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»Wem gehört der Schrank mit den heiligen Büchern?«

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»Wem gehört der Schrank mit den heiligen Büchern?«

Jüdische Religion

im Kontext israelischer Popularmusik

Pa pe nh ag en Jüd is ch e Rel ig io n i m K on te xt is rael is ch er P op ul ar m usi k

Felix Papenhagen

(2)
(3)

Jüdische Religion, Geschichte und Kultur

Herausgegeben von

Michael Brenner und Stefan Rohrbacher

Band 25

(4)

Felix Papenhagen

„Wem gehört der Schrank mit den heiligen Büchern?“

Jüdische Religion im Kontext israelischer Popularmusik

Vandenhoeck & Ruprecht

(5)

Umschlagabbildung: Fotograf Ludger Storcks Mit zwei Grafiken

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISSN 2197-0963 ISBN 978-3-647-57047-1

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

© 2016, Vandenhoeck&Ruprecht GmbH&Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/

Vandenhoeck&Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: Konrad Tritsch GmbH, Ochsenfurt

(6)

Für Gabriel Belchassan (sel. A.), Zev und Ofra Tene, Ruthi und Raphi Elkabets, Ludger Storcks, Nadav Porat-Chomsky,

Eran Sebbag und mein Töchterchen Yael

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Inhalt

Transliteration . . . 9 Einleitung und Aufbau der Arbeit . . . 11 1. Das Feld israelischer Popularmusik und Schlaglichter auf die

Wiederkehr des Religiösen im Zeichen der Globalisierung . . . 21 1.1 Popularmusik als Gradmesser für‚Israelität‘ . . . 23 1.2 Die Wiederkehr des Religiösen im Zeichen der Globalisierung . . . 29 1.3 Das musikalische Feld und Religion . . . 43 2. Forschen im Künstlerfeld–Methoden und Empirie . . . 53

2.1 Der Kanon, das männlich dominierte Sample und die Grenzen des Feldes . . . 55 2.2 Verwendete Quellen–Beschreibung, Auswahl, Kritik . . . 62 I. Liedtexte als Quellen . . . 63 II. Mit Künstlern reden–Interviews, teilnehmende Beobachtung

und Selbstreflexion . . . 67 III. Tonträger und Booklets–Eine kritische Bestandsaufnahme

von Alben und Kompilationen . . . 81 IV. Daten aus dem Internet . . . 89 3. Sechs Musiker des Feldes . . . 93

I. Chanan Yovel–der Sänger aus dem‚roten Elternhaus‘

veröffentlicht sein‚Persönliches Gebetbuch‘ . . . 93 Musikalischer Werdegang und Yovels Kritik an der

Traditionslosigkeit . . . 96 Exkurs: Der Rabbi Shlomo Carlebach . . . 102 Yovels‚Persönlicher Siddur‘ . . . 110 ZwischenfazitChanan Yovel–Ein zionistischer Musikpionier als strategischer Brückenbauer und Tosafist . . . 123

(9)

II. Ariel Silber–Der Fall des politisch Bekehrten . . . 129

Biografie und musikalischer Werdegang . . . 130

Politisch korrekt? Religiöse und politische Lieder heute . . . 154

ZwischenfazitAriel Silber . . . 163

III. Die klaren Botschaften des Kobi Oz–Vom Schmelztiegel zum Salat mit Judentum als Marinade . . . 168

Psalmen der Unschlüssigen–‚mismorej nevochim‘ . . . 177

ZwischenfazitKobi Oz . . . 193

IV. Adi Ran–Der fröhliche Kultchassid abseits des Mainstreams . . . 197

‚Der Letzte im Volk‘und die Lieder des Na-Nach-Chassiden Adi Ran . . . 206

ZwischenfazitAdi Ran . . . 235

V. Gabriel Belchassan(1976–2013)–Probleme des Propheten . . 239

Herkunft und musikalischer Werdegang . . . 242

Die Lieder Gabriel Belchassans . . . 248

Exkurs: Grenzlinien des Feldes . . . 266

ZwischenfazitGabriel Belchassan . . . 269

VI. Yoni Genut–Nationalreligiös von Geburt. Das Genre der‚Neuen jüdischen Musik‘ . . . 274

Die Lieder Yoni Genuts . . . 283

ZwischenfazitYoni Genut . . . 299

4. Schlussbetrachtung . . . 303

Zusammenfassung . . . 304

Fazit . . . 312

5. Literatur und Nachweise . . . 317

5.1 Literatur . . . 317

5.2 Filmografie, Videografie und diverse Quellen . . . 327

5.3 Diskografie . . . 330

5.4 Liste der Interviewpartner . . . 333

5.5 Besuchte Konzerte . . . 335 Inhalt 8

(10)

