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Archiv "Rückkehr vom Ende der Welt" (30.01.1975)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

FEUILLETON

Vor etwa zwanzig Jahren, als die ersten Satelliten zu kreisen began- nen und die Phantasie „der Erdbe- wohner" Anlaß fand, sich wieder einmal mit dem Weltraum zu be- schäftigen, wurde ein schönes gra- phisches Blatt allgemeiner be- kannt, das seit dem Beginn unse- res Jahrhunderts schon einige Male abgebildet worden war (Ab- bildung 1): als eine „mittelalterli- che Darstellung des Weltgebäu- des" (Bürge) 1910), als das „Welt- bild von Nicolaus Cusanus" (Des- sauer 1948 und andere, nach H. A.

Strauß 1926), als „ein Reisender", der „den Himmelsmechanismus und das Reich der Seligen stu- diert" (Philipoff 1932), oder kürzer als „der Zweifler" (Bürgel 1925) — als „Ein merkwürdiger altdeutscher Holzschnitt, um 1530-50" (Zinner 1931 und 1957).

Seitdem versucht man das Blatt zu datieren, und kommt immer wieder auf die sogenannte „Donauschule"

— deutsche Holzschnitte der er- sten Hälfte des 16. Jahrhunderts aus dem Kreis um Albrecht Altdor- fer — oder etwas allgemeiner auf die Druckgraphik und Buchkunst in Nürnberg und Augsburg zu dieser Zeit. Und doch gelang es nie, das Original nachzuweisen. Die frühe- ste Wiedergabe findet sich in ei- nem populärwissenschaftlichen Werk vom Beginn unseres Jahr- hunderts mit einem Titel, dessen optimistischer Unterton uns heute seltsam klingt: „Weltall und Menschheit, Geschichte der Erfor- schung der Natur und der Verwer- tung der Naturkräfte im Dienste der Völker", 3. Band (VII. Teil) von Wilhelm Julius Foerster: Die Erfor- schung des Weltalls, Berlin 1903, S. 45. Foerster nennt als Quelle

Flammarions »Astronomie«, aber in dem einst berühmten Pracht- band, der „Astronomie popu- laire" des Camille Flammarion, die 1880 in Paris erschien, ist das Bild nicht enthalten, so daß spätere Wiedergaben meist nach Foerster reproduziert wurden: Die Quelle war nicht mehr zu finden, das Feld für die Forschung lag frei.

Seit den 20er Jahren werden Kunsthistoriker nach dem Bild ge- fragt — und erliegen immer wieder einer Täuschung, die offenbar nicht nur von stilistischen Kriterien und der unbezweifelbaren Einheit- lichkeit und Qualität des Blattes ausgeht, sondern von seinem „In- halt": der von der Wissenschafts- geschichte seit dem späteren 19.

Jahrhundert im Zuge ihrer Suche nach Selbstverständnis oft und oft beschriebenen, ja beschworenen

„kopernikanischen Wende", ge- stützt von Vorstellungen mehr gei- stesgeschichtlicher Herkunft: vom

„Renaissancemenschen", mit dem der Fortschritt beginnt; wobei ein Unterton, der seit der deutschen Romantik (Wackenroders „Herzens- ergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" 1797) nie ganz ver- klungen ist und mit Rilkes früher Lyrik wieder durchdringt, das Blatt scheinbar zwingend eben der deut- schen Kunst der „Dürerzeit" zu- zuordnen scheint.

Aber die Beunruhigung bleibt, und man möchte es endlich genau wis- sen — und so schreibt man an Kol- legen, und einer von ihnen gibt den Hinweis auf den Aufsatz von Bruno Weber,), und nun wissen wir es:

Es ist ein Holzstich (Abbildung 2), eine „Fälschung", die wahrschein- lich von dem seinerzeit hochbe-

Abbildung 1: „Durchbruch des Men- schen durch das Himmelsgewölbe", Holzschnitt um 1530 (?) in Fr. Becker:

Ausblick in das Weltall (Arbeitsgemein- schaft für Forschung des Landes Nord- rhein-Westfalen Nr. 186) Köln/Opla- den 1968 — als eines von 56 Zitaten seit 1954

rühmten Autor zahlreicher, nicht nur populärwissenschaftlicher Wer- ke, dem französischen Astronomen Camille Flammarion (1842-1925) selber stammt, freilich nicht aus der Astronomie, sondern aus ei- nem späteren Werk: L'Atmosphöre, mötöorologie populaire, Paris 1888.

