech habe beide Gruppen, die Genitiv-Gruppe und
die „unvollständige Genitiv-Gruppe" als „Nominalkomposita" bezeichnet, geht aber zu weit.
Ediskun 120: Hemen hemen bütün belirtisiz isim. takimlan büe^ik kelime
olmaya hazirdirlar. Anschließend gibt Ediskun 5 Beispiele — aber wiederum nur Beispiele mit starker semantischer Isolierung der Komponenten (tahtakurusu, aslanagzi, hammeli, limonküfü, camgöbegi). Ähnlich auch auf S. 130 im Abschnitt über Komposita.
Ergin 366: Gergekten eksiz isim tamlamalar hep birle^ik isim durumundadir- lar. Die anschließend zitierten Beispiele sind ohne fühlbare semantische Isolie¬
rung der Komponenten (pencere cami, ku§ kaf esi, su yolu, masa ayagi, ta§pargasi, koyun eti).
" Dede 5 et pass. Wie vom Titel her nicht zu vermuten, untersucht Dede in dieser Studie auch die Gruppen des Typs alttn saat „goldene Uhr" (vgl. o. Ab¬
schn. 5), die sie ebenfalls als eine Art Kompositum (attributive compound)
betrachtet. FreUich bemerkt sie auf S. 187, daß „the attributive compounds are more like adjective-noun phrases". Tatsächlich besitzen diese Verbindungen nicht die strenge Fügungsenge wie die „unvollständige Genitiv-Gruppe". Nicht nur der „unbestimmte Artikel" bir, sondern auch andere Modifikatoren können
zwischen die beiden Gheder treten, was Dede nieht erwähnt (vgl. demir uzun
karyola „eisernes, langes Bettgestell", ipek beyaz bayrak „seidene, weiße Stan¬
darte" [Beispiele nach Majzel' 71]).
gekommen ist?'" Wie steht es mit den „unechten Postpositionen" und
mit bestimmten eingelagerten Sätzen, die ja auch wie „unvollständige
Genitiv-Gruppen" konstruiert sein köimen?
Wenn in der „unvollständigen Genitiv-Gruppe" eine Fügung von zwei
freien Morphemen vorliegt, die stets nur die „ausschließlich globale
Modifizierung" zuläßt, und wenn man deshalb die „unvollständige Geni¬
tiv-Gruppe" als Nominalkompositum bezeichnen wül, dann sollte man
auch die Fügungen dazu rechnen, die sich auf eine einmalige und zufal¬
lige Referentenkonstellation beziehen.
Nach Dede sollen nur lexikalisierte oder wenigstens lexikonfähige
Bildungen als „echte Nominalkomposita" {„true"-nominal compound)
gelten: Nach dem Muster der syntaktischen Beziehungen in bereits lexi¬
kalisierten Bildungen können jederzeit neue lexikonfahige Bildungen
entstehen. Bedingung ist für Dede, daß die Beziehung zwischen den
Komponenten „dauerhaft, wesentlich und natürlich" ist, wie in den Bei¬
spielen kadm §apkasi „Damenhut", §arap bardagi „Weinglas", anne sütü
„Muttermilch", oder aber „habituell", wie im Beispiel ev elbisesi „Haus¬
kleidung", gebraucht für irgendeine Bekleidung, die der Sprecher
gewöhnlich zu Hause trägt." Ausgeschlossen sollen dagegen Bildungen
sein, in denen nur eine temporäre Beziehung zwischen den Gliedern vor¬
liegt, wie in den Beispielen pilav tenceresi „Kochtopf mit Pilav" , baklava tepsisi „Tablett mit Baklava", süt parasi „Geld für Milch" usw.'^ Das
sind naeh Dede „Pseudo-Nominalkomposita" („pseudo"-noininal com¬
pound) .
