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Archiv "Seelische Krankheiten: Chronisch ist nicht progredient" (22.10.1987)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Seelische Krankheiten

Chronisch

ist nicht progredient

C

hronisch bedeutet in der Medizin, daß eine Krankheit langwierig ver- läuft beziehungsweise ständig an- hält. Dieses Charakteristikum trifft auf viele psychische Krankheiten zu. Jedoch ist langdauernd nicht gleichzusetzen mit unveränderlich, noch weniger mit progre- dient im Sinne von fortschreitend. Die meisten chronischen psychischen Krankheiten zeigen auf längere Sicht eine bemerkenswerte Variabilität und erstaunliche Tendenzen zur Besserung. Nur ein kleiner Teil ist progredient. Das muß gegen- über veralteten Auffassungen betont werden.

Wenn hier über die Ergebnisse der neueren psychiatrischen Verlaufsforschung informiert wird, müssen zugleich und nebeneinander Ei- gengesetzlichkeit der Krankheit, Auswirkungen von Lebensumständen und therapeutische Be- einflussung berücksichtigt werden.

Neurosen

Neurosen, die sich bekanntlich in Angst, Zwang, Depression, funktionellen körperlichen Störungen und sozialen Konflikten äußern, sind ausgesprochen chronische Krankheiten. Hieran lassen die neueren Verlaufsuntersuchungen kei- nen Zweifel. Sie sind langwierig und bestehen oft lebenslang. Manche Verlaufsabschnitte, be- sonders im jüngeren Alter, lassen den Verdacht raschen Fortschreitens aufkommen, zum Bei- spiel wenn sich neurotische Ängste und Zwänge mehr und mehr ausbreiten. Langfristig jedoch erweist sich, daß der schwere Leidenszustand im allgemeinen nicht permanent anhält und daß fortschreitende Verschlechterungen eher Aus- nahmen sind. Im mittleren bis fortgeschrittenen Lebensalter geht die Intensität von Neurosen — im statistischen Mittel — deutlich zurück. Das gilt sowohl für die Krankheitssymptome als auch für die sozialen Beeinträchtigungen.

Im einzelnen hängt die Verlaufstendenz we- sentlich auch von der Behandlung ab. Für meh- rere Psychotherapiemethoden wurde die Effi- zienz bei Neurosen zweifelsfrei erwiesen. Psy-

chotherapie auf längere Sicht ist aus einem wei- teren Grunde indiziert: Bei vielen Neurose- Kranken ist eine Tendenz zu Rückzug und Ein- engung festzustellen. Dabei handelt es sich um Abwehr- und Schutzmaßnahmen: Durch Rück- zug von Konflikten und Problemen wird ein grö- ßeres Maß an Wohlbefinden erkauft, allerdings auf Kosten der eigenen Vitalität und Lebensbe- züge. Demgegenüber kann Psychotherapie zu einer besseren Lebensbewältigung verhelfen und im Sinne einer Sekundärprävention den ge- nannten Residualzuständen sowie Risiken wie Suizidalität und erhöhte körperliche Morbidität vorbeugen.

Persönlichkeitsstörungen

Von Persönlichkeitsstörung (oder Charak- terneurose) spricht man, wenn eine Persönlich- keitsstruktur durch starke Ausprägung bestimm- ter Merkmale so akzentuiert ist, daß sich hieraus ernsthafte Leidenszustände oder/und Konflikte ergeben. Beispiele sind zwanghafte, asthenische oder sensitive Persönlichkeitsstörungen.

Langfristige Lebenslaufuntersuchungen er- gaben übereinstimmend: Die einzelnen Persön- lichkeitsmerkmale sind bemerkenswert bestän- dig. Ihre Ausprägungen und Auswirkungen sind aber variabel, insbesondere in Abhängigkeit von Lebensumständen. Die Intensität der Persön- lichkeitsstörungen geht — im Mittel — im Laufe des Lebens zurück und ist im fortgeschrittenen Alter und insbesondere im Senium abge- schwächt. Die soziale Prognose dieser Menschen ist weit besser, als früher angenommen wurde.