Dann hat man den Aufsatz sofort:

Das Gutenberg Jahrbuch steht in jeder größeren Bibliothek. So kann man nun Schritt für Schritt, die Lö- sung vor Augen, die Wege des Irr- tums noch einmal zurückgehen, denn der Autor legt alles klar: Die Quellen des Bildes und seine Wir- kung, Zeit wie Gründe seiner Ent- stehung und seines plötzlichen Ruhmes zwei bis drei Generatio- nen danach. Dabei ergeben sich die erstaunlichsten Einsichten.

Zunächst: Eine Fälschung täuscht im allgemeinen nur die Zeitgenos- sen und wird von der nächsten Ge- neration unweigerlich gesehen. War- um ist dieses Blatt den Zeitgenos- sen gar nicht weiter aufgefallen, warum wird es von der nächsten Generation als Original „entdeckt", von der folgenden ins 16. Jahrhun- dert datiert und „gedeutet", von

1) In kurzer Fassung vorgetragen auf der Jahresversammlung 1974 der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medi- zin, Naturwissenschaft und Technik.

2) Brief von Matthias Mende (Nürnberg) vom 28. 8. 1974

Rückkehr vom Ende der Welt

Die Identifizierung eines bekannten Holzstiches

und einige Folgerungen zur Geschichte der Gegenwart 1 )

Marielene Putscher

290 Heft 5 vom 30. Januar 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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der dritten sehnsuchtsvoll gerühmt

— und dann plötzlich als „Pastiche"

entdeckt, so daß es nun „ver- standen" werden kann, und die Ge- genwart zugleich in der Geschichte seiner Deutung.

Es gibt Probleme, die erst nach ih- rer Lösung als Problem erkannt werden. Wie konnte die Suggestion dieses Bildes so stark sein? Und warum wurde sie im „Kopernikus- jahr 1973", ein halbes Jahrtausend nach der Geburt des „Begründers eines neuen Weltsystems", plötz- lich auflösbar? Was hat sich seit Flammarion, der Zeit des Jules Verne und des „Historismus", ge- ändert? Offenbar doch die Einstel- lung zur Wissenschaft überhaupt!

Drei Fragen, die zwar nicht beant- wortet werden können, zu denen sich jedoch einige Überlegungen anstellen lassen.

Sicherlich wäre das Blatt leichter erkannt worden, wenn FoerSter bei seiner Reproduktion nicht die Ein- fassung fortgelassen hätte. Da er zudem, wenn auch wohl versehent- lich, die Herkunft des Bildes ver- schleiert hat, wurde seine Abbil- dung zur „Quelle": ein deutsches populärwissenschaftliches Werk der Jahrhundertwende, das heißt auch: einer Zeit mit beträchtlicher Neigung zur Volksaufklärung und intensiv erzieherischem Elan.

Abbildung 2 (oben): „Un missionaire du moyen äge raconte qu'il avait trouvä le point oü le ciel et la terre se touch- ent ..." Holzstich, originalgroß, sei- tenverkehrt aus: Camille Flammarion (1842-1925), L'atmosphöre, mätäorolo- gie populaire. Paris 1888 (S. 163), in:

Bruno Weber: Ubi caelum terrae se conjungit, Gutenberg Jahrbuch 1973 Abbildung 3 (rechts): „Jupiter rägissait les hautes destinäes, et, dans ses veil- les solitaires, l'astrologue du moyen äge calculait les influences occultes qui sembialent descendre de son äclat- ante lumiäre . . ." Holzstich 18,9 x 12,7 cm, von Charles Joseph Mettais (sign.

links CM und rechts unten C Mettais sc), aus: Camille Flammarion, Astrono- mie populaire, Paris 1880

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 5 vom 30. Januar 1975 291

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Abbildung 4: Zwei Gelehrte beobachten Sonne und Mond. Zwischen ihnen der stoische Philosoph, der ein Unwetter gleichmütig erträgt. Holzstich 7,4 x 12,2 cm aus der „Astronomie populaire" Flammarions

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Doch dies allein erklärt noch nicht viel, zeigt doch die Wirkungsge- schichte so manchen anderen Wer- kes vergleichbare Zufälligkeiten.

