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Archiv "„Kaiserliche Botschaft” — hundert Jahre danach" (03.12.1981)

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Ehrenberg: „Ich glaub', ich werd' mir immer ähnlicher . .." Karikatur: Partykiewicz Die Information:

Bericht und Meinung

„Kaiserliche Botschaft” — hundert Jahre danach

Krankenversicherung:

Steuerungsmechanismen reparaturbedürftig

Krisenstimmung zog sich durch die Jubiläumsreden. Hundert Jah- re nach ihrem offiziellen Beginn, datiert nach der Verkündigung der Kaiserlichen Botschaft vom 17.

November 1881, steckt die vielge- rühmte und immer noch rühmens- werte deutsche Sozialversiche- rung in der Klemme. Bundesar- beitsminister Dr. Herbert Ehren- berg, Festredner eines Festaktes im Gebäude des ehemaligen Deut- schen Reichstages, suchte die Fi- nanznöte zwar herunterzuspielen, aber so recht wollte das selbst ihm nicht gelingen. Offen ausgespro- chen wurde die Misere im Reichs- tag von Arbeitgeberpräsident Otto Esser.

Die öffentliche Veranstaltung der Kassenärztlichen Bundesvereini- gung am 16. November in Berlin stand sogar im Zeichen der finan- ziellen Bedrängnisse. Die KBV hat- te Vertreter der Heilberufe eingela- den, um gemeinsam über das Wohl der Sozialversicherung nachzudenken. Stellung bezogen für die Ärzte: Dr. Karsten Vilmar, Präsident der Bundesärztekam- mer und des Deutschen Ärzteta- ges; für die Zahnärzte: Dr. Helmut Zedelmaier, Vorsitzender der Kas- senzahnärztlichen Bundesvereini- gung; für die Apotheker: Klaus Stürzbecher, Präsident der Ar- beitsgemeinschaft der Berufsver- tretungen deutscher Apotheker;

für die pharmazeutischen Herstel- ler: Prof. Dr. Rudolf Kopf, Vorsit- zender des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie.

Neue Gesundheitspolitik beim KBV-Forum

Vilmar bemängelte an der Ge- sundheitspolitik, wie sie derzeit betrieben wird, nur an den Sym- ptomen zu kurieren: „Es wird ver- sucht, immer wieder neu zutage tretende Fehler und Mängel durch ständiges Hin- und Herschieben gigantischer Finanzmittel für im-

mer kürzere Zeiträume zu verdek- ken und gegenüber der Öffentlich- keit zu vertuschen." Unter dem Deckmantel der Finanznot werde versucht, das freiheitliche, geglie- derte soziale Sicherungssystem durch ein staatliches Versor- gungssystem zu ersetzen. Vilmar forderte, Fehlentwicklungen deut- lich beim Namen zu nennen und von seinem Recht auf freie Mei- nungsäußerung auch dann Ge- brauch zu machen, „wenn das nicht immer von allen gerne ge- hört und bei pointiert vorgetrage- ner, abweichender Meinung sogar mit einer Rüge bedacht wird".

Auch Zedelmaier argwöhnte, daß die Finanzierungsfragen nur Vor- wand für strukturelle Eingriffe sei- en; eingehend auf die jüngsten

„Stillhalteverhandlungen" erklär- te er: „Wir lügen uns doch selbst in die Tasche, wenn wir glauben würden, daß wir mit unserem ,Sta- bilitätsopfer' die Finanzierungs- probleme in der gesetzlichen Krankenversicherung lösen könn- ten. Wir werden trotz unseres Op- fers im nächsten Jahr vor einer noch größeren Kostenmisere ste- hen, und man wird wieder so tun, als liege es an der Honorierung der Heilberufe, ob unser Versor- gungssystem finanzierbar bleibt und erhalten werden kann." Nach

seiner Auffassung, die auch sonst allgemein geteilt wurde, läßt sich das freiheitliche Gesundheitswe- sen nur dann erhalten, „wenn wir den Mut und die Kraft aufbringen, innerhalb unseres Systems eine Trendwende herbeizuführen; eine Trendwende zu mehr Eigenverant- wortung".