Ungünstige Verläufe sind in der Minderzahl.

Menschen mit Persönlichkeitsstörungen (früher auch Psychopathen genannt) galten lan- ge Zeit als Versager und Störer mit ungünstiger Prognose. Dieses Bild wurde revidiert. Selbst für die Untergruppe der Soziopathen (oder anti- sozialen Persönlichkeiten) gilt, daß ihr dissozia- les und zum Teil kriminelles Verhalten im mitt- leren Erwachsenenalter deutlich nachläßt und in späteren Lebensphasen fast nicht mehr festzu- stellen ist (wiederum im statistischen Mittel).

A-2870 (60) Dt. Ärztebl. 84, Heft 43, 22. Oktober 1987

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Aber auch bei diesen Menschen ist zu beachten, wieviel Leiden mit der Persönlichkeitsstörung verbunden ist und wie sehr die Lebensentfaltung behindert sein kann. Psycho- und soziothera- peutische Hilfen müssen verstärkt werden, auch um Residualzustände (ähnlich wie bei Neuro- sen) zu verhindern.

wöhnung. Es ist also zu vermuten, daß Abhän- gigkeit im Sinne einer psychischen Krankheit nicht unbedingt progredient ist.

Organische Hirnkrankheiten

Abhängigkeit und Sucht

Ist Sucht eine progrediente Krankheit? Der Wortstamm „siech" legt diese Annahme nahe, und Erfahrungen mit Alkohol- und Drogenab- hängigen lassen kaum Zweifel zu. Jedoch ist die große Variabilität der Verläufe zu bedenken.

Von den Alkoholabhängigen sieht der Arzt im- mer wieder nur die mit ungünstigem Verlauf, die anderen verliert er aus dem Auge. Zwar sind desolat-progrediente Verläufe mit Folgekrank- heiten und sozialen Komplikationen sowie ver- kürzter Lebenserwartung nicht selten. Es gibt aber auch den resistenten Trinker ohne Folgeer- scheinungen und — was noch häufiger und wich- tiger ist — die zahlreichen Abhängigen, die im Laufe des Lebens ganz oder fast abstinent wer- den. Dieser Anteil wurde bei Alkoholabhängi- gen mit 20 bis 60 Prozent ermittelt (je nach Aus- gangsbedingungen der einzelnen Untersuchun- gen). Bei älteren und alten Menschen besteht übrigens kaum mehr ein Risiko, daß eine Sucht beginnt.

Die angesprochenen progedienten Verläufe sind mehr durch die sekundären somatisch-pa- thologischen Vorgänge bedingt als durch die pri- märe süchtige Fehlhaltung (Abhängigkeit). Die- se seelische Fehlentwicklung, die der Sucht- krankheit zugrunde liegt, hat anscheinend keine so ungünstige Prognose. Sie ist überwindbar, insbesondere mit therapeutischer Hilfe. Mit an- deren Worten: Der Alkoholismus würde in vie- len Fällen nicht so progredient verlaufen, wenn nicht gesundheitliche Schäden (und auch soziale Komplikationen) einträten, welche die Beein- flussung der eigentlichen süchtigen Fehlhaltung erschweren oder unmöglich machen.

Diese Überlegung wirkt zunächst etwas theoretisch, sie ist aber begründet in den Erfah- rungen mit einer Form der Abhängigkeit, die nicht unmittelbar zu behandlungsverhindernden Gesundheitsschäden führt. Gemeint ist die Ni- kotinabhängigkeit. Verlaufsuntersuchungen zeigten, daß Häufigkeit und Intensität des Ziga- rettenrauchens mit dem Lebensalter deutlich zu- rückgehen, daß also die süchtige Fehlhaltung nachläßt beziehungsweise überwindbar wird.

