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europathische Schmerzen sind ein qualvolles sensorisches Phänomen, das erhebliche Einschränkungen von Funktionsfähigkeit, Wohlbefinden und Stimmung verursacht. Häufige Ma- nifestationsformen sind die schmerzhaf- te diabetische Neuropathie (SDN) sowie die postherpetische Neuralgie (PHN).Entgegen der früher vertretenen Lehr- meinung, Opioide seien bei Nerven- schmerzen unwirksam, zeigt die aktuelle Datenlage, dass moderne Retardopioide beim opioidsensiti- ven Patienten nicht nur zu einer signifikanten Schmerzlinderung, sondern auch zu einer wesentli- chen Verbesserung der Lebens- qualität beitragen können.
In Deutschland leiden circa fünf Millionen Menschen an einem Diabetes mellitus.Amerikanischen Studien zufolge sind 20 bis 24 Pro- zent der Diabetiker von der SDN betroffen. Als wahrscheinliche Ri- sikofaktoren werden die Dauer der Stoffwechselstörung und ein schlecht kontrollierter Blutzucker- spiegel diskutiert (1).
Eine PHN entwickeln 25 bis 50 Prozent der Patienten, die an ei- nem Herpes zoster erkranken. Sie ist durch anhaltende Schmerzen, die län- ger als drei Monate nach Exanthemaus- bruch bestehen, gekennzeichnet und kann jahrelang nach Abklingen des Exanthems persistieren. Begünstigt wird sie durch ein höheres Lebensalter, die Schwere von Exanthem und Schmerz im Akutstadium, die Ausprägung der senso- rischen Beeinträchtigung sowie psychi- schen Stress (1).
Symptomatik: Der neuropathische Schmerz wird durch eine Schädigung sen- sorischer, motorischer und autonomer Nervenfasern ausgelöst. Bei der SDN ste- hen Schmerzen, Dysästhesien und unan-
genehme Parästhesien – meist der unte- ren Extremitäten – im Vordergrund der Beschwerden. Dagegen zeichnet sich das klinische Bild der PHN durch anhaltende Algesie im Exanthembereich aus, die als brennend, bohrend oder juckend mit ein- schießenden paroxysmalen Schmerzen beschrieben wird. Sie kann mit Hyper- ästhesien, Dysästhesien oder Allodynien assoziiert sein (2, 3, 4).
Pathophysiologische Mechanismen:
Für die Entstehung des neuropathischen Schmerzes werden verschiedene Mecha- nismen in der peripheren, spinalen und supraspinalen Signalverarbeitung ver- antwortlich gemacht. Zeitgleich und zeit- versetzt tragen sie zur Entwicklung der Sensitivierungsvorgänge bei (2). Eine Rolle scheinen unter anderem zu spielen:
> eine veränderte Expression und Kinetik der Ionenkanäle primärer Affe- renzen,
> vermehrte Wechselwirkungen zwi- schen somatischem und sympathischem Nervensystem,
> verlängerte Entladungen und Spon- tanaktivität der spinalen Neurone,
> die anatomische Umorganisation von peripheren, spinalen und supraspi- nalen Schaltstellen im Sinne einer peri- pheren und zentralen Sensibilisierung,
> eine Veränderung der supraspina- len deszendierenden Kontrolle sowie
> eine mangelnde zentrale Inhibiti- on durch niederschwellige Afferenzen.
Postherpetische Neuralgie: Zur Opio- idanwendung bei PHN liegen zwei ran- domisierte, placebokontrollierte, doppel- blinde Crossover-Studien vor, die die Wirksamkeit und Sicherheit von retar- dierten Opioiden in der Behandlung der Schmerzen von PHN nachweisen.
Watson und Babul (1998) vergli- chen bei 50 Patienten in jeweils zwei vierwöchigen Behandlungsintervallen die Wirksamkeit von retardiertem Oxy- codon mit einem Placebo. Untersucht wurden die Parameter Schmerz, Ver- träglichkeit und Alltagsaktivität. Die Initialdosis betrug zweimal täglich 10 mg Oxycodon und konnte nach Bedarf je- de Woche um 10 mg auf maximal 30 mg pro Einzeldosis erhöht werden. Die durchschnittliche Dosis betrug am En- de der Behandlungsphase 45 17 mg retardiertes Oxycodon täglich. 38 Pati- enten beendeten die Studie (3).
