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Archiv "Chronische Schmerzen und ihre Ursachen" (25.10.1996)

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Große Fortschritte der Forschung haben die klinischen Vorstellungen vom Schmerz stark beeinflußt. Insbe- sondere die Frage, was Schmerzen chronisch macht, ist zu einem zentra- len Thema der Schmerzforschung ge- worden. Zur Erinnerung: Schmerzrei- ze werden über Nozizeptoren im peri- pheren Nervensystem aufgenommen, innerhalb des Rückenmarks auf Neu- rone des Hinterhorns umgeschaltet und zum Gehirn weitergeleitet.

Das Zentralnervensystem (ZNS) verfügt über verschiedene Me- chanismen, die das Schmerzemp- finden regulieren. So hat das Ge- hirn zum Beispiel durch die vom Hirnstamm zum Rückenmark absteigenden Hemmungssyste- me vielfältige Möglichkeiten, die empfangenen sensorischen Infor- mationen zu kontrollieren. Dabei werden hemmende chemische Botenstoffe ausgeschüttet, zu de- nen unter anderem die Opioide gehören.

In der Klinik kennt man seit langem Phänomene wie die Phantomschmerzen, die ohne ei- ne fortwährende afferente Erre- gung aus der Peripherie auftre- ten. Das legt die Vermutung na- he, daß sich in solchen Fäl- len im ZNS ein Schmerzgedächt- nis (Engramm) gebildet hat.

Auch psychophysiologische Untersu- chungen an Patienten weisen darauf hin, daß im Nervensystem plastische Veränderungen stattfinden können, die chronische Schmerzen verursa- chen oder deren Entstehen begünsti- gen. So sind evozierte Potentiale auf Schmerzreize bei Schmerzpatienten erhöht und zeigen bei Reizwiederho- lung eine geringere Habituation als bei Gesunden.

Wie kann die Neuroplastizität des ZNS zur Entstehung chronischer Schmerzen beitragen? Ein Trauma löst nicht nur Impulse in den Schmerznerven aus, die zum ZNS ge- leitet werden und dort eine Schmerz- wahrnehmung verursachen. Experi- mentelle Untersuchungen der letz-

ten Jahre haben vielmehr gezeigt, daß es bei persistierenden noxischen Reizen im Nervensystem zu bioche- mischen, molekularbiologischen und funktionellen Langzeitveränderun- gen kommt. So werden nach Durch- trennung eines peripheren Nervs in den betroffenen Neuronen langfristig neue Transmitter gebildet (zum Bei- spiel Galanin und das „vasoactive in- testinal peptide“), während die be-

kannten nozizeptiven Transmitter

„Substanz P“ und das „calcitonin- gene-related peptide“ (CGRP) her- unterreguliert werden. Dadurch wird das Zusammenspiel erregender und hemmender Faktoren bei der spina- len Schmerzverarbeitung gestört.

Neuropeptide

Auch bei der Migräne spielt die Fehlregulation von Neuropeptiden eine wichtige Rolle. Die Störungen gehen vor allem von den perivas- kulären Nervenfasern der meningea- len Blutgefäße aus. Aus den Nerven- enden, die wahrscheinlich gleichzeitig Nozizeptoren sind, werden Substanz

P und CGRP ausgeschüttet. Letzteres läßt sich während eines Migränean- falls auch vermehrt im venösen Blut des Kopfes nachweisen. Durch die Ausschüttung der Neuropeptide be- ginnt ein Teufelskreis: Peptidfreiset- zung – Vasodilatation und kapilläre Permeabilitätssteigerung – vermehrte Erregung der Nozizeptoren – ver- mehrte Peptidfreisetzung und so wei- ter. Die Wirkstoffe Azetylsalizylsäu- re, Ergotamin und Sumatripan brem- sen die Freisetzung der Neuropeptide und unterbrechen so den schmerzaus- lösenden Kreislauf.

Tierexperimente ergaben, daß nach der Durchtrennung eines peri-

pheren Nervs auch vermehrt Stick- stoffmonoxid (NO) gebildet wird, eine erst kürzlich im Nervensystem ent- deckte Botensubstanz, von der man mittlerweile weiß, daß sie häufig bei Schädigungen freigesetzt wird. NO wirkt unter anderem auch bei der Sen- sibilisierung der spinalen Neurone mit.

