Deutsches Ärzteblatt
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17. September 2010 A 1753Das Leser-Forum
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REH ABILIT ATION
Obwohl die Bedeu- tung der Rehabilita- tion wächst, führen die Rehaeinrichtun- gen im Gesundheits- wesen noch immer ein Inseldasein (DÄ 25/2010: „Medizinische Rehabilitation:
Bessere Vernetzung notwendig“ von Al- fred Wirth, Gernot Klein und Hans-Joa- chim Lepthin).
Rehaforschung besser als ihr Ruf
. . . Die Autoren konstatieren ein aus ihrer Sicht nach wie vor bestehen- des schwaches Niveau der Rehabili- tationsforschung, obwohl es doch eine substanzielle Forschungsförde- rung gegeben habe. Begründet wird diese Einschätzung mit dem angeb- lichen Fehlen hochrangiger Publi- kationen und dem Mangel an kon- trollierten randomisierten Studien- ansätzen.
Die Autoren hätten es besser wissen können: Eine Recherche über PubMed hätte ihnen zeigen können, dass es in Deutschland inzwischen durchaus Rehabilitationsforscher gibt, die in renommierten nationa- len wie internationalen rehabilitati- onsbezogenen Fachzeitschriften (mit substanziellen Impact-Fakto- ren) publizieren . . . Das rehabilitati- onswissenschaftliche Forschungs- programm (1998–2006, Finanzie- rung durch das Bundesministerium für Forschung und die Deutsche Rentenversicherung), stand aller- dings nicht unter der primären Ziel- perspektive hochrangiger interna- tionaler Publikationen. Es sollte vielmehr – entsprechend der Aus- schreibung – zur Generierung von
für die rehabilitative Versorgung re- levanten und transferierbaren Wis- sen beitragen und das methodische Niveau der Rehabilitationsfor- schung weiterentwickeln. Gleich- zeitig zielte es auf die strukturelle Verbesserung der Voraussetzungen der Rehabilitationsforschung in Deutschland ab. Mit Letzterem war insbesondere die Implementierung der Rehabilitationsforschung an den Universitäten gemeint. Ob die in den zahlreichen öffentlich zugängli- chen Forschungsberichten dargeleg- ten Forschungsergebnisse die Ver- sorgungspraxis in der Rehabilitation substanziell verbessern werden, bleibt abzuwarten. Zumindest in Teilbereichen lässt sich diese Frage mit einem klaren Ja beantworten.
Bezüglich der Entwicklung der For- schungsmethodik zeigt ein Ver- gleich zwischen den Projekten der Förderphase 1 mit denen der För- derphase 2 bezüglich relevanter me- thodischer Gütekriterien . . . beein- druckende Qualitätsverbesserungen.
Die Aussage, die Rehabilitations- forschung werde vorrangig von So- zialwissenschaftlern ohne Kontakt zu Rehabilitanden und Ärzten au- ßerhalb der Rehabilitation betrie- ben, ist definitiv falsch. Vielmehr war es ein wesentliches konstituie- rendes Merkmal des rehabilitations- wissenschaftlichen Forschungspro- gramms, dass sich in den eingerich-
teten acht Forschungsverbünden universitäre Forschungseinrichtun- gen mit Rehabilitationseinrichtun- gen und Rehabilitationsträgern zu- sammenschlossen . . . Die anklin- gende Vorstellung, man könne diese Forschung unidisziplinär durch Re- habilitationskliniker realisieren, ist rückwärts gewandt und war in der Vergangenheit wenig erfolgver - sprechend.
Dass sich die Rehabilitationsfor- schung inzwischen an circa zehn Universitätskliniken wissenschaft- lich etablieren konnte (und meist durch Professuren), ist ein wichti- ger Struktureffekt des rehabilitati- onswissenschaftlichen Forschungs- programms . . .
Dass noch ein langer Weg in der Rehabilitationsforschung bis zur Exzellenz zu gehen ist, ist gar keine Frage. Aber dabei müssen alle an der Rehabilitation Interessierten mithelfen und einen langen Atem haben . . .