Neuere Forschungen im Bereich des Deutschen haben diese Abgren¬
zung in Frage gestellt. Wichtig ist offenbar die Intention des Sprechers,
und er kann prinzipiell jede Beziehung zwischen zwei Nomina als so
„wesentlich" empfinden, daß er ein Kompositum bildet." Das dürfte im
Türkischen nicht anders sein, und im übrigen bemerkt auch Dede, daß
eine saubere Trennung von lexikalisierten und lexikonfähigen Bildun¬
gen auf der einen Seite und ad-hoc-Bildungen auf der anderen Seite
nicht möglich ist.'" Eine solche Scheidung würde also die Abgrenzungs-
Die französische, deutsehe und russische Fachliteratur stand der Autorin nicht zur Verfügung. Allein die Studie von Majzel' taucht im Literatur-Ver¬
zeichnis auf, wird aber überhaupt nicht diskutiert.
" Dede 122.
" Dede 113, 118.
Vgl. H. Günther: N + N: Untersuchungen zur Produktivität eines deutschen
Wortbildungstyps. In: Lipka/Günther 258-280, bes. 277 f
Dede 113, 121 f
Der Begriff des Nominalkompositums
probleme der semantischen Definitionen des Kompositums durch die
Hintertür wieder hereinlassen.
Die Verwendung der „unvollständigen Genitiv-Gruppe" in Verbin¬
dung mit den „unechten Postpositionen" scheint weniger problema¬
tisch. LexikalisierungsVorgänge sind sprachspezifisch, und es ist lücht
vorhersagbar, welche außersprachlichen Referenten eine Sprache für
benennenswert hält. Bildungen wie „Hausiimeres" sind dem Sprecher
des Deutschen durchaus geläufig, und er wird sich daher über eine Bil¬
dung wie cami önü „Moschee-Vorplatz" lücht wundem. Man wird prüfen
müssen, ob sich Kriterien finden lassen, die Verwendung dieser Form
mit Kasus-Suffixen {cami önünde usw.) auszuschließen. Cami münde
steht in Opposition zu einer entsprechenden Geiütiv-Gmppe caminin
önünde, wie es bei den gewöhiüichen „unvollständigen Genitiv-Gmp-
pen" auch der Fall ist. Eiiüge Bildungen von dieser Art wird man sicher
ausgrenzen können, wie etwa die Junkturen mit hakkmda „hinsichtlich,
über". Nicht nur, weil semantisch kaum eine Beziehung zwischen
hakkmda und dem freien Nomen hak „Recht" besteht. Auch die
Fügungsenge wird in dieser Verbindung aufgegeben. Das Bezugswort
karm separat modifiziert werden imd Attribute und die Plural-Endung
annehmen, wie im Beispiel: son hadiseler hakkmda „über die letzten
Ereigiüsse". Es gibt offenbar keine Eirügkeit darüber, ob vor hakkmda
auch ein Genitiv stehen kann.'' Eine semantische Opposition ist jeden¬
falls mit der Setzung oder Fortlassung des Genitiv-Suffixes nicht ver¬
bunden.
Gewisse eingelagerte Sätze, die Dede als „nomial compound forms"
bezeichnet", unterscheiden sich doch sehr von den gewöhnlichen
„unvollständigen Genitiv-Gmppen", und vielleicht wäre hier das Eti¬
kett „Pseudo-Nominalkompositum" angebracht. Auch solche Sätze ste¬
hen meist" in Opposition zu einer entsprechenden Genitiv-Gmppe.'*
Aber es fehlt diesen Gebilden die strenge Fügungsenge, und das erste
Glied kann Attribute annehmen, die das zweite Glied nicht affizieren."
'^ Herbert Jansky: Lehrbuch der türkischen Sprache. 3. Aufl. Wiesbaden
1955, 118, betont ausdrücklieh, daß kein Geiutiv vor hak möglich sei. Dede (5) zitiert dagegen die Gerütiv-Gruppe: kizm hakkmda „über das Mädchen".