Transliteration

Die hier verwendete einfache Transliteration orientiert sich an der RGG4.1Ei- gennamen wie Band- und Musikernamen sind häufig in unterschiedlicher eng- lischer Schreibweise sowohl auf Tonträgern als auch im Internet zu finden. Hier werden sie in der Regel im Sinne der o.g. Transliteration wiedergegeben. Das Auffinden von Künstlern oder Tonträgern im Internet (und hier ist die englische Sprache Richtschnur) wird durch einen Blick in die Diskografie oder auf die Internet-Links leicht möglich.

Eingebürgerte Worte wieKibbuz,Kippaoder jüdische Feiertage wieSchawuot werden nicht transliteriert, aber meist in einer Fußnote kurz erklärt. Desgleichen werden wenige, zumeist bekanntere Worte wie SchabbatanstattSamstagoder Sabbatverwendet. Autorennamen aus Zeitungen oder privaten Blogs, die ich nur auf Hebräisch gefunden habe und von denen keine englische Transliteration zu finden ist, gebe ich auch auf Hebräisch an. Namen von Institutionen, werden in der von ihnen selbst verwendeten Transliteration wiedergegeben, z.B.Bet Alma, stattBejt Alma.

1 „Wörter aus fremdschriftlichen Alphabeten werden in oder mit Transliterationen geboten, sofern sich nicht die deutsche Schreibweise eingebürgert hat (Peking statt Bejing). […]

Nachbiblisches Hebräisch: Konsonanten:אim Wortinnern’, am Wortanfang und Wortende nicht wiedergegeben,בv,b (im Wortinnern verdoppelt),הh (am Wortende nicht wieder- gegeben,וw,זs,חch,טt,יj,כkh,k (im Wortinnern verdoppelt),סs (im Wortinnern verdoppelt), ע(am Wortanfang nicht wiedergegeben),פf,פp (im Wortinnern verdoppelt),צz, קq,s,sh,תt. Vokale: ..,ֶe,ָ,ַa,ֽ ְ (mobile) e, übrige Vokale wie gesprochen (sefardisch).“

RGG43, 2000. S. XIX.

(11)

Dank

An dieser Stelle möchte ich mich zunächst bei den deutschen SteuerzahlerInnen für die Finanzierung und den Initiatoren und aktiv mitwirkenden Kollegiaten und Professoren des DFG-geförderten Leipziger Graduiertenkollegs„Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dynamik“ für eine einsichtsvolle und auch menschlich aufbauende Zeit in Leipzig bedanken!

Die Veröffentlichung der Dissertation in Buchform wurde durch die Rei- henherausgeber Stefan Rohrbacher und Michael Brenner, eine großzügige Druckbeihilfe der‚Alfred Freiherr von Oppenheim-Stiftung zur Förderung der Wissenschaften‘ sowie durch die großzügige Unterstützung des Instituts für Jüdische Philosophie und Religion (Hamburg), in der Person von Giuseppe Veltri gefördert und dadurch überhaupt erst möglich. Ihnen und auch meinem Zweitgutachter Christoph Jacke sei hiermit herzlich gedankt!

Ohne das wunderbare Interesse aller Befragten wären die aufgeworfenen Fragen unbeantwortet geblieben. Ihnen gilt mein größter Dank!

Transliteration 10

(12)

Einleitung und Aufbau der Arbeit

‚Wem gehört der Schrank mit den heiligen Büchern?‘

Traditionsgemäß liegt im Judentum die Deutungshoheit über die religiösen Texte auf Seiten religiöser Sachverständiger. In deren Haushalten und Biblio- theken stehen‚ausschließlich‘heilige Bücher (Tora, Talmud etc.), sodass sie ei- gentlich gar keinen separatenSchrank für religiöse Bücher brauchen. Die in Israel durchaus verwendete Formulierung ‚der Schrank mit den heiligen Büchern‘

(Chaim Nachman Bialik), beziehungsweise die provozierende Frage danach,

‚wem der Schrank gehöre‘, verweist sogleich auf den Kreis der Fragenden als aufgeklärte bzw. säkulare Juden. In diesem Sinne wurde die Frage 2013 von der Wissenschaftlerin Ruth Calderon in ihrer viel beachteten Antrittsrede als Par- lamentarierin vor der Knesset gestellt–eine„YouTube-Sensation“1. Ihre Antwort auf die Frage; ihr Aufruf lässt aufhorchen:

Die Tora ist nicht das Eigentum einer Bewegung oder einer anderen. Sie ist ein Ge- schenk, das jeder von uns bekam […]. Niemand nahm uns [den Säkularen, F.P.] den Talmud und die rabbinische Literatur. Wir gaben sie mit unseren eigenen Händen fort […]. Die Zeit ist gekommen, uns zurückzuholen, was unser ist, um uns an den kul- turellen Reichtümern zu erfreuen, die auf uns warten, für unsere Augen, unsere Vor- stellungen, unsere Kreativität.2

***

1 Die Rede wird im Anrisstext eines Artikels der Jerusalem Post als„overnight YouTube sen- sation“bezeichnet. Harkov, Lahav: Meet the MK. Ruth Calderon. In: Jerusalem Post, 21.02.

2013. http://www.jpost.com/Features/In-Thespotlight/Meet-the-MK-Ruth-Calderon (Stand:

18.02.2014).

2 Calderon, Ruth: [Rede vor der Knesset, 2010]. http://www.youtube.com/watch?v=

S8nNpTf7tNo (Stand: 14.06.2013). Sofern nicht anders gekennzeichnet, stammen sämtliche Übersetzungen aus dem Englischen und Hebräischen von mir (F.P.).

(13)

Die israelische Musik gilt heute erstaunlicherweise als zentraler Schauplatz für die kreative und hier mit neuer Vehemenz geforderte Auseinandersetzung mit erwähnten Reichtümern. Weil das Thema Religion, das in der Geschichte israe- lischer Popularmusik allenfalls eine nebensächliche oder gar belächelte Rolle spielte, neuerdings im Mainstream israelischer Musik angekommen ist, befasse ich mich in vorliegender Arbeit mit jüdischer Religion in israelischer Popular- musik.

Popularmusik3 wird in dieser Arbeit insofern als Seismograph für gesell- schaftliche Veränderungen verstanden, als dass sich die jüngere Geschichte des kleinen Einwanderungslandes Israel auch in dessen Musikkultur spiegelt. Dies geschieht freilich in einer Weise, die ferner vom tagespolitischen oder legisla- turperiodischen ‚Zickzack-Kurs‘ liegt, wenn sie von diesem auch nicht unab- hängig ist.4 In der vorliegenden Abhandlung wird davon ausgegangen – der historische Nachweis für Israel wurde von den zwei herausragenden israelischen Wissenschaftlern Regev und Seroussi bereits erbracht (Kap. 1.1)–dass Lieder nicht in einem zweckfreien Raum geschrieben, populär und kanonisiert werden, sondern erst vor dem kritisch-reflektierten Hintergrund der zeit- und ideenge- schichtlichen Entwicklungen verstehbar werden.5

3 Das von Peter Wicke als„Sprachungetüm“bezeichnete Wort‚Popularmusik‘(Wicke, Peter:

„Populäre Musik“als theoretisches Konzept. In: PopScriptum. Nr. 1. Begriffe und Konzepte.

Berlin 1992) meint im vorliegenden auf Israel bezogenen Text, nicht ausschließlich die Musik (Kombination Musik/Gesang), die populär ist oder warallerdings meist mit der Motivation

‚populär zu werden‘geschaffen wurdesondern modern produzierte Musik im Sinne der lokalspezifisch ausgeprägten„Rockästhetik“, die nach Regev und Seroussi seit den 1980er Jahren als Dominante israelischer Popularmusik gilt (Kap. 1.1) bzw. Regev, Motti: Ethno- National Pop-Rock Music. Aesthetic Cosmopolitanism Made from Within. In: Cultural So- ciology 1/3, 2007. S. 317–341. Diese Dominanz wiederum ist tatsächlich mit lokalspezifischen

„Machtpositionen“(Per[e]lson, Inbal: Power relations in the Israeli popular music system. In:

Popular Music, 17/1, 1998. S. 113–128, 127) und„subtilen Mechanismen kultureller Macht- ausübung“(Wicke 1992) verbunden.