Prof. Dr. Dr. Uwe Koch-Gromus, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissen- schaften (DGRW), Dekan der Medizinischen Fakul- tät, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, 20246 Hamburg
Mit Arbeitswelt vernetzen
Die Autoren beklagen einerseits die zu geringe Vernetzung von Reha- einrichtungen, blenden jedoch in ih- rem Artikel die Beziehungen der O
t t d g w e 25/2010: Medizinis
Die Redaktion veröffentlicht keine ihr anonym zugehenden Zuschriften, auch keine Briefe mit fingierten Adressen. Alle Leserbriefe werden vielmehr mit vollem Namen und Ortsangabe gebracht. Nur in besonderen Fällen können Briefe ohne Namensnennung publiziert werden – aber nur dann, wenn der Redaktion be-
kannt ist, wer geschrieben hat. DÄ
ANONYM
B R I E F E
A 1754 Deutsches Ärzteblatt
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17. September 2010 medizinischen Reha zur Arbeitsweltvollständig aus. Medizinische Reha könnte entscheidende Beiträge zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit älterer Erwerbstätiger leisten. Hier- zu bedarf es aber einer Bereitschaft der Rehaeinrichtungen, sich mit der Arbeitswelt ihrer Patienten konkret auseinanderzusetzen, sie in der er- folgreichen Bewältigung von An- forderungen gezielt zu trainieren und Betriebsärzte als Partner einzu- binden. Bei der Deutschen Bahn ist schon heute jeder zweite Mitarbei- ter über 50 Jahre alt. Es wird große und wachsende gemeinsame An- strengungen von Beschäftigten, Ar- beitgebern und Sozialversicherungen kosten, die Mitarbeiter trotz ihrer vielfältigen chronischen Erkrankun- gen und Behinderungen möglichst bis zur Altersgrenze wert- und sinn- stiftend im Erwerbsleben zu halten.
Schade, dass die Autoren diese not- wendige und erst in zarten Ansätzen bestehende Vernetzung von medizi- nischen Rehaeinrichtungen und Arbeitswelt in ihrem Artikel kom- plett weggelassen haben.
Dr. Christian Gravert, Leitender Arzt der Deutschen Bahn AG, 10785 Berlin
Eine Fülle guter Studien
Es ist schade, wenn selbst erfahre- ne Chefärzte aus Rehakliniken die Fortschritte der Rehaforschung nicht zur Kenntnis nehmen und das beklagte Imageproblem der Reha- bilitation auf diese Weise selbst perpetuieren. Im Förderschwer- punkt „Rehabilitationswissen- schaften“, den die Rentenversiche- rung gemeinsam mit dem Bundes- forschungsministerium durchge- führt hat, entstand eine Fülle von Studien, welche die Wirksamkeit der Rehabilitation und ihrer Kom- ponenten oft eindrucksvoll belegt haben . . .
Das hohe forschungsmethodische Niveau, das die Rehaforschung in- zwischen erreicht hat, lässt sich un- ter anderem auch an der großen Zahl von erfolgreichen Projektan- trägen ablesen, die im Rahmen neu- er Förderinitiativen zum Beispiel zur Versorgungsforschung gestellt werden. Das hat auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft erkannt,
die inzwischen Offenheit für Reha- und Versorgungsforschung signali- siert.
Die Ergebnisse der Rehaforschung aus Deutschland stimmen oft mit Erkenntnissen aus internationalen Studien überein. Da, wo solche Er- kenntnisse fehlen oder kaum auf andere Länder übertragbar sind, wie zum Beispiel in der psycho soma - tisch-psychotherapeutischen Reha- bilitation, unterstreichen deutsche Forschungsergebnisse die Wirksam- keit der Rehabilitation – ablesbar an den Schlussfolgerungen einer um- fangreichen Metaanalyse zu diesem Forschungsfeld.
