Aus dem „Blauen Papier"
Freie Arztwahl auch unter Spezialisten
— Koordinierung durch den Hausarzt
Der Patient hat die freie Arztwahl.
Diese Wahlmöglichkeit gibt dem Patienten die Möglichkeit, seine ei- gene Position in der Parnterschaft zu seinem Arzt zu festigen und das erforderliche Maß an Verantwor- tung mitzutragen. Aus diesem Grunde sollte auch der behandelnde Arzt mit dem Wunsch eines Patien- ten auf Konsultation eines anderen Arztes Verständnis entgegenbrin- gen. Die Wahlmöglichkeit unter Arzten darf aber durch den Patien- ten nicht willkürlich gehandhabt werden mit dem Ziel, sich unbe- rechtigt Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu verschaf- fen. Eine unkoordinierte Behand- lung durch gleichzeitige Inan- spruchnahme mehrerer Ärzte ist nicht nur medizinisch nicht zu ver- treten, sondern auch unwirtschaft- lich.
Die bestmögliche ärztliche Versor- gung erfordert die Zusammenarbeit der Ärzte untereinander und sollte ebenso wie die Zusammenarbeit mit Angehörigen anderer Heilberufe am besten unter Koordination eines Hausarztes nach den sachbezoge- nen Erfordernissen gestaltet wer- den.
Jedem Patienten muß eine bedarfs- gerechte, dem gesicherten Stand der medizinischen Entwicklung und der technischen Möglichkeiten ent- sprechende ärztliche Versorgung offenstehen. Die Organisationsfor- men der Krankenversorgung und das Leistungsangebot müssen die- sem Ziel dienen. Nur wenn dabei auch die individuellen Besonderhei- ten der Menschen berücksichtigt und die Erwartungen der Patienten an die persönliche Zuwendung des Arztes erfüllt werden, sind best- mögliche Leistungen zu erwarten.
Diese Voraussetzungen werden ge- fördert, wenn der Arzt Art und Ort
seiner Niederlassung sowie die Form seiner Berufsausübung in ei- gener Praxis selbst wählen kann.
Dazu gehört nicht nur die Entschei- dung, sich auf einem Gebiet der Medizin besonders intensiv weiter- zubilden und sich dann in eigener Praxis auf dieses Gebiet zu be- schränken, sondern auch die Mög- lichkeit, sich in Gemeinschaftspra- xen niederzulassen oder aber Pra- xisgemeinschaften zur partner- schaftlichen Nutzung von Räumen, technischen Einrichtungen und As- sistenzpersonal zu bilden. Der Arzt soll aus seiner beruflichen und so- zialen Verantwortung die Bedürfnis- se der Bevölkerung berücksich- tigen.
Um eine möglichst große Überein- stimmung zwischen dem Bedarf an Arzten verschiedener medizinischer Gebiete und den Entscheidungen der Ärzte für die Art und den Ort ihrer Tätigkeit zu erreichen, sind Bedarfsanalysen und Niederlas- sungsberatungen erforderlich.
In einem Gesundheitssystem, in dem jeder Arzt sich in freier Praxis niederlassen kann, muß durch die Rechtsordnung gewährleistet sein, daß der niederlassungswillige Arzt durch eine ausreichende Ausbil- dung und Berufserfahrung über die- jenigen Kenntnisse und Erfahrun- gen verfügt, die ihn zur Ausübung des Berufes in eigener Praxis befä- higen. Dies setzt voraus:
• Den Erwerb der erforderlichen theoretischen und praktischen Kenntnisse in der Medizin während des Studiums.
• Den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrung insbesondere auf dem Gebiet, auf dem sich der Arzt betätigen will im Anschluß an das Medizinstudium.
Bericht und Meinung 83. Deutscher Ärztetag: Grundsatz-Programm
„Der 83. Deutsche Ärztetag fordert vom Gesetzgeber sowie von den anderen Verantwortlichen in Bund und Ländern, daß künftig jede Um- und Neuorientierung im gesamten Gesundheitswesen — also nicht nur in der ambulanten ärztlichen Versorgung — nur unter der Mitwir- kung der gewählten Vertreter der Ärzteschaft erfolgt. Dies gilt auch für die medizinische Ausbildung in den Universitäten und akademi- schen Lehrkrankenhäusern.”