4 Im israelischen Kontext und für spezifische Situationen wurde ihr sogar eine sekundäre Rolle als„agent“(Agens, Akteur, Vermittler) für sozialen Wandel zugesprochenwenn auch in vorsichtiger Form folgender rhetorischer Frage:„Auch wenn die musikalische Spiegelung von sozialem Wandel häufig kommentiert wurde, wurde die Fähigkeit [von Musik, F.P.] zur Vorhersage [ability to predict] oder sogar Einflussnahme auf sozialen Wandel weitaus seltener diskutiert. […] Natürlich determiniert Musik keine sozialen Beziehungen, doch hat sie nicht in spezifischen Situationen, in relativ begrenzten Zeiträumenwie z.B. der Zeitraum in welchem sich östlich-jüdische Identität formiert, so wie es heute [mittels der‚orientalischen‘musika misrachit, F.P.] in Israel geschiehtzumindest eine sekundäre Rolle als Agens von sozialem Wandel?“Halper, Jeff; Seroussi, Edwin; Squires-Kidron, Pamela: Ethnicity and Class Culture in the Popular Music in Israel. A Report on theMusica MizrahitProject. In: Braun, Joachim;

Shavit, Uri (Hg.): Studies in Socio-Musical Sciences. Ramat Gan 1998. S. 171–181, 174.

5 In den ersten Sätzen ihres Buches verweisen sie auf die„extreme Komplexität des israelischen Falles“und stellen einen interdisziplinären Zugang für die Untersuchung israelischer Popu- larmusik als unerlässlich heraus. Letzterer wird auch hier angestrebt. Vgl. Regev, Motti; Se- Einleitung und Aufbau der Arbeit 12

(14)

Ein solch zentraler Hintergrund ist das gesellschaftliche junge Phänomen der

‚Wiederkehr des Religiösen‘, das seit den 1990er Jahren in Israel eine wesentliche Rolle spielt (Kap. 1.2). Eine Zunahme von Religiosität wird auch durch Ein- schätzungen demografischer Entwicklungen und demoskopische Datenerhe- bung statistisch gestützt (ebd.). In seinem BuchDie jüdische Renaissance–Vom alten Hebräer zum neuen Juden(2010) kommt der Autor Yair Sheleg auf ver- schiedene Aspekte des Phänomens zu sprechen. Über die Musik schreibt er kurz:

Das herausragendste Feld der […] jüdischen Renaissance ist das des Popsongschrei- bens. Das ist kein Wunder, denn es war immer der geschätzte große Gradmesser für den Zeitgeist. […] Im letzten Jahrzehnt beschäftigt man sich mehr als früher mit Glaube und Gott. Die Herausragendsten sind die Bekehrten [chosrim bi-tshuva][.] […] [Der Ra- diosender, F.P.] Reshet Gimel hat nun auch Stunden für jüdische Musik. […] Auch nehmen sie [die Musiker, F.P.] klassische mittelalterliche Piutim auf. Und vielleicht ist es noch interessanter, dass diese dem säkularen Ohr sehr fremd sind.6

Neben der Musik ist das, was Sheleg als‚jüdische Renaissance‘bezeichnet und was im Folgenden unter‚Wiederkehr des Religiösen‘firmiert, auf der gesamt- gesellschaftlichen Ebene durch Folgendes repräsentiert: Säkulare, private und institutionalisierte Gruppen befassen sich in ihrer Freizeit mit religiösen Schriften, setzen sich mit jüdischer Religion auseinander. Das Phänomen äußert sich in der Politik, aber auch in TV-Serien, Filmen, Theaterstücken und spezi- fischen Festivals. Als großes Aushängeschild dieser Wiederkehr hebe ich die zahlreichen Gründungen von säkularen Lernhäusern (batej midrash) sowie die Singgemeinschaften (kehilot sharot) hervor. Das erste säkulare Lernhaus (bejt midrash) in dem jüdische Texte studiert werden, wurde 1989 von der eingangs zitierten Ruth Calderon eröffnet. In Singgemeinschaften lernen interessierte Menschen vorwiegend orientalische Liturgie (Piut, Pl.Piutim), also synagogale

‚Gebetslieder‘. Von diesen Gemeinschaften wurden seit 2004 landesweit min- destens zehn gegründet.

Die Erklärungsversuche zu den Ursachen für diese Wiederkehr des Religiösen, für die neue Popularität der Beschäftigung mit religiösen Themen, sind ebenso vielseitig wie umstritten. Unumstritten ist hingegen, dass hier Musik und po- puläre Kultur bzw. Musik als‚Nukleus populärer Kultur‘7, von Anfang an eine zentrale, diesen Trend verstärkende bzw. katalysierende Rolle spielte.8

roussi, Edwin: Popular Music and National Culture in Israel. Berkeley (u.a.) 2004. S. VII. Ihr Buch wird im Theorieteil dieser Arbeit eingehender behandelt (Kap. 1.1).