Bruno Weber schreibt die Erfin- dung des Bildes mit guten Gründen Flammarion selbst zu. Seit seiner frühen Kindheit kannte und liebte dieser die Himmelserscheinungen:

Als Fünfjähriger hat er unter Anlei- tung der Mutter mit seiner jünge- ren Schwester eine totale Sonnen- finsternis beobachtet; als Neunjäh- riger machte er sich das ptolemä- ische wie das kopernikanische Weltsystem in Zeichnungen klar;

als Vierzehnjähriger mußte er zu einem Ornamentstecher in die Leh- re gehen, doch die Astronomie ließ ihn nicht los. Bereits sein erstes Werk machte den Zwanzigjährigen berühmt: „La pluralitö des mondes habitös ...", schon drei Jahre spä- ter ins Deutsche übersetzt: „Die Mehrheit bewohnter Welten" (Leip- zig 1865) — nie hat Flammarion daran gezweifelt, daß der Kosmos

„belebt", bewohnt, von Welten wie der unsrigen erfüllt sei.

Diese Vorstellung, die einen unver- lierbaren Anteil kindlicher Welter- fahrung enthält, der er — wenn er das Blatt gezeichnet und wohl gar selbst gestochen hat — auch Aus- druck zu geben vermochte, gibt dem Bilde die Einheitlichkeit, die es von jeder bewußten Fälschung unterscheidet. Daß sie dennoch an- derer Art ist als die Geschlossen- heit der mittelalterlichen und noch der Welt der Renaissance wie des

Barock, macht Weber (S. 381/82) durch die Beschreibung des spie- gelverkehrten Blattes mit der Ein- fassung eindrücklich klar (Abbil- dung 2):

„Nun gewinnt die Landschaft an Glanz und Geschlossenheit ... Wo das Weltsystem von Bändern im er- sten Bild steigt und den Raum mit Dichte zu füllen scheint, zeigt das zweite Bild ... den Blick ins Leere;

die durchdringende Figur schaut nicht an eine Wand, vielmehr in das Bodenlose" — „... jenseitige Ortlosigkeit von fremden, unbe- greiflichen Strukturen, die nur der pure Geist erfassen kann. Wohl entspricht dies der Aufgabe, ein Weltende räumlich vorzustellen, und der beabsichtigten Wirkung."

Die Einfassung aber muß nun den Absturz aufhalten, während der Blick auf dem ersten, uns vertrau- ten Blatt die Tiefe der Landschaft durchwandert und bei dem freund- lichen Gesicht der Sonne verweilt.

Einige Überlegungen zur zweiten Frage mögen hier anknüpfen. War- um wurde die Suggestion vom

„Weltbild der frühen Renaissance"

— etwa des Nicolaus Cusanus oder eben der Zeit des Kopernikus

— erst heute auflösbar? Zwei Gründe lassen sich angeben: Wir haben heute etwas mehr Erfahrung von der Realität der menschlichen Wahrnehmung und Vorstellungs- kraft, und wir wissen Genaueres über die Realität des Weltraumes und die technischen Grenzen seiner

„Eroberung".

Rückkehr vom Ende der Welt

Schon 1960 hat Adolf Portmann in einer Studie, die manche seiner früheren Forschungen bereits zu- sammenfaßt, sich über „Ptolemäer und Kopernikaner" (Der Monat 139) geäußert: „Wir müssen eine für uns Menschen vorgegebene primäre Art der Welterfahrung, ein in jeder Geburt sich erneuerndes Ptolemäertum des individuellen Werdeganges in eine jeweils neue Weltsicht überführen, die heute be- reits ungenügend bezeichnet ist, wenn wir sie kopernikanisch nen- nen ..."

