Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 109|
Heft 31–32|
6. August 2012 A 1563 DOCUMENTA 13Nur mal kurz die Welt retten
Die Leiterin der diesjährigen Documenta hat sich viel vorgenommen.
Es geht ihr nicht nur um Kunst, sondern um ein neues, ganzheitliches Weltbild.
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ie Leiterin der Documenta 13 (d13) Carolyn Christov-Ba- kargiev hat sich viel vorgenommen.Schon bei der Vorbereitung der d13 hatte sie durch die Einbeziehung von Wissenschaftlern verschiede- ner Disziplinen deutlich gemacht, dass es ihr nicht nur um Kunst, son- dern um ein neues, ganzheitliches Weltbild, weg von alleiniger an- thropozentrischer Ausrichtung ge- he. Diese Weigerung, eine tradierte Kunstausstellung mit der üblichen Einflussnahme omnipräsenter Ga- lerien zu machen, erfährt und er- fühlt der Besucher bereits hautnah, wenn er den Hauptsaal im Museum Fridericianum betritt und ihn nichts als eine frische Brise in einem an- sonsten leeren Ausstellungsraum empfängt (eine Arbeit von Ryan Gander). Bei der Auswahl ihrer Künstler setzt die Kuratorin ver- mehrt auf junge, noch unbekannte Künstler. Eines ihrer Hauptthemen ist „Zusammenbruch und Wieder- aufbau“. Symbol dafür ist der nach einer Fotovorlage gewebte 5 × 17 Meter große Wandteppich mit af- ghanischen Kulturschaffenden vor den Ruinen des Darul-Aman-Palas- tes bei Kabul, der in der Rotunde
des Fridericianums platziert ist. Be- sonders im Fridericianum sind Kunstwerke höchster Qualität zu sehen. Allerdings kann man Chris- tov-Bakargievs Einordnung in einen größeren Sinnzusammenhang nicht unbedingt folgen, wenn sie schreibt:
„Die Gemälde Morandis stehen für eine Form der Zurücknahme seiner selbst, die Machtverhältnisse durch- einanderbringen kann, obwohl man sich machtlos fühlt“ (gemeint ist der Faschismus in Italien). Als eindeuti- ge Antwort auf den Einmarsch Mus- solinis in Äthiopien sind dagegen die Wandteppiche der norwegischen Künstlerin Hannah Ryggen zu se- hen, die 1937 zusammen mit Picas- sos Guernica auf der Pariser Welt- ausstellung erstmalig gezeigt wur- den. Ein weiteres Werk moderner Kunst beeindruckt ebenfalls im Fri- dericianum. In den Jahren 1941/42 schuf die deutsch-jüdische Künstle- rin Charlotte Salomon, die 1943 in Auschwitz im Alter von 26 Jahren ermordet wurde, 1 325 Gouachen, die sie unter dem Titel „Leben? oder Theater? Ein Singspiel“ zusammen- fasste.
Daneben gibt es noch viele, über die Stadt verteilte Kunststandorte.
Von den mehr als 50 Werken, die in den Wiesen und Wäldern der Karls - aue verteilt sind, lohnen nicht alle die oftmals weiten Wege. Ein unbe- dingtes Muss sollte der Besuch des Nordflügels des Hauptbahnhofs sein, denn dort befindet sich eines der berührendsten Werke der d13, die Filminstallation „Muster“ des 39-jährigen Berliner Künstlers Cle- mens von Wedemeyer. Das experi- mentelle Werk in drei Akten be- schäftigt sich mit der traurigen Ge- schichte des ehemaligen Benedikti- nerklosters Breitenau bei Kassel.
Das Kloster wurde zunächst in ein Gefängnis umgebaut, dann in ein Konzentrationslager, später in ein Mädchenerziehungsheim und schließlich in eine offene psych - iatrische Anstalt. Die Kunst Wede- meyers besteht darin, die verschie- denen Zeitstationen des Klosters le- bendig werden zu lassen.
Bei der Fülle des auf der d13 Dargebotenen wird man kaum an einem Tag alles sehen können, und ein erneuter Besuch bietet mit Si- cherheit noch neue Entdeckungen.
Die Documenta 13 endet am 16.
September.
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Dr. med. Helmut Jaeschke Die polnische
Künstlerin Goshka Macuga vor ihrem
„Wandteppich“ mit dem Titel „Of what is, that it is; of what is not 1“ (2012)
Foto: dapd