6 Sheleg, Yair: The Jewish Renaissance in Israel Society. The Emergence of a New Jew. Jerusalem 2010. (Hebr.) S. 82f.

7 Diese, auch im israelischen Fall, treffliche Formulierung ist von Jacke entlehnt. Vgl. Jacke, Christoph: Einführung in Populäre Musik und Medien. Berlin 2009. S. 47.

8 Auch Regev und Seroussi argumentieren dafür:„[E]in Hauptargument dieses Buches ist, dass Popularmusik [popular music] in Israel vor allem als ein führendes Gebiet in der symbolischen

Einleitung und Aufbau der Arbeit 13

(15)

Auf den ersten Blick wird das Phänomen in den Musikgeschäften am zu- nehmenden Umfang des Angebots von religiösen Alben augenscheinlich. Und nicht nur dort werden Alben uneinheitlich in diversen Genres9rubriziert. Wie die Interpretation der Wiederkehr allgemein, wird die Zunahme religiöser Thematik in der Musik kontrovers bewertet: Mit Hoffnung und Wertschätzung ist von nationaler Bekehrung oder nationalem Sinneswandel die Rede; mit Skepsis von einem Trend oder einer„neuen religiösen Welle“, welcher die Säkularenper se ablehnend und aufgeklärt arrogant gegenüberstünden oder der man nunmehr die „kalte Schulter“ zu zeigen hätte, da dieses „Phänomen“ von zwei Alben abgesehen, nicht viel Gutes hervorgebracht habe.10

Auf den zweiten Blick in die CD-Regale wird ersichtlich, dass die Zunahme religiöser Themen nicht durch eine Generation von Newcomern im Musik- business eingeleitet oder‚ausgelöst‘wurde, sondern im Wesentlichen durch die Annäherung oder die Einstellungsänderungen bereits bekannter, z.T. sehr be- liebter Rockmusiker. Letzteres ist ein erstes Ergebnis und für die vorliegende Arbeit insgesamt wichtig sowie in Hinblick auf die von Pierre Bourdieu ver- wendete Theorie des künstlerischen Feldes (Kap. 1.3). Hier stellt sich für mich die Frage nach den biografischen Hintergründen und Motiven vor allem dieser Musiker, für ihre Hinwendung zur Religion und die Frage nach ihrer Stellung im Bezug auf die Wiederkehr des Religiösen. Im Einzelfall impliziert diese Hin- wendung zur Religion einen biografischen Bruch, der mit einer Konversion vergleichbar ist. Im Extremfall gibt es Einstellungsänderungen von der linken, liberalen, progressiven Seite des politischen Spektrums auf die extrem-rechte, traditionalistisch-konservative Seite. Langes lockiges Haar, dick aufgetragener roter Lippenstift werden heute auf der Bühne mit Kopftuch, langen Ärmeln kontrastiert oder ein nackter Oberkörper für einen langen Bart, Schläfenlocken und Kippa eingetauscht. In einigen, von den Medien stets kommentierten Fällen gab es Demonstrationen gegen die von einzelnen Rabbinern und religiösen Sängern geforderte Zweiteilung des Publikums nach Frauen und Männern. Die entgegengesetzte Bewegung, also die Abkehr von religiösen Einstellungen im Feld israelischer Popularmusik, ist nicht nur medial weniger präsent.

Repräsentation von Israelität [engl.Israeliness, hebr.israeliut] verstanden werden sollte.“

Regev; Seroussi 2004, S. 2.

9 Sowohl aufgrund der verwirrenden Uneinheitlichkeit als auch aufgrund der Vagheit der Einteilung nach Genresin Musikgeschäften, durch die Musiker selbst, durch Radiomo- deratoren, Produzenten, Rezipienten, kurz, der Akteure des Feldes israelischer Popularmu- sik, und auch auf Rat einiger Wissenschaftlerhabe ich mich dazu entschlossen, den Gen- rebegriff in dieser Arbeit, bis auf wenige Ausnahmen (v.a. in Kap. 3.VI), nicht zu verwenden.

10 So der bekannteste Musikkritiker der Zeitung Haaretz, Ben Shalev. Shalev, Ben: Musical Palette of Many Colors. In: Haaretz, 28.05.2009. http://www.haaretz.com/musical-palette-of- many-colors–1.276854 (Stand: 17.03.2014).