„Seit Kopernikus", so datieren wir unser gegenwärtiges Weltmodell,

„seit Galilei" die Beobachtung der Sterne mit immer schärferen In- strumenten; wenig später beginnt auch die Beobachtung des „Mikro- kosmos", die dem Arzt einst die entscheidenden Aufschlüsse über die Lebensvorgänge vermitteln wird. Die Veränderung der Welt, die mit dieser Erweiterung der Wahrnehmung notwendig einher- geht, ist dem Wissenschaftler nicht mehr jederzeit bewußt: Die voll- ständige Erfahrung durch mehrere Sinne, die erst Sicherheit darüber geben kann, daß es sich immer um etwas Wirkliches handelt, wird durch das nur Gesehene ersetzt.

Aus Sehen und Denken aber läßt sich eine Vorstellung, eben ein

„Modell" der Welt oder „des Le- bens" gewinnen, das leicht Wirk- lichkeitscharakter annimmt.

Mag endlich der Forscher selbst, da er die Schwierigkeiten der Be- obachtung und des Experiments täglich zu spüren bekommt, noch jederzeit wissen, daß er sich in ei- ner angenommenen Welt von Be- ziehungen und Kräften bewegt, die mit der Welt der „primären Wahr- nehmung" zwar zusammenhängt, aber nicht übereinstimmt: sobald er jene, die „Welt der Wissen- schaft" darstellt, „popularisiert", beschreibt er „Ergebnisse", ruft die Vorstellungskraft des Lesers auf, ergänzt das Gewußte durch die eigene Vorstellung zum „Welt- bild" — und dieses ist allerdings zeitgebunden, d. h. von den ge-

292 Heft 5 vom 30. Januar 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Aufsätze Notizen

Abbildung 5: Virgil Solis (1514-1562), Landschaft mit dem Evangelisten Johannes. Holzschnitt, 19,3 x 37,2 cm, Donauschule 1560er Jahre. Aus: Max Geilberg: Der deutsche Einblatt-Holzschnitt in der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts

meinsamen Idealen sowie von den eigenen Wünschen und Zukunftser- wartungen nicht mehr völlig zu trennen. Jede „volkstümliche Dar- stellung" und manches wissen- schaftliche Werk hat diesen utopi- schen Anteil.

Aber nicht nur die Bedingtheit der menschlichen Wahrnehmung, die uns zwingt oder uns erlaubt, in ei- ner sich wandelnden Welt zwi- schen Vorstellung und Wirklichkeit zu leben, ist heute einsehbarer ge- worden: auch die Realität des

„Weltraumes" und seiner techni- schen „Eroberung" hat der Sci- ence-Fiction-Utopie, mit der die Phantasie mühelos zum „Ende der Welt" vordringt, ein Ende ge- setzt

Für Flammarion waren es wohl au- ßer der Astronomie vor allem seine Ballonfahrten, deren er zwischen 1867 und 1880 zwölf unternahm, die ihm das Gefühl des wirklichen

„Durchstoßens" der Himmelskup- pel vermittelt haben: „Or cette belle voüte n'existe pas! Döjä je me suis ölev6 en ballon plus haut que l'olympe grec, sans ätre jamais parvenu ä toucher cette tente qui fuit ä mesure qu'on la poursuit, comme les pommes de Tantale", schreibt er zu dem Bild von dem

„Wanderer", der durch das Him- melsgewölbe hinaussieht.

Heute kann sich jeder, der es wis- sen will, zugleich den ungeheuren technischen Aufwand vergegen- wärtigen, den die NASA treiben muß, um auch nur eine kleine Raumkapsel zum Mond und sicher zurück zu bringen.

Diese Kenntnis vor allem mag da- zu geführt haben, daß zwar die Bal- lonfahrten des Jules Verne (1863 erschien sein erstes Werk, „Cinq semaines en ballon") sich nicht ein- mal so völlig „utopisch" ausneh- men, die Phantasien Erich von Dä- nikens aber ihren Charakter als reine Wunschgebilde weit deutli- cher zeigen.

Wissenschaftliche Aussagen sind heute nicht mehr im gleichen Sinne popularisierbar wie im 19 .. Jahrhun- dert, da sie nicht mehr einer ein- heitlichen Weltvorstellung gehor- chen können. Zu wissen, daß man nicht anders kann, als sich eine („ptolemäische") Vorstellung von der Welt zu machen, die weder mit dem theoretischen Kalkül von der Möglichkeit einer ganzen Welt noch mit dem jeweils technisch er- fahrbaren Ausschnitt der Realität übereinstimmt, hat den „Wissen- schaftsjournalismus" grundsätzlich verändert.

