[84] Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 109|
Heft 11|
16. März 2012S C H L U S S P U N K T
KÖRPERBILDER: LUCIAN FREUD (1922–2011)
Millionenschwere Muse
S
ue Tilleys voluminöser Körper wabert über die altmodische Couch. Endlose Stunden hat die Bri- tin, Lucian Freuds Muse der 1990er Jahre, nackt in die- ser Position ausgeharrt. Sie ist “Benefits Supervisor Sleeping”, so der Titel, den der Maler seinem Aktbild von 1995 gab – ein ironischer Hinweis auf Tilleys Be- ruf als Angestellte eines Londoner Arbeitsamts. Zur Er- öffnung der großen Freud-Retrospektive Anfang Febru- ar in London stand die heute 55-Jährige erneut Modell, allerdings vor dem Gemälde und für die Pressefotogra- fen. Ihre fließende Robe verbirgt den grobschlächtigen, schon vom Alter gezeichneten Körper, den Freud 17 Jahre zuvor in seinem Gemälde offenbarte. Sie sei sehr stolz auf das Bild, sagte sie bei der Ausstellungseröff- nung, mit der Zurschaustellung ihrer Intimsphäre habe sie kein Problem: „Lucian liebte das Fleischliche. Ich denke, er hat mich engagiert, weil er bei mir so viel da- von bekam.”Es war eine von schonungslosem Realismus gepräg- te Fleischlichkeit, die den 1922 in Berlin geborenen Maler, Enkel des Psychoanalyse-Begründers Sigmund Freud, faszinierte. Wie ein Bildhauer modellierte der hochbegabte künstlerische Autodidakt, der 1933 mit seinen Eltern nach England emigriert war, auf der Lein- wand die nackten Leiber seiner Modelle. In seinem Atelier positionierte er sie unter grellem Oberlicht, um
kein Detail ihrer entblößten Körper zu übersehen und auf diese Weise „der Wahrheit und dem Wesen des Menschen näherzukommen“, wie Freud betonte. Das Sofa seines Ateliers, auf dem er Tilley über einen Zeit- raum von zwei Jahren malte, gerät so auch zur Anspie- lung auf den Diwan des berühmten Großvaters, auf dem dieser die Seele seiner Patienten erforschte. Immer wieder aufs Neue schauend, in zahllosen Sitzungen, da er sich weigerte, auch nur einen Pinselstrich ohne Mo- dell auszuführen, näherte sich Lucian Freud beobach- tend dem Menschen.
Mit seinen exhibitionistischen Aktporträts avancierte der Künstler, der letztes Jahr 88-jährig verstarb, zu einem der prominentesten figurativen Maler der Gegenwart.
Seine monströsen Körper erreichen monströse Preise:
„Benefits Supervisor Sleeping“ kam 2008 bei Christie’s New York für 33,6 Millionen Dollar unter den Hammer.
Einen höheren Betrag hatte bis dahin kein anderes Werk eines lebenden Künstlers erzielt. Der russische Milliar- där Roman Abramowitsch bezahlte so viel für „Big Sue“
– die millionenschwere Muse. Sabine Schuchart
Lucian Freud: „Benefits Supervisor Sleeping“, 1995, Öl auf Leinwand, 149,9 × 250,2 cm: Sie ist keine „Sleeping Beauty“, eher das Gegenteil.
Und doch ist das Gemälde eine Ikone der Aktmalerei, die englische „Financial Times“ brachte es auf der Titelseite.
Es zeigt die nackte, zweieinhalb Zentner schwere Sue Tilley, die Freud auf dem Sofa seines Londoner Ateliers verewigte.
Trotz ihrer derben Körperlichkeit strahlt sie eine gewisse Würde aus.
LITERATUR
Ingrid Lange-Schmidt: „Lucian Freud. Viel mehr als nur ,der Enkel‘ – Aspekte einer künstlerischen Entwicklung“, broschiert, 216 S., Lit-Verlag, Münster 2010; 24,90 Euro.
AUSSTELLUNG
„Lucian Freud Portraits“
National Portrait Gallery, St. Martin’s Place, London WC2;
www.npg.org.uk;
Mo.–Mi. und Sa./So. 10–18, Do./Fr. 10–21 Uhr;
bis 27. Mai.