Zur Begründung erklärte Antrag- steller Dr. Raudszus:
„Die DGB-Gewerkschaften sehen es als selbstverständlich an, daß neue Produktionsverfahren in den Betrieben der Zustimmung der Be- triebsräte bedürfen. Dies muß auch befürwortet werden, da die Einführung neuer Produktionsme- thoden direkt den Arbeitnehmer in dieser oder jener Weise betreffen.
Mit der gleichen Selbstverständ- lichkeit müssen aber auch dann die Ärzte an jeder Änderung inner- halb des Gesundheitswesens mit- bestimmen und mitwirken kön- nen." Beifall. NJ
• Einige wesentliche, in diesem Bericht herangezogene Passagen des „Blauen Papiers" werden im vorliegenden Heft dokumentiert:
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Zur Frage Allgemeinmedizin/Hausarzt: darauf bezieht sich der nebenstehende Auszug („Freie Arztwahl auch unter Spezialisten — Koordinierung durch den Haus- arzt")
© Zur Selbstbeteiligung: die ein- schlägigen Passagen finden sich auf Seite 1450 f.
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Zur Familienpolitik: Auszüge auf Seite 1458 f.C) Zur „Ideologie": Seite 1456 („Gesundheitspolitik im Span- nungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft") DÄ
DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 22 vom 29. Mai 1980 1439
• Den Erwerb der erforderlichen Kenntnisse über die für die Berufs- ausübung als Arzt in freier Praxis geltenden Rechtsvorschriften.
Die bei der Niederlassung bestehen- den Kenntnisse und Erfahrungen müssen während der Berufsaus- übung durch regelmäßige Fortbil- dung laufend erhalten und vertieft werden. Die Qualität ärztlicher Lei- stungen sollte, soweit möglich, durch Maßnahmen der Qualitätssi- cherung gewährleistet werden.
Ein qualifiziertes, die gesamte am- bulante Versorgung umfassendes System der Krankenbehandlung und gesundheitlichen Betreuung setzt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den in freier Praxis nie- dergelassenen Allgemeinärzten ei- nerseits und spezialisierten Ärzten andererseits voraus. Dabei ist in erster Linie der Allgemeinarzt auf die Funktion des Hausarztes vorbe- reitet, weil er in umfassender Weise die gesundheitliche Betreuung des einzelnen und der Familie überneh- men kann.
Spezialisierte Ärzte vermögen zwar in Teilbereichen Lücken einer allge- meinärztlichen Versorgung auszu- füllen, sie können jedoch den Allge- meinarzt in seiner Funktion als Hausarzt nicht voll ersetzen. Vor- rangiges Ziel muß daher die Forde- rung einer gleichmäßigen auf Stadt-, Stadtrand- und Landgebiete erstreckten ärztlichen Versorgung der Bevölkerung durch Allgemein- ärzte sein.
Zur Erreichung dieses Zieles sollten folgende Maßnahmen eingesetzt werden:
O Verstärkte Integration der Allge- meinmedizin in Lehre und For- schung, die durch die letzte Novel- lierung der Approbationsordnung in das Universitätsstudium aufgenom- menen Pflichtvorlesungen in der Allgemeinmedizin und die Aufnah- me der Allgemeinmedizin als Prü- fungsfach reichen für sich allein nicht aus, um den Studenten in
ausreichendem Maße die Allge- meinmedizin nahezubringen. Erfor- derlich hierfür sind die Einführung praxisbezogener Seminarveranstal- tungen mit kleinem Teilnehmerkreis und die Ausbildung der Studenten in allgemeinärztlichen Lehrpraxen.