" Dede 164 ff., mit dem Beispiel (S. 169): bir ögrenci araruitgmi duydum „ich hörte, daß [irgend]ein Student gesucht wird".
" Für Ausnahmen s. Dede 172 f.
'* Vgl. Dede 169: bir ögrencinin aravdigim duydum „ich hörte, daß ein
[bestimmter] Student gesucht wird".
" So könnte man das in Amn. 76 gegebene Beispiel erweitem: bir ba^anli ögrenci arandigini duydum „ich hörte, daß ein erfolgreicher Student gesucht wird".
5 ZDMG 140/1
Die Probleme, die die türkische Sprachwissenschaft mit der „unvoll¬
ständigen Geiütiv-Gruppe" hat, mögen auch damit zusammenhängen,
daß die semantische Opposition dieser Gruppe zur Genitiv-Gruppe sich
erst im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat, und daß die „unvollstän¬
dige Genitiv-Gruppe" erst in neuerer Zeit die Produktivität erreicht hat,
die sie heute auszeichnet. Wir halten es aber für sicher, daß sich Dedes
Begriff des türkeitürkischen Nominalkompositums mit einigen Modifi¬
kationen durchsetzen wird.
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YazKd 1980 = Yeni yazim kilavuzu. 10. Aufl. Ankara 1980. (Türk DU Kurumu
yayuüan. 309.)
6«
Bundesrepublik Deutschland
Von Orhan GÖK9E, Berlin
1. Vorbemerkung
In diesem Beitrag versuchen wir an konkretem Textmateiial, die Ein¬
flüsse der deutschen Sprache auf die muttersprachliche Kompetenz der
Türken in der Bundesrepublik Deutschland zu untersuchen. Die For¬
schung zu dem hier angesprochenen speziellen Bereich befindet sich
noch am Anfang, während für die Sprachkontakt- und Mehrsprachig-
keitsforschung schon eine stattliche Zahl von Untersuchungen
vorliegt'. Ist die Beeinflussung sekundär erworbener Deutschkermt-
nisse dm-ch die türkischen Muttersprachler bereits mehrfach behandelt
worden^ so dauerte es ziemlich lange, bis die Linguistik auf Verände¬
rungen in der muttersprachlichen Kompetenz bei Türken, die sich län¬
gere Zeit im deutschen Sprachraum aufhielten, aufmerksam wurde^.
Für den Versuch, die besondere Form des Türldschen der Türken im
deutschen Sprachraum (fortan: Deutschland-Türldsch) zu beschreiben,
ist das Pidgin-ModeU" ungeeignet; denn es handelt sich beim Deutsch¬
land-Türkisch lücht um pidginisiertes Türkisch. Sowohl die fiir Pidgins
konstituierenden Merkmale, als auch die sozialen Bedingungen, unter
denen die traditionellen Pidgins in den Koloiüalländem entstanden
sind, sind nicht gegeben. Das Deutschland-Türkische erfüllt aufs ganze
gesehen die Standardnormen des Türkei-Türkischen, weist jedoch eine
Reihe von Sonderregeln auf, die teils auf Einflüsse des Deutschen, teils
auf D efizite der Kompetenz in der Muttersprache zurückgeführt werden
' Vgl. Caudmont 1982; Juhäsz 1970; Raith 1986; Tesch 1978; Wein¬
reich 1976.
^ Vgl. Keim 1984; Liebe-Harkort 1976; Meyer-Ingwersen 1975;
Meyer-Inqwebsen, u.a. 1977; Redder 1985; Rückert 1985; Schwenk
1987; Yakut 1981.
' Seit den frühen 80er Jahren gibt es einige nicht immer tiefgehende Unter¬
suchungen (vgl. Tekinay 1982). Die erste wissenschaftliche Behandlung des
Themas stammt m.W. von Johanson (vgl. dazu GöKfE 1986).
" Vgl. hierzu HDP 1975; Clyne 1968; Whinnom 1971.