Was also hat sich seit 1888 geän- dert? Und wie kann der Historiker diese Wandlung beschreiben?

Eine der stärksten Antriebskräfte der Wissenschaft, wohl noch nicht des 16., sicher aber des 19. Jahrhun- derts, war „Aufklärung", Überwin- dung des „Aberglaubens", Durch- stoßen der Bildwelt und „Sieg der Vernunft". Bruno Weber bemerkt, Flammarion habe vermutlich lange in Werken aus der Zeit des Koper- nikus gesucht, ehe er sich ent- schloß, das, was er dort nicht fand, selbst zu zeichnen. In der „Astro- nomie populaire" gibt es zwei Bil- der, die sein Blatt ergänzen: Eines stellt zwei Gelehrte des wirklichen 16. Jahrhunderts dar, die die Him- melserscheinungen beobachten (Abbildung 4), das andere den Astrologen, der die Planetenkon- stellation berechnet, so wie man sich ihn im 19. Jahrhundert vorge- stellt haben mag (Abbildung 3).

Flammarion hat seine ganze Kraft eingesetzt, um dieses „Weltbild"

ad absurdum zu führen und die Astronomie an seine Stelle zu set- zen. Heute wären wir geneigt, die- se in sich geschlossenen Welten beide für irreal zu halten und den Rückweg anzutreten: die Frage zu stellen nach den inneren Bedin- gungen und Notwendigkeiten eines geschlossenen Weltbildes über- haupt, nach der psychischen Wirk- lichkeit von Projektionen und den Möglichkeiten, diese im „Bau der Welt" zu erkennen. „Er war von

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

der Vernunft und Güte des Univer- sums durchdrungen", schreibt Bru- no Weber über Flammarion (S.

396), „verkündete den Fortschritt der Menschheit und das Prinzip Hoffnung ... Sein astronomisches Credo erkannte die fernen Sternen- welten als den Sitz der Seelen ver- storbener Erdbewohner ... und er- klärte die Unendlichkeit zur Trans- zendenz. Insofern scheint also der Mensch des Holzstiches einem quasi vorwissenschaftlichen Zeital- ter anzugehören: Er hat noch nicht begriffen, daß die Unendlichkeit, das unendliche Reich der Seele, mitten in der Natur ist.

„Stellt man dem neuzeitlichen Holz- stich einen echten Meisterholz- schnitt des 16. Jahrhunderts ge- genüber, der eine vergleichbare, gleichsam entfesselte Weltland- schaft vorführt (Abbildung 5), sieht man im Nu, wie der Wandersmann an der göttlichen Weltordnung fre- velt: er kehrt der Natur den Rük- ken, verachtet Schönheit, Glanz und Frieden ..., flieht die Wohnung unter der Sternenkuppel und sucht sein Glück hinter dem Kosmos", während Johannes auf Patmos, der

„erdenschwer ... an seine Natur gebunden doch über die ganze Weite der Welt hinweg ... zu schauen vermag", ihr zugewandt bleibt (die kleine Figur unten rechts).

Dem Historiker, der das Blatt Flam- marions nun als „echt" und

„falsch" zugleich ansehen mag, bleibt die Aufgabe einer Auswä- gung dieses neuen Verständnisses beider Darstellungen, der des 16.

wie der des 19. Jahrhunderts.

Der Feststellung: es ist ein Aben- teuer, daß dies „Pastiche" jetzt erst (1973) erkannt wurde, folgt die Frage: Warum erkennen wir es erst jetzt? Gründe für die Suggestivität des Blattes konnten dargelegt wer- den. Daß wir uns ihr nun, plötzlich, entziehen können, hat einen ande- ren Grund: Wir haben das bisher glaubhafte Weltbild des 19. Jahr- hunderts verlassen, wir „sind es los", es hat uns losgelassen. Zum Lobe Flammarions mag hinzuge-

Rückkehr vom Ende der Welt

fügt werden: Wir haben bis heute das Weltbild des 19. Jahrhunderts für „Weltbild an sich" gehalten!