Letzteres lehrt auch die moderne Raucherent-

Substantielle Hirnschäden durch traumati- sche, entzündliche, toxische oder andere Ein- wirkungen sind zu einem großen Teil irreversi- bel. Die Reversibilität der hirnorganischen Sym- ptomatik ist allerdings häufiger, als man früher annahm. Ausgesprochen progredient ist nur ein kleiner Teil der Hirnkrankheiten, nämlich die heredodegenerativen Krankheiten (wie Morbus Pick, Chorea Huntington, Morbus Parkinson und andere) sowie natürlich die Altersdemenz.

Die in früheren Lebensabschnitten eintre- tenden Hirnschäden führen weit seltener zu pro- gredientem Verlauf, sie bleiben öfter stationär, wobei die Residuen zum Teil durchaus Adapta- tionsmöglichkeiten zulassen. Am weitesten von einer Progredienz entfernt sind die frühesten Noxen, nämlich die perinatalen Hirnschädigun- gen. Unter ihnen sind die schweren Formen, die spastische Paresen, geistige Behinderung und Anfallsleiden bewirken, in der Minderzahl.

Weit häufiger sind die sogenannten minimalen zerebralen Dysfunktionen, die zu einem früh- kindlich exogenen Psychosyndrom führen. Die- ses erweist sich zwar oft als ein Handicap der seelischen Entwicklung, es ist jedoch nicht un- abänderlich, sondern therapeutisch-pädagogi- schem Einfluß durchaus zugänglich. Unter dem Verlaufsaspekt ist es wichtig, daß sich die Sym- ptome einer solchen minimalen zerebralen Dys- funktion sozusagen „auswachsen" können:

Nach vielfach gestörter Kindheit und zum Teil stürmischer Pubertät und Adoleszenz kommt es bei vielen der so Betroffenen zu bemerkenswer- ter Anpassung und Persönlichkeitsnachreifung (sogenannte Spätentwickler).

Demnach sind Hirnschädigungen zwar häu- fig mit chronischem Verlauf, aber nur zum Teil mit Progredienz verbunden.

Schizophrenien

Schizophrenien galten lange Zeit als progre- dient schlechthin, sie wurden geradezu als „Pro- zeßpsychosen" bezeichnet. Das erwies sich als falsch. Der Irrtum war auf Anstaltsartefakte im doppelten Wortsinn zurückzuführen: Zum einen war die Zunahme von Krankheitserscheinungen zu einem wesentlichen Teil Hospitalismusfolge, ohne in der Krankheit selbst unbedingt begrün- Dt. Ärztebl. 84, Heft 43, 22. Oktober 1987 (63) A-2871

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det zu sein. Zum anderen beschränken sich die älteren Verlaufsuntersuchungen auf eben diese hospitalisierten Patienten. Erst in jüngerer Zeit ergaben breiter angelegte Verlaufsuntersuchun- gen, daß derartige ausgesprochen ungünstige Verläufe bei höchstens einem Viertel der Schi- zophreniekranken festzustellen sind. Bei mehr als einem Drittel sind die Verläufe absolut gün- stig. Dazwischen liegen andere Verlaufsvarian- ten, zum Beispiel wellenförmige Verläufe und partielle Remissionen.

Nachdem festgestellt wurde, daß selbst von den einmal stationär behandelten Schizophre- nen die Hälfte nie wieder krankenhausbedürftig wird und daß ungefähr 60 Prozent vollständige Remission oder doch weitgehende soziale Adap- tation erreichen, kann man nicht mehr von einer generell progredienten Krankheit sprechen.

Zwar verläuft die Schizophrenie auch heute noch bei einem kleinen (und weiter abnehmen- den) Anteil der Kranken ungünstig. Man kann auch nicht von einer durchgehend günstigen Prognose sprechen. Jedoch können die oben skizzierten Verlaufstendenzen weiter durch op- timale Nutzung der therapeutischen Möglich- keiten verbessert werden. Insbesondere die pri- mär chronischen Verläufe und die schweren Re- sidualzustände gehen zahlenmäßig zurück.