Zu einer „neuen Gesundheitspoli- tik" rief auch Stürzbecher auf:

„Sie muß nach Ideen und Wegen zur Erhaltung und Förderung der Gesundheitspolitik fragen und nicht wie derzeit als Dependance der Sozialpolitik den Menschen im Grunde als krank akzeptieren und sich fast nur mit Fragen der Finan- zierung seiner Behandlung pla- gen." Er denkt an eine Hinwen- dung zur Gesunderhaltung, zu Schutz vor und Abwehr von Um- weltschäden, an Aufklärung und Gesundheitserziehung.

Schon Vilmar hatte darauf hinge- wiesen, daß Gesundheitspolitik nicht mit Kostendämpfungspolitik gleichgesetzt werden dürfe. Pro- fessor Kopf erinnerte anhand zahl- reicher historischer Beispiele dar- an, wie Arzneimitteleinsatz zum Rückgang volkswirtschaftlicher Kosten beiträgt. Die Arzneimittel- ausgaben belasten zwar die Kran- kenversicherung, entlasten aber DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 49 vom 3. Dezember 1981 2329

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Die Information:

Bericht und Meinung Krankenversicherung

die Volkswirtschaft erheblich — ei- ne Rechnung, die in der Kostendämpfungsdiskussion bis- her vernachlässigt wird. Kopf be- klagte, daß die gesetzliche Kran- kenversicherung „immer mehr zur Deckung von Ausgaben herange- zogen wird, für die sie eigentlich

nicht konzipiert ist". Solche Aus- gaben, die keinen direkten Bezug zur Wiederherstellung der Ge- sundheit haben, schlugen 1980 — so Kopf — mit über sieben Milliar- den Mark zu Buche. Kopf plädierte für eine Weiterentwicklung der Krankenversicherung, die die Selbstverwaltung „auf der Basis von Therapiefreiheit und For- schungsfreiheit" stärkt.

Auch aus der Vertreterversamm- lung der KBV kam (durch Dr. Eber- hard Weinhold) die Anregung, das finanzielle Gleichgewicht „durch persönliche Steuerungsmechanis- men" wiederherzustellen. Aller- dings, erkannte Weinhold, gelte es, erhebliche politische Barrieren zu überwinden. Kurz zuvor hatte vor der Vertreterversammlung der SPD-Bundestagsabgeordnete Eu- gen Glombig zum Beispiel Selbst- beteiligungen in der Krankenversi- cherung rigoros abgelehnt, im Un- terschied zu seinem Koalitions- partner, Hansheinrich Schmidt/

Kempten, der für die FDP solche ausdrücklich forderte. Der Berli- ner Gesundheitssenator, Ulf Fink, vertrat eine mittlere Position: Man werde die Erwartungen analysie- ren müssen; die kostendämpfende Wirkung einer Direktbeteiligung sei allerdings zweifelhaft. Fink gab aber Selbstbeteiligung in Form von Leistungseinschränkung eine Chance: „Müssen wirklich alle Ri- siken solidarisch zu 100 Prozent abgesichert werden?", fragte er und erinnerte an die Verpfle- gungskosten im Krankenhaus.

Diese seien ein relativ geringes Ri- siko, das dennoch voll abgedeckt werde, während das existentielle Risiko der Dauerpflege im Alter beispielsweise, völlig der „Selbst- beteiligung" unterliege. Professor Häußler rief dazu auf, die Politiker unter Druck zu setzen; das aufs Riff gefahrene Schiff der Kranken-

versicherung könne nicht ohne Reduktion der Leistungen wieder flottgemacht werden. Nicht nur Überlegungen, sondern ein Pro- gramm, das bald in die Tat umzu- setzen sei, forderte Dr. Karl Nick- las. Und KBV-Hauptgeschäftsfüh- rer Dr. Eckart Fiedler: „Es ist höchste Zeit für ein Konzept. Wir können nicht zufrieden nach Hau- se gehen, sondern müssen uns vorbereiten."