In den spinalen Zentren, die Schmerzinformationen aufnehmen und verarbeiten, findet man bei Schmerzreizen und Nervenverletzun- gen multiple langfristige Verände- rungen. So steigt zum Beispiel in Rückenmarksneuronen die Opioid- synthese: offensichtlich wird die kör- pereigene Schmerzabwehr als Ant- wort auf den Schadensreiz verstärkt.

Auf externes Morphin sprechen die A-2749 Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 43, 25. Oktober 1996 (25)

P O L I T I K MEDIZINREPORT

Chronische Schmerzen und ihre Ursachen

Schmerzreize induzieren in den Nervenzellen eine Kaskade von Genexpressionen. Als Folge kommt es zu tiefgreifen- den und langfristigen biochemischen Funktionsverschiebungen im Nervensystem, z. B. durch die veränderte Synthese von Neurotransmittern oder die Bildung modifizierter Rezeptorproteine. Grafik:Zimmermann

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spinalen Neurone dagegen vermin- dert an, wahrscheinlich weil nach ei- ner Nervenverletzung die Anzahl oder die Aktivierbarkeit der Opioid- rezeptoren sinkt. So läßt sich auch die klinische Beobachtung erklären, daß Schmerzen nach Nervenverletzungen (neuropathische Schmerzen) weniger gut auf eine Opioidbehandlung an- sprechen und die Dosis des Schmerz- mittels erhöht werden muß.

Beispiel Fibromyalgie: Als Er- gebnis dieser und anderer Vorgänge werden viele zentrale Neurone leich- ter erregbar und beginnen sogar, spontane Entladungen zu erzeugen, wenn ein peripherer Nerv durch- trennt wurde oder die nichtmyelini- sierten afferenten C-Fasern über län- gere Zeit wiederholt gereizt wurden.

Die verstärkte Expression von erregenden und die abgeschwächte Expression von hemmenden Trans- mittern tragen bei Fibromyalgie-Pati- enten wahrscheinlich zur erhöhten Schmerzempfindlichkeit und zum chronischen Schmerz bei. Auch Au- toantikörper gegen Serotonin oder dessen Rezeptoren können die stän- dige hemmende Kontrolle des Schmerzempfindens durch diesen Transmitter blockieren. Die schon seit langem bei der Fibromyalgie ein- gesetzten trizyklischen Antidepressi- va wirken analgetisch, weil sie die Wiederaufnahme von Serotonin am präsynaptischen Spalt hemmen. Der Botenstoff bleibt also länger wirksam.

Daß es im Nervensystem zu lang- dauernden plastischen Veränderun- gen kommen kann, überrascht nicht – schließlich schreibt man die Fähigkeit zu lernen schon seit langem einer sol- chen Plastizität zu. Erstaunlich ist je- doch die Vielzahl der langdauernden und bleibenden Veränderungen nach Trauma und Schmerzreizung.

Genexpression

Inzwischen weiß man aus Tierex- perimenten, daß die beobachtete Neu- roplastizität auf Veränderungen der Genexpression beruht. Nervenzellen enthalten induzierbare Gene (imme- diate-early genes), die durch noxische Reize aktiviert werden können. Es handelt sich dabei zum Teil um Gene, die man aus der Krebsforschung als

Onkogene kennt. Offensichtlich sind die von ihnen codierten Proteine an der Regulation vielfältiger Zellvorgän- ge beteiligt. Schmerzreize induzieren zum Beispiel die Gene c-fos und c-jun.

Die daraus resultierenden Pro- teine binden an bestimmte Stellen der DNA und lösen so die Transkription weiterer Gene und die Synthese der entsprechenden Proteine aus (wie Dynorphin und GABA). Schmerzrei- ze und andere pathophysiologische Situationen des Nervensystems, wie Ischämie oder Epilepsie, induzieren also eine Kaskade von Genexpressio- nen in den Nervenzellen. Die bereits früher beobachteten Veränderungen bei den Neuropeptiden, erregenden und hemmenden Transmittern und die nach Nervenläsionen auftretende Übererregbarkeit im Rückenmark können auf solchen Beeinflussungen der Gentranskription beruhen.