Die Erfahrungen lassen sich dahingehend zusammenfassen: Schizophrenien sind nur zu ei- nem kleinen Anteil progredient, häufiger sind sie gutartig. Bei vielen Schizophrenien ist der Verlauf chronisch. Diese Kranken bedürfen der Langzeittherapie (sie sind nicht „Pflegefälle").

Affektive Psychosen

Die Melancholien (endogene Depressionen) und Manien sind insofern prognostisch günstig, als die einzelnen Phasen nach kürzerer oder län- gerer Krankheitsdauer regelmäßig und vollstän- dig abklingen. Der langfristige Verlauf ist je- doch weniger günstig. Zwar erkrankten nach ei- ner ersten melancholischen Phase ungefähr ein Drittel nicht noch einmal (bei Manien sind Wie- derholungen häufiger), andere erkranken nur wenige Male und in großen Abständen. Bei ei- nem gewissen Anteil, der zahlenmäßig noch nicht exakt bestimmt ist, kommt es aber zu ei- nem multiphasischen Verlauf, wobei im Laufe des Lebens die gesunden Intervalle zwischen den Phasen kürzer, die Phasen selbst länger wer- den. Bei einem Teil der affektiven Psychosen er- wiesen die neueren Verlaufsuntersuchungen al- so eine Progredienz (in diesen Fällen beruhigt sich die Krankheitsaktivität erst im fortgeschrit-

tenen Alter oder im Senium.). So gesehen nimmt die Eigengesetzlichkeit des Verlaufes der melancholisch-manischen Krankheit eine Son- derstellung in der Psychiatrie ein.

Jedoch ist durch therapeutische Fortschritte eine wesentliche Änderung eingetreten. Melan- cholien und Manien können im akuten Stadium wirksam behandelt werden, und darüber hinaus ist eine effektive Phasenprophylaxe möglich.

Durch Lithium-Salze und andere Medikamente kann das Wiedererkranken bei der Mehrzahl der Patienten verhindert beziehungsweise we- sentlich abgeschwächt werden.

Folgerungen

Wenn hier über Verläufe psychischer Krankheiten berichtet und aufgrund neuerer Forschung mehrfach günstige Befunde hervor- gehoben wurden, so kann das nicht über den bit- teren Ernst des Psychischkrankseins hinwegtäu- schen. Jede ausgeprägte Neurose bedeutet ein schweres Schicksal, jede Schizophrenie erschüt- tert den Betroffenen in den Fundamenten seiner Person, jede Melancholie ist ein abgrundtiefer Leidenszustand. Jedoch sind die weiteren Aus- sichten dieser Patienten keineswegs generell un- günstig, wie lange Zeit angenommen wurde. Die Folgerung hieraus ist nicht ein prognostischer Optimismus, sondern die Notwendigkeit der Differenzierung, insbesondere zwischen chroni- scher und progredienter Verlaufsform: Chro- nisch bedeutet langwierig, aber nicht unbedingt fortschreitend und nicht unbeeinflußbar schlechthin.

Bei psychischen Krankheiten sind chroni- sche, aber nicht-progrediente Verläufe oft zu beobachten. Sie kommen auch bei körperlichen Krankheiten vor: ein Beispiel sind die chro- nisch-degenerativen Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis. Insgesamt ist diese Verlaufsform aber bei psychischen Krankheiten häufiger. „Kann man da überhaupt etwas ma- chen?" Diese Frage stellen auch die Angehöri- gen. Zu antworten ist, daß bei den meisten psy- chischen Krankheiten nicht einmal die Spontan- prognose ungünstig sein muß, geschweige denn die Behandlungsprognose. Dabei ist hinzuzufü- gen, daß nur eine sehr konsequente und langfri- stig angelegte Behandlung einschließlich Prä- vention die Voraussetzungen für eine günstige Prognose schaffen kann.

Professor Dr. med. Rainer Tölle Klinik für Psychiatrie der Universität Albert-Schweitzer-Straße 11, 4400 Münster A-2872 (64) Dt. Ärztebl. 84, Heft 43, 22. Oktober 1987

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