Raja und Mitarbeiter (2002) evaluier- ten bei 76 PHN-Patienten in drei jeweils achtwöchigen Behandlungszyklen den analgetischen und kognitiven Effekt von retardierten Opioiden (Morphin oder bei Intoleranz Methadon), trizykli- schen Antidepressiva (TZA) und Place- bo. Dabei erfolgte die Aufdosierung bis zur maximalen Schmerzreduktion oder bis zum Auftreten intolerabler Neben- wirkungen. 50 Patienten nahmen an zwei, 44 Patienten an allen drei Behand- lungszyklen teil (5).
Vor der Randomisierung sowie zwi- schen den Behandlungszyklen wurde in beiden Studien eine zwei- bis siebentä- gige Auswaschphase vorgenommen. In beiden Studien führten Opioide im Ver- gleich zum Placebo bereits ab der zwei- ten Therapiewoche zu einer hervorra- genden Reduktion der Schmerzen. Bei Watson und Babul gaben 58 Prozent der Patienten eine mindestens modera- te Schmerzlinderung durch Oxycodon an. Dabei wurde in der Oxycodongrup- pe ein NNT (number needed to treat) M E D I Z I N R E P O R T
Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 11⏐⏐17. März 2006 AA669
Neuropathische Schmerzen
Stellenwert der Opioide
Entgegen der früheren Lehrmeinung ist bei der diabetischen Neuropathie und der postherpetischen Neuralgie eine signifi- kante Schmerzreduktion zu erreichen.
Foto:IASP
von 2,5 (KI: 1,6–5,1) erzielt. Die signifi- kante Minderung der Schmerzen betraf die verschiedenen Schmerzcharaktere (Dauerschmerz, Allodynien, einschie- ßende Schmerzparoxysmen) gleicher- maßen. Der von Raja zusätzlich vor- genommene Vergleich zwischen Mor- phin/Methadon und TZA zeigte einen besseren analgetischen Effekt in der Opioidgruppe. Unter Opioiden wurde eine 38-prozentige, unter TZA eine 32-prozentige Schmerzreduktion erzielt.
Insgesamt ließen sich mit Opioiden die Schmerzen bei 52 Prozent der Patienten um ein Drittel reduzieren, mit TZA bei 33 Prozent (p = 0,06). Das NNT betrug für Opioide 2,7 (KI: 1,9–4,2) und für TZA 4,0 (KI: 2,6–8,9).
Verbesserte Lebensqualität
Als sekundärer Effekt wurde während der Opioidtherapie eine Steigerung der Lebensqualität festgestellt. So nahm der schmerzbedingte Behinderungs- grad (Categorical Pain Intensity Score) während der Oxycodongabe in der Watson/Babul-Studie signifikant ab. Ra- ja beobachtete eine Verbesserung der Schlafstörungen. Kognitive Leistungen waren unter therapeutischer Opioid- dosierung im Gegensatz zu TZA bei keinem der gemessenen Parameter be- einträchtigt, während in der TZA-Pha- se eine geringfügige, aber signifikante Minderung der Geschicklichkeit und psychomotorischen Funktion ermittelt wurde.
Ernsthafte Komplikationen oder ei- ne Toleranzentwicklung wurden unter der Einnahme von Oxycodon in keiner der beiden Studien registriert. Zu den opioidtypischen Nebenwirkungen zähl- ten Obstipation, Appetitverlust, Übel- keit, Schwindel, Somnolenz und Mund- trockenheit. Trotz der Nebenwirkungen gab abschließend die Mehrzahl der Patienten in beiden Studien der Opioid- behandlung sowohl im Vergleich zum Placebo als auch zum TZA signifikant den Vorzug.
Diabetische Neuropathie: Zur Opio- idanwendung bei SPN wurden ebenso zwei randomisierte, placebokontrollier- te Doppelblindstudien durchgeführt. In einer multizentrischen Vergleichsstudie von Gimbel et al. (2003) wurden 159
Patienten mit moderaten bis starken Schmerzen sechs Wochen lang in Paral- lelgruppen mit Oxycodon oder Placebo behandelt. Nach der Titration von initi- al 10 mg auf maximal 60 mg retardier- tem Oxycodon alle zwölf Stunden be- trug die durchschnittliche Tagesdosis 42 mg. Untersucht wurden der Effekt auf die tägliche Schmerzintensität und das Alltagsbefinden sowie das Auftre- ten unerwünschter Ereignisse. 115 Pati- enten schlossen die Studie ab (4).