Gehen wir noch einmal die Ver- wendung und Interpretationen des Blattes durch, die Bruno Weber im Anhang nachweist, so überrascht im nachhinein deren Mannigfaltig- keit seit seinem breiteren Bekannt- werden um 1954.

Wären wir schon sicher genug im Umgang mit inneren Bildern, so könnte man ohne Angst vor Miß- verständnis eine Entwicklung nach- zeichnen, die jeweils „Welt" sagt und die menschliche Seele und ihr Schicksal meint. Der Astrologe und Sternkundige steht an ihrem Anfang — seine Welt blieb zurück, eine andere wuchs durch sie hin- durch. Galilei, Kepler und Des- cartes einerseits — Swedenborg an- dererseits haben sie beschrieben, gestützt auf verschiedene Arten von (visueller) Wahrnehmung:

durch Instrumente, durch Vision.

Wollten wir beides unter dem Wor- te „Science-fiktion" zusammenfas- sen, so wäre dies die treffende Kennzeichnung auch für die „Astro- nomie populaire" ja für alle Dar- stellungen, die „die Welt" mit Hilfe der Phantasie beschreiben. Daß es solche Darstellungen auf jedem geistigen Niveau gibt, sollte den Historiker nicht allzusehr beirren.

Die „Fälschung" Flammarions ist eine faszinierende Wahrheit des 19.

Jahrhunderts. Aber weil das Welt- bild des 19. Jahrhunderts eine Fäl- schung ist, die sich für allgemein- gültig hält und halten muß, ist es dazu gekommen, daß man das Bild hinnahm ohne eine Nachfrage:

Kann es denn im 16. Jahrhundert entstanden sein? Diese fehlende Nachfrage zeigt die vorläufige All- gemeingültigkeit eines solchen Weltbildes. Und doch befinden wir uns seit einiger Zeit auf der Rück- kehr vom Ende der Welt.

Anschrift der Verfasserin:

Dozent Dr. phil. Dr. med.

Marielene Putscher 5 Köln-Lindenthal Bachemer Straße 62

KUNSTMARKT

Ikonen:

Zertifikat empfohlen

Fachleute schätzen, daß es im Bun- desgebiet bereits einige tausend Ikonensammler gibt, welche mehr als zwei oder drei echte alte Iko- nen ihr eigen nennen. Es ist ein be- kanntes Phänomen, daß über die Hälfte der lkonensammler Ärzte und Apotheker sind. Dies darf auf ein musisches Verständnis des Be- rufsstandes zurückgeführt werden.

Gerade das Sammeln von Ikonen eignet sich für eine Feiertagsbe- schäftigung.

Ikonen erfreuen sich weiterhin stei- gender Beliebtheit. Leider hält das Angebot mit dem allgemeinen In- teresse nicht Schritt, zumal die Ur- sprungsländer — insbesondere Rußland und Griechenland — den Export der interessanten alten Stücke unterbunden haben. So ist der Käufer heute auf die wenigen Stücke im Handel angewiesen, im Einzelhandel und auf den Auktio- nen, oder auf die seltenen Gele- genheiten, wenn eine der alten Sammlungen aufgelöst wird.

Es ist bei dieser Situation nicht verwunderlich, daß die Preise auf diesem Gebiet weiterhin erheblich ansteigen. Man schätzt allein in den letzten drei Jahren einen Preisanstieg von etwa 50 Prozent.

Ein Ende dieser Preisentwicklung ist noch nicht abzusehen. Für den Kauf der Ikonen wird empfohlen, ein Echtheitszertifikat anzufordern, auf dem gleichzeitig das Thema, die Provenienz und das ungefähre Alter bescheinigt werden.

In diesem Jahre ist erstmalig eine Studienreise nach Rußland vorge- sehen. Es sollen neben Moskau und Leningrad u. a. auch Vladimir, Susdal und Nowgorod besucht wer- den. Interessenten für diese Reise können sich an Direktor Helmut Brenske, 3012 Langenhagen (Frie- denau) — Hannover, Wacholder- weg 12, Tel. 0511/63 36 67, wenden.

Dieser gibt alle Auskünfte. Br

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