Diese Vorgänge bewirken wahr- scheinlich tiefgreifende und langfristi- ge biochemische Funktionsverschie- bungen im Nervensystem, zum Bei- spiel durch die Veränderung der Syn- these von Neurotransmittern oder die Bildung modifizierter Rezeptorpro- teine. Dabei kann es zu pathologi- schen Fehlentwicklungen der neuro- nalen Funktionen kommen, die zu ei- ner erhöhten Sensibilisierung führen und das Entstehen von Schmerzsigna- len im Nervensystem begünstigen.

Diese Erkenntnisse eröffnen neue Therapiemöglichkeiten. In meiner Arbeitsgruppe haben wir beispiels- weise untersucht, ob die induzierte Expression von c-fos durch Antisen- se-Oligonucleotide (ASOs) gehemmt werden kann. ASOs sind Nucleotid- stränge, die zu einem kurzen Stück ei- nes mRNA-Moleküls (in diesem Fall also c-fos) komplementär sind.

Sie lagern sich an die mRNAs an und verhindern deren Ablesen (Translation) und damit die Bildung der entsprechenden Proteine. Wir ha- ben das Rückenmark von Ratten uni- lateral mit ASOs gegen die c-fos- mRNA superfundiert und dann einen schmerzhaften Hitzereiz auf beide Hinterpfoten gegeben. Auf der Seite der ASO-Superfusion war die Zahl der c-fos enthaltenden Neurone deut- lich reduziert. Auch die klinische For- schung befaßt sich mit der Chronizität von Schmerzen, wobei man aufgrund

der eben erläuterten Ergebnisse der Grundlagenforschung die Hypothese aufstellte, daß eine rechtzeitige Be- handlung akuter Schmerzen präventi- ve Wirkung haben sollte. Dabei ist es nicht sinnvoll, den Schmerz auf die Be- wußtseinsvorgänge einzuengen. Man weiß, daß Menschen auch unter Nar- kose Schmerzreaktionen wie Zunah- me von Blutdruck und Herzfrequenz und Tränensekretion zeigen können.

Präventive Analgesie Wenn man also zum Beispiel bei einem chirurgischen Eingriff zusätz- lich zur Narkose auch Analgetika (wie Morphin) oder Lokalanästhetika zur Blockade der sensiblen Nerven aus dem Operationsgebiet gibt, sollte man langwirkende Veränderungen im Zentralnervensystem vermeiden kön- nen, die sonst als „Engramm“ oder

„Gedächtnisspur“ der Schmerzsitua- tion haftenblieben. Man stellt sich vor, daß die genannten Maßnahmen letztendlich das Auslösen der Tran- skription der oben genannten Gene (IEGs) verhindern. Eine solche Schmerzbehandlung sollte frühzeitig einsetzen und lange genug andauern.

Bei Untersuchungen, die keinen Effekt einer solchen präventiven Analgesie (pre-emptive analgesia) auf postoperative Schmerzen gezeigt haben, hat man sich vermutlich mit der falschen Art von Schmerzen, nämlich mit zu früh einsetzenden, beschäftigt. Andere Ergebnisse stüt- zen nämlich die Hypothese, daß sich die Chronifizierung von Schmerzen durch eine rechtzeitige präventive Analgesie vermeiden läßt. Bei Ampu- tation einer Extremität unter (zusätz- licher) Lokalanästhesie des zu durch- trennenden Nervs oder des Rücken- marks kann die Inzidenz späterer Phantomschmerzen weit abgesenkt werden. Wiederholte frühzeitige Ner- ven- oder Sympathikusblockaden mit einem Lokalanästhetikum können auch das Auftreten einer postherpeti- schen Neuralgie verhindern.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr.-Ing. Dott. med. et chir. h. c.

Manfred Zimmermann Im Neuenheimer Feld 326 69120 Heidelberg

A-2752

P O L I T I K

(28) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 43, 25. Oktober 1996 MEDIZINREPORT

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