Auch die Entwicklung der Reha- therapiestandards dient der Stär- kung der Evidenzbasierung in der medizinischen Rehabilitation . . . Die Rehatherapiestandards unter- scheiden sich von Leitlinien der Fachgesellschaften insbesondere durch ihre Perspektive. Betrachtet wird nicht der einzelne Patient mit einer individuellen Problemkonstel- lation, sondern die Gesamtheit aller Rehabilitand(inn)en einer Indikati- on in einer Rehaeinrichtung. In der empirischen Überprüfbarkeit der Rehatherapiestandards liegt der große Vorteil dieses Qualitätspara- meters . . .
Dr. med. Christiane Korsukéwitz, Leiterin des Geschäftsbereiches Sozialmedizin und Rehabilita - tion, Deutsche Rentenversicherung Bund, 10709 Berlin
Zu viel Bürokratie
Dem Beitrag der Autoren ist in vol- lem Umfang beizupflichten. Die Steuerung der medizinischen Reha- bilitationsstrategie liegt in den Hän- den von Ärzten und Wissenschaft- lern, die über ein profundes Wissen der wissenschaftlichen und statisti- schen Methodik verfügen, jedoch den direkten Patientenkontakt im Allgemeinen vermissen lassen. Dar - aus resultieren Vorgaben zur Er - stellung von etwa zwölfseitigen Arztbriefen, die Hausärzte und Operateure verärgern. Beim „Peer- review“-Verfahren müssen die Brie- fe brillant formuliert werden; dies hilft dem Patienten aber nur wenig, wenn differenzialdiagnostische Überlegungen dabei in den Hinter- grund rücken. Leitlinien wurden für
verschiedene Krankheitsbilder erar- beitet, die einerseits dem medizini- schen Fortschritt nachlaufen, ande- rerseits nur für wenige Patienten tatsächlich zutreffen. So ist es nur eingeschränkt sinnvoll, ein geräte- gestütztes Krafttraining bei allen Menschen mit Wirbelsäulenschäden zu fordern. Eine Fülle von Fragebö- gen und von neuen Klassifikationen (ICF u. a.) vervielfachen die ärztli- che Bürokratie, ohne dass der Sinn medizinisch und wissenschaftlich eindeutig nachgewiesen werden konnte . . .
Dr. Christoph Schönle, Klinik Lindenplatz, Ortho- pädische Rehaklinik mit sportmedizinischer und biomechanischer Abteilung, 59505 Bad Sassendorf
Berechtige Kritik
. . . Die Kontrolle über die Rehabili- tation von den Kostenträgern auf die niedergelassenen Ärzte zu ver- lagern, würde die Zahl der Rehabi- litanden sicher vergrößern, die Qua- lität aber nicht zwangsläufig ver- bessern. Künftige Zuweiserprämien in diesem hart umkämpften Markt, besonders der ambulanten Rehabili- tation, wären zu erwarten, weshalb wir als Rehaeinrichtung die neutrale und von Beziehungen unbelastete Steuerung über die Kostenträger als Ausdruck eines fairen Wettbewerbs über die Qualität und die Zufrieden- heit unserer Patienten gerne beibe- halten würden. Der niedergelassene Arzt als wohlwollender Freund sei- nes Patienten kann auch heute schon sein Budget durch eine medi- zinische Rehabilitation entlasten, sofern er für die Kassen das Formu- lar 60/61 oder einen Befundbericht an die DRV ausfüllt. In der Regel werden diese Anträge auch bewil- ligt.
Die Vernetzung der medizinischen und beruflichen Rehabilitation und damit die Einbindung der Betriebs- ärzte krankt an der Freiwilligkeit all dieser Maßnahmen und fristet nur ein Nischendasein, welches zwar zum Ansehen der Rehaeinrichtung, aber nichts zum betriebswirtschaft- lichen Ergebnis beiträgt, es sei denn, man arbeitet mit sehr großen Betrieben (Autoindustrie u. a.) oder den Berufsgenossenschaften in grö- ßerem Maßstab zusammen.