Bestandserhaltung im alten Reichstag

Bundesarbeitsminister Ehrenberg allerdings leugnete „akuten Hand- lungsbedarf" in seiner Rede im al- ten Reichstag. Er verzichtete auch darauf, Perspektiven für die Zu- kunft der Sozialversicherung auf- zuzeigen.

Dieser Festakt am 17. November war ohnehin ein merkwürdiges Er- eignis: Ein Reichstagsgebäude, außen wilhelminisch protzig, in- nen bundesrepublikanisch kahl, hinten begrenzt von der „Mauer", vorne auf weite kahle Flächen und ein sowjetisches Ehrenmal blik- kend — Symbol einer mehrfach ge- brochenen Tradition. Ein sozialde- mokratischer Minister, umrahmt von (in der Mehrzahl) ebenfalls so- zialdemokratischen Gruß- und Schlußrednern, sang ein Loblied auf jene deutsche Sozialversiche- rung, die zu Beginn von Sozialde- mokraten auf das heftigste be- kämpft worden ist. Ehrenberg (deutlicher noch Georg Leber) sah zwar die Differenzen der Anfangs- zeit, hielt sich aber nicht dabei auf.

Denn — ob gegen die Intentionen Bismarcks oder vielleicht sogar in dessen „staatssozialistischem"

Sinne — die Sozialdemokraten ha- ben sich mit dem System arran- giert; ja heute, als Vertreter des Staates, identifizieren sie sich ge- radezu damit. Diskussionen über Grenzen des Sozialstaates, Abbau sozialer Leistungen, Selbsthilfe und Selbstbeteiligung wies Ehren- berg in seiner Festrede zurück.

Sein Argument: Rütteln am sozia- len Netz bedeutet eine Gefähr- dung des sozialen und politischen

Friedens, die Stabilität unserer Gesellschaftsordnung beruht auf stabilen sozialen Verhältnissen.

Ehrenberg sieht keine ernsthafte finanzielle Gefährdung des Sy- stems. Er hält nichts von düsteren Prognosen über die zukünftige Bevölkerungs- und Rentenent- wicklung. Wenn, so kann man ihn zusammenfassen, wieder Vollbe- schäftigung erreicht ist, dann ist auch die Diskussion über die Grenzen des Sozialstaates passä.

Allenfalls bei der Rentenversiche- rung besteht, wenn auch nicht akut, so doch irgendwann, „Hand- lungsbedarf". Und das bedeutet nach Ehrenberg: Nicht nur die ge- setzliche Rentenversicherung ist in eine Neuregelung einzuschlie- ßen, sondern alle Altersversor- gu ngssysteme.

Gespalten präsentierte sich beim Festakt das Bild der Selbstverwal- tung. Ehrenberg versteht sie (um dem DAG-Vorsitzenden Hermann Brandt zu folgen) als Durchführer sozialstaatlicher Gesetze und Ver- ordnungen. Die Sozialpartner, Ge- werkschaften wie Arbeitgeber, wollten ihm darin nicht folgen.

Nicht nur Otto Esser von den Ar- beitgebern, auch Brandt von der DAG sowie Gert Muhr vom DGB beklagten den „Funktionsverlust durch gesetzliche Normierung der Leistungsansprüche" (Muhr).

Brandt und Esser forderten un- mißverständlich eine Funktionser- weiterung für die Selbstverwal- tung. Muhr riet, den verbliebenen Handlungsspielraum auszufüllen.

Er denkt dabei vor allem an die Prävention; außerdem regte er an, sich auf die verschütteten Alterna- tiven in der Sozialpolitik zu besin- nen. Muhr warb in diesem Zusam- menhang vor den 800 Teilneh- mern des Festaktes im Reichstag, in Anwesenheit des Bundespräsi- denten, für ein soeben herausge- kommenes und von ihm mit einem Vorwort geziertes Buch des Wirt- schafts- und Sozialwissenschaftli- chen Institutes des DGB, mit des- sen Hilfe Eigeneinrichtungen der Krankenkassen wiederbelebt wer- den sollen. NJ DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

2330 Heft 49 vom 3. Dezember 1981

Referenzen

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