Aus dem "Blauen Papier"
Gesundheitspolitik- im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft
Im freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat wird die in den politi- schen Gesamtzusammenhang ein- gefügte Gesundheitspolitik
~ bestimmt durch den Wert der Gesundheit als eines wesentlichen Elementes der persönlichen Exi- stenz des Menschen
~ begrenzt durch den Vorrang des Grundrechtes der Menschen auf Schutz der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit.
Im freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat muß die Sozialpolitik
~ die für die Entfaltung der indivi- duellen Freiheit notwendige soziale Sicherheit schaffen
~ den Ausgleich der unterschiedli- chen individuellen Chancen und Ri- siken in der Gesellschaft ermögli- chen.
Wie alle politischen Aufgaben liegen die gesundheitspolitischen und so- zialpolitischen Aufgaben im Span- nungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Aufgaben des Staates müssen mit der persönli- chen Verantwortung des einzelnen abgestimmt sein.
Das rechtsstaatliche Bekenntnis zum Vorrang der Freiheit der Per- son bedeutet, daß jeder Mensch für die Gestaltung seines eigenen Le- bens zunächst selbst verantwortlich ist. Gesundheitspolitik und Sozial- politik dürfen die persönliche Ver- antwortlichkeit und Verantwor- tungsbereitschaft für die eigene Le- bensführung nicht schwächen, ab- bauen oder zerstören. Gesundheits- politik und Sozialpolitik müssen die persönliche Verantwortlichkeit viel- mehr fördern und ihr zur Entfaltung verhelfen. Die gesundheitspoliti- sche Aktivität des Staates muß sich darauf richten, hierfür die Möglich- keiten zu schaffen, indem sie den Menschen vor nachteiliger Beein- flussung von außen bewahrt und ihm die Chance zu individueller Ent- faltung gibt.
Aus dem Vorrang der gesundheitli- chen Verantwortung des einzelnen vor der Verantwortlichkeit der Ge- sellschaft und des Staates ergibt sich eine abgestufte Verantwortung nach dem Subsidiaritätsprinzip.
Nicht jede Aufgabe, die das Vermö- gen des einzelnen übersteigt, ist sogleich eine Aufgabe des Staates.
Zahlreiche Gemeinschaften und ge- sellschaftliche Gruppen - von der Familie bis zu kirchlichen Organisa- tionen und Versichertengemein- schatten - müssen hier je nach ih- ren verschiedenen Aufgaben und Möglichkeiten wesentliche gesund- heitspolitische Verantwortungsbe- reiche übernehmen. Die abgestuf- ten Verantwortungsbereiche be- treffen
~ die persönliche Verantwortung
~ die soziale, d.h. mitmenschli- che oder Gruppenverantwortung
~ die staatspolitische Verantwor- tung.
Ziel der auf die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit ge- richteten Gesundheitspolitik und Sozialpolitik muß es sein, den best- möglichen Effekt durch rationellen Einsatz der Mittel zu erreichen.
Zwangsmaßnahmen sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie zum Schutz der Allgemeinheit unerläßlich sind.
Wirksame Mittel der Gesundheits- politik und Sozialpolitik sind:
~ Einflußnahme auf Handeln und Verhalten der Bürger durch Bildung und Aufklärung sowie durch die Ge- setzgebung
~ Verwaltung (Organisation) der territorial organisierten Rechtsge- meinschaften und partieller Sozial- gebilde
~ öffentliche Investitionen und Subventionen.
ln einer freiheitlichen Gesellschafts- ordnung läßt sich Gesundheitspoli-
1456 Heft 22 vom 29. Mai 1980 DEUTSCHES ARZTEBLATT
tik nur in verantwortlicher Zusam- menarbeit zwischen dem Staat und seinen Bürgern und der sachver- ständigen Ärzteschaft verwirkli- chen.
Die in der Präambel zur Satzung der Weltgesundheitsorganisation gege- bene Definition des Begriffes "Ge- sundheit" als "der Zustand des vollständigen körperlichen, geisti- gen und sozialen Wohlbefindens"
kann in dieser universalen und tota- len Form nicht Grundlage einer Ortsbestimmung der Gesundheits- politik sein. Dieser Gesundheitsbe- griff ist irreal. Gesundheit ist die aus der personalen Einheit von sub- jektivem Wohlbefinden und objekti- ver Belastbarkeit erwachsende kör- perliche und seelische, individuelle und soziale Leistungsfähigkeit der Menschen ... Es gibt ein weites Feld fließender Ubergänge zwischen Ge- sundheit und Krankheit. Sozialpoli- tik und Gesundheitspolitik müssen dem gerecht werden.
Gesundheitspolitik und Sozialpolitik sind gleichrangige Elemente der all- gemeinen Politik. Nur die eigen- ständige Handhabung von Gesund- heitspolitik und Sozialpolitik sichert die sachgerechte Beachtung ihrer unterschiedlichen Kriterien.
Die Eigenständigkeit der Gesund- heitspolitik ergibt sich aus ihrer Aufgabe
~ die bestmöglichen Vorausset- zungen für Schutz, Förderung, Er- haltung und Wiederherstellung der Gesundheit jedes einzelnen Men- schen zu schaffen
~ in Abstimmung mit der Bil- dungs-, Wirtschafts-, Finanz- und Rechtspolitik sowie mit der eigen- ständigen Sozialpolitik eine optima- le Berücksichtigung des Gesund- heitswesens innerhalb der Einheit der gesamtpolitischen Zusammen- hänge zu ermöglichen.
Die Eigenständigkeit der Sozialpo- litik
~ bildet die Grundlage für soziale Gerechtigkeit und sozialen Aus- gleich
~ anerkennt den gesellschaftli- chen Pluralismus.