Watson und Mitarbeiter (2003) eva- luierten im Crossover-Design die anal- getische Wirksamkeit, Sicherheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität von 45 SPN-Patienten mit mindestens mitt- leren Schmerzen in den unteren Ex- tremitäten unter der Therapie mit re- tardiertem Oxycodon und einem akti- ven Placebo (Benzatropin) in jeweils zwei vierwöchigen Behandlungsinter- vallen. Die Dosis wurde in wöchentli- chen Abständen von initial 10 mg um schrittweise jeweils 10 mg auf maximal 40 mg retardiertes Oxycodon alle zwölf Stunden erhöht. Im Durchschnitt er- hielten die Patienten 40 mg Oxycodon täglich. 36 Patienten kamen in die Aus- wertung (6).
Auch in diesen beiden Studien wur- den vor der Randomisierung als auch zwischen den Therapieintervallen eine mehrtägige Auswaschphase für Opioi- de vorgenommen und keine Patienten mit Substanzmissbrauch in der Vorge- schichte aufgenommen.
Signifikante Schmerzreduktion
Dauerschmerzen, kurze Schmerzepiso- den und Hautschmerzen sowie verschie- dene Schmerzintensitäten ließen sich in den Oxycodongruppen signifikant bes- ser beeinflussen als unter Placebo. Da- bei zeigte sich, dass eine signifikante Schmerzreduktion bereits während der Titrationsphase am dritten Behand- lungstag einsetzte und die Abnahme der Schmerzintensität mit einer Tagesdosis erreicht wurde, die einem Drittel der er- laubten Höchstdosis entsprach (4).
Die Schmerzen konnten dabei nach vierwöchiger Behandlungsdauer mit Oxycodon um durchschnittlich 53 Pro- zent gesenkt werden. Watson und Mitar-
beiter eruierten unter Oxycodongabe ei- ne 67,5-prozentige Schmerzlinderung bis zur letzten Behandlungwoche mit einem NNT von 2,6 (1,6–5,1) und einer Effekt- größendifferenz zum Placebo von > 0,8.
In beiden Studien kam es in der Verumgruppe zwar zu mehr opioidtypi- schen Nebenwirkungen als in der Pla- cebogruppe, die in einigen Fällen zum vorzeitigen Studienabbruch führten.
Schwere Unverträglichkeitsreaktionen traten jedoch nicht auf. Ein Patient erlitt Entzugssymptome während der Auswaschphase.
Sowohl Gimbel als auch Watson do- kumentierten eine signifikante Verbes- serung der gesundheitsbezogenen Le- bensqualität bei Patienten in den Oxy- codongruppen. Damit hat der hohe schmerzlindernde Effekt positiven Ein- fluss auf Aktivität und Stimmung der Patienten.
Fazit: Die analgetische Wirksamkeit und der therapeutische Nutzen von re- tardierten Opioiden in der Schmerzbe- handlung der Polyneuropathie konn- ten in vier placebokontrollierten, ran- domisierten Studien eindrucksvoll be- legt werden. Die Ergebnisse zeigen, dass die moderaten bis starken Schmer- zen von Patienten mit PHN und SDN durch Opioide klinisch bedeutsam ge- lindert werden und sekundär zu ei- nem erheblichem Zugewinn an körper- licher, psychischer und sozialer Akti- vität führen.
Bezüglich der SDN ist Oxycodon das einzige Opioid mit nachgewiese- ner Wirksamkeit. Allerdings erfordert die Behandlung mit allen Opioiden grundsätzlich eine sorgfältige Patien- tenauswahl, eine regelmäßige Verlaufs- kontrolle, eine stufenweise Aufdosie- rung sowie die symptomatische Begleit- behandlung der meist zu Therapie- beginn auftretenden Nebenwirkungen.
Dr. med. Uwe Junker Volker Figge, Hanna Ludwig M E D I Z I N R E P O R T
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A670 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 11⏐⏐17. März 2006
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit1106 abrufbar ist.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Uwe Junker
Arzt für Anästhesie und Spezielle Schmerztherapie Ltd.Arzt der Abteilung für Spezielle Schmerztherapie und Palliativmedizin
Sana-Klinikum Remscheid Burger Straße 211, 42859 Remscheid