• Verstärkte Förderungen von Fa- mulaturen in der Allgemeinpraxis;
die in freier Praxis niedergelassenen Allgemeinärzte sollen in verstärk- tem Umfang Famuli aufnehmen und einheitlichen Kriterien für die Förde- rung von Famulaturpraxen Rech- nung tragen.
(I)
Die Einführung einer ausrei- chenden Assistentenzeit zum Er- werb praktischer Berufserfahrungen in der ärztlichen Berufsausübung nach Abschluß des Medizinstu- diums; in dem bisher dafür vorge- sehenen praktischen Krankenhaus- jahr kann der zukünftige Arzt derar- tige Berufserfahrungen nicht sam- meln, da er nach seiner Stellung nicht berechtigt ist, in der erforder- lichen Selbständigkeit Entscheidun- gen zu treffen und ärztliche Verrich- tungen durchzuführen.(I)
Bereitstellung und Ausschrei- bung von Planstellen an Kranken- häusern und von Weiterbildungs- stellen in der Allgemeinpraxis für solche Ärzte, die den ärztlichen Be- ruf als Allgemeinarzt ausüben wol- len; die Bereitschaft, in Kranken- häusern und in der freien Praxis Assistenzarztstellen für die Weiter- bildung in den für die Allgemeinme- dizin vorgeschriebenen Weiterbil- dungsgängen vorzuhalten, ist we- sentliche Voraussetzung dafür, daß in der ambulanten Versorgung eine ausreichende Zahl an Allgemeinärz- ten zur Verfügung steht. Auch be- legärztlich geführte Abteilungen eig- nen sich hierfür, da sie einen fach- übergreifenden Katalog ärztlicher Leistungen der Grund- und Regel- versorgung im stationären Bereich für diese Aus- und Weiterbildung anbieten.• Neugestaltung des Weiterbil- dungsganges für den Allgemeinarzt
mit stärkerer Ausrichtung auf die Allgemeinmedizin. Da es sich hier- bei um Maßnahmen zur Sicherstel- lung einer ökonomisch tragbaren und medizinisch qualifizierten per- sönlichen ambulanten Krankenver- sorgung handelt, sind finanzielle Förderungen durch die Kassenärzt- lichen Vereinigungen erwünscht.
Falls die Weiterbildungsmöglichkei- ten am Krankenhaus und in freier Praxis nicht ausreichen, sollten Möglichkeiten einer ergänzenden Weiterbildung an Akademien eröff- net werden. Die vorstehend ge- nannten Maßnahmen der Planung, Information und Förderung sollen langfristig einen Strukturwandel be- wirken, der eine haus- und familien- ärztliche Versorgung durch Ärzte für Allgemeinmedizin zur Regel macht und deren Zusammenarbeit mit denjenigen Ärzten, die sich auf ein Spezialgebiet in der Medizin be- schränkt haben, sinnvoll koordi- niert.
Die zunehmende Spezialisierung in der Medizin unter den an der ambu- lanten Versorgung teilnehmenden Ärzten verlangt einen verstärkten Informationsaustausch der Ärzte untereinander. Jeder erstbehan- delnde Arzt sollte daher dem weiter- behandelnden Arzt alle für die Durchführung der Weiterbehand- lung notwendigen Unterlagen zur Verfügung stellen, soweit es mit seiner Verpflichtung zur Beachtung des Gebots der ärztlichen Schwei- gepflicht vereinbar ist.
Dies gilt erst recht im Umkehr- verhältnis für die Information des erstbehandelnden Arztes durch ei- nen weiterbehandelnden Arzt bzw.
durch einen Arzt, der ergänzende Untersuchungen für den weiterbe- handelnden Arzt durchführt. Diese Verpflichtung sollte. auch im Ver- hältnis zwischen Arzten in freier Praxis und Krankenhausärzten stär- ker als bisher beachtet werden.
Eine umfassende Sammlung aller Gesundheitsdaten über einen Pa- tienten ist am ehesten dem Haus- arzt möglich.
Bericht und Meinung
83. Deutscher Ärztetag: Grundsatz-Programm
1440 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ARZTEBLATT