Einleitung und Aufbau der Arbeit 14

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Einer der vielen Widersprüche, die in dieser Arbeit zur Sprache kommen, liegt grundsätzlich in der Verbindung von Religion und Künstlerperson bzw. Popu- larmusik. Letztere ist ja sogarper definitionemfür ein möglichst breites Kollektiv verfasst. Allgemein formuliert, ist auch die jüdische Religion traditionsgemäß etwas Kollektives, etwas ‚Nationales‘. Dem steht aber konkret das starke

‚Künstler-Ego‘gegenüber, das für das Auf-der-Bühne-Stehen gebraucht wird.11 Das sowie der Umstand, dass sich diese Künstler-Egos durch ihre Rezeption von religiösen Texten potenziell und ungefragt in eine religiös-kollektivistische Tradition einschreiben, ist ihnen nur allzu bewusst. Es stellt sich die Frage, wie sie mit diesem Widerspruch umgehen?

Somit lauten weitere Fragestellungen dieser Arbeit: In welcher Form findet sich jüdische Religiosität in israelischer Popularmusik wieder, und welche Be- deutung messen ihr die beteiligten Musiker und Akteure in ihrem Schaffen bei?

Was sind ihre Beweggründe für eine Auseinandersetzung mit religiösen Themen?

Was ist ihr Selbstverständnis? Welche Ideen und Werte entnehmen sie der Tra- dition und welche nicht? Wie wirkt sich die neu entdeckte Religion auf ihre Sicht auf die Welt aus? Welche Strategien entwickeln sie? Wie äußert sich der Wandel in ihrem Alltag? Konkreter formuliert, geht es vornehmlich um die Liedinhalte: Gibt es Botschaften (messages) darin? Was bringen die Musiker auf welche Weise zum Ausdruck? Welche Themen und Probleme werden von den Interpreten aufge- griffen und prononciert? Wofür stehen diese? Welche lassen sie außen vor? Wie ist die katalysierende Wirkung von Liedern im Kontext der Wiederkehr des Reli- giösen konkret greifbar zu machen?

Zur Beantwortung dieser Fragen und in Hinblick auf die Durchführbarkeit einer Untersuchung dieses komplexen Themas, das hier bewusst explorativ an- gelegt ist, stelle ich Musiker vor, die sich in ihrer Arbeit auf kreative Weise mit Religion auseinandersetzen. Im Sinne einzelner Tiefenbohrungen wurden sechs Künstler ausgewählt (und deren meist jüngeresŒuvre fokussiert), anhand derer das Phänomen und die Problematik von Religion in israelischer Popularmusik ausgeleuchtet wird. Die vorliegende Studie ist auf Methoden der qualitativen Sozialforschung gestützt. Sie beinhaltet texthermeneutische Liedtextanalysen und kombiniert Datenerhebungsformen wie die Durchführung von narrativen Interviews und die teilnehmende Beobachtung auf Konzerten (für einen breit gefächerten Überblick über die Vorgehensweise, die verwendeten Quellen etc., vgl. Kap. 2.2). Für ein umfängliches Verständnis der Problematik interviewte ich 11 Ich danke dem Sänger Yossi Babliki für diesen offen geäußerten Gedanken, der sich mehrfach im Feld finden lässt, bspw. bei der Sängerin Etti Ankri. In dieser Arbeit wird er u.a. in Kap. 3.

VI aufgegriffen. (Interview mit Yossi Babliki am 29.03.2011, Tel Aviv.) Zur Auflistung der Personen, die für die vorliegende Arbeit interviewt wurden, vgl. 5.1. Ich hebe hervor, dass ohne sie die vorliegende Arbeit in dieser Form nicht denkbar wäreihnen sei hiermit von Herzen gedankt!

Einleitung und Aufbau der Arbeit 15

(17)

neben den ausgewählten Künstlern vorwiegend am Musikbusiness beteiligte Akteure, also weitere Musiker, Radiomoderatoren, Produzenten, Kritiker, Dichter, Wissenschaftler usw. (vgl. 5.1). Genannter Zugang, das heißt die Be- schränkung auf eine geringe Zahl von Künstlern, geht zu Lasten der Repräsen- tativität der Auswahl. Es gilt, einen Teil des fluktuierenden Feldes israelischer Popularmusik in einer vielschichtigen, auf diese sechs Protagonisten fokussier- ten Momentaufnahme zu erfassen; die genannte Beschränkung wird durch den explorativen Charakter und die Tiefe der Verbindung zu diesen Vertretern des Feldes ausbalanciert. Folgende Musiker sind Gegenstand der Untersuchung:

Der aus einem Kibbuz stammende SängerChanan Yovel(*1946) ist für seine vom Zionismus geprägten Lieder, die als Nostalgieklassiker gelten, bekannt. 2009 veröffentlichte er seinpersönliches Gebetbuch(eine Kombination aus Album und Buch).

Der hier bekannteste Sänger ist Ariel Silber (*1943). Als spaßiger, politisch linksorientierter Rock’n’Roller prägten seine Lieder Generationen. Heute ist er für seine religiöse Kehrtwende und seine politisch rechts-radikalen Äußerungen bekannt.

Kobi Oz(*1969) stammt aus der misrachischen Peripherie der Gesellschaft und hat sich schon zu Beginn seiner Karriere vorgenommen, die israelische Identität mittels Musik umzuprägen und der untergeordneten Stellung orientalischer Juden entgegenzuwirken. Heute engagiert er sich stark für eine intensive Aus- einandersetzung mit der Religion.

Der SängerAdi Ran(*1961) war ebenfalls ein säkularer Rocker und wirkte vor allem in der Metropole Tel Aviv. Er bekehrte sich zum Chassidismus und gilt den Beteiligten des Feldes alsderPionier jüdischer Rockmusik.

Der SängerGabriel Belchassan(1976–2013, sel. A.) verstarb noch vor der Fer- tigstellung dieser Arbeit. Auch er stammt aus der geografisch-kulturellen Peri- pherie des Landes und aus religiösem Elternhaus. Unter den Kritikern erwarb er sich landesweit hohes Ansehen. Persönlich suchte er sich zeitlebens von der Religion zu entfernen.

Yoni Genut(*1973) ist ein Sänger, der dezidiert für Einstellungen des national- religiösen Sektors steht. Mit anderen Musikern prägte er die sogenannte Sparte

‚origineller jüdischer Musik‘mit. In seinen Liedern verhandelt er unter anderem die Berührungspunkte von Kunst (Musik) und jüdischer Religion. Dieses Thema unterrichtete er auch an einer Jeschiwa (Talmudhochschule).

Einleitung und Aufbau der Arbeit 16

(18)

Für vorliegende Arbeit wählte ich aus dem Korpus gegenwärtiger israelischer Popularmusik Künstler und deren Artefakte aus und untersuchte sie auf dieje- nigen Erscheinungen hin, die in einem engeren oder auch weiteren Sinne mit Religion oder Religiösem zusammenhängen. Zunächst konzentriere ich mich auf die Liedtexte und damit auf die„explizite Religiosität, die sich auf der Ebene der Erzählungnachweisen lässt“12. Darüber hinaus werden die Kontexte der Lieder untersucht, zu denen die Biografie, aber auch die Integration des Sängers in die israelische Gesellschaft gehört. Zur Letzteren wird auch dessen professionelle Vernetzung in der Musiklandschaft gezählt.

Der Hauptfokus dieser Arbeit liegt somit zunächst auf der „Ebene derEr- zählung“13der Lieder14, nämlich den geäußerten, vertretenen oder auch kriti- sierten inhaltlichen Konzepten von Religiösem. Die Entwicklung von Ideen aus der Gesellschaft für die Gesellschaft und die Religion stehen im Mittelpunkt. Das Verständnis einer Verknüpfung von Ideengeschichte und Kunst als Feld, Raum, Labor oder‚Spielplatz‘von Möglichkeiten oder Utopien im„Raum des Mögli- chen“15liegt meinem Vorgehen zugrunde. Es geht also um die Analyse der von den Sängern–im Sinne von Autoren–geäußerten Konzepte. Erstere sind in Israel nicht als Stars zu überhöhen, sondern geben sich als‚Menschen des Volkes‘

und vertreten bzw. verhandeln Ansichten die auf gesellschaftliche Anschlussfä- higkeit spekulieren.

Die vorliegende Arbeit ist für eine nicht-israelische Leserschaft verfasst:

trotzdem ist sie an lokale Diskurse anschlussfähig. Diese Perspektive erklärt die Ausführlichkeit der Darstellung von Sachverhalten die für Jemanden, der selbst Teil der betrachteten Popularkultur ist, als redundant und selbstverständlich wahrgenommen werden könnte.

Aufbau der Arbeit

Im ersten Hauptkapitel (Kap. 1–1.3) werden zahlreiche einführende Begriffsbe- stimmungen vorgenommen und Theoreme und Konzepte vorgestellt. Es fallen Begriffe wie‚Musik als Gradmesser für soziale Veränderungen‘, Israelität, Wie- 12 Lemme, Matthias: Die neuen Psalmensänger. Religiosität in deutschsprachiger Popmusik.

Jena 2009. S. 65.

13 Ebd.

14 Die Begriffe‚Lied‘und‚Song‘werden in dieser Arbeit synonym verwendet, desgleichen die Bezeichnungen (Rock)musiker, Liedermacher, Singer-Songwriter, Frontman, Bandleader, ferner Sänger. Zur mangelnden Repräsentation von Musikerinnen in dieser Arbeit, vgl.

Kap. 2.1.

15 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes.

Frankfurt a.M. 1999. S. 371–378.

Einleitung und Aufbau der Arbeit 17

(19)

derkehr des Religiösen, innerjüdische Bekehrung (chasara bi-tshuva), Rockäs- thetik, Theoreme aus Bourdieus Feldtheorie der Kunst etc. Im zweiten Kapitel beschreibe und diskutiere ich ausführlich, z.T. anhand konkreter empirischer Beispiele, meine Perspektive und meine Herangehensweisen – verschiedene Datenerhebungsformen (die Interviewführung, teilnehmende Beobachtung auf Konzerten etc.) sowie die Nutzung und mein Verständnis verschiedener Quellen (Lieder, Interviews, Booklets etc.)–die sich auf Methoden der ethnografischen und somit qualitativen Sozialforschung stützen. Bereits hier werden allgemeine feldstrukturierende Momente aus dem ersten Kapitel in der Empirie sichtbar und mit dieser verknüpft und diskutiert. Im Unterabschnitt über Tonträger und Booklets (Kap. 2.2.III) betrachte ich bspw. ein Korpus an Tonträgern, das weit über die Betrachtung der Tonträger der sechs ausgewählten Musiker hinausgeht (sowie ich auch weitaus mehr Interviews führte, als ich zitiere). Die Begriffsbe- stimmungen und Diskussionen der ersten beiden Kapitel sind für die Argu- mentation in den Analysekapiteln, für die‚Zwischenfazits‘und für das Fazit teils grundlegend und teils von erläuternder oder auch ergänzender Bedeutung.

Der Haupt- und Analyseteil dieser Arbeit (Kap. 3) besteht aus sechs Unter- kapiteln (3.I–VI), die ebenso als Einzelporträts aufgefasst werden können. Jedes dieser Kapitel befasst sich mit dem Schaffen und der Persönlichkeit eines Künstlers. Den einführenden Worten folgt eine einleitende (Kurz-)Biografie, welche in der Regel dem musikalischen Werdegang des Musikers folgt. Hier wird bspw. danach gefragt, wie der Betreffende zur Musik kam oder welcher Art sein Kunstverständnis ist. In groben Zügen wird der an der öffentlichen Wahrneh- mung orientierte Stellenwert des Künstlers und seines Werkes in der Gesellschaft skizziert. Das Hauptaugenmerk eines jeden Porträts liegt auf der Beschreibung, Analyse und Interpretation seines Werks anhand ausgewählter Lieder. Ziel jedes dieser sechs Kapitel ist die sowohl synchrone, als auch diachrone Kontextuali- sierung des Werkes bzw. seines Autors in der israelischen Gesellschaft resp. im Feld israelischer Popularmusik. In jedem Teilkapitel werden darüber hinaus besondere Aspekte, die sich aus dem erhobenen Material ergeben, hervorgeho- ben und näher untersucht. Hierzu gehören bspw.: Das Verständnis von Religion, der Umgang mit religiösen Quellen und Konzepten, biografische Besonderhei- ten, Arbeitsweisen, die Vernetzung im Feld etc. Die erarbeiteten Ergebnisse werden im jeweils letzten Abschnitt eines Musikerkapitels mit Rekurs auf die Theorieansätze diskutiert (‚Zwischenfazit‘). Diese Abschnitte beinhalten somit nicht nur eine Zusammenfassung des Kapitelinhalts, sondern liefern Ergän- zungen, Diskussionen und Einordnungen dieser Aspekte. Sie ermöglichen es, vom konkreten Fall zu abstrahieren und diesen in Relation zu anderen Fällen des Samples (‚Querverbindungen‘) und gegebenenfalls darüber hinaus zu diskutie- ren.

Einleitung und Aufbau der Arbeit 18

(20)

Am Schluss der Arbeit (‚Schlussbetrachtung‘, Kap. 4) werden diese Zwi- schenergebnisse in einer Zusammenschau präsentiert (Zusammenfassung), der das‚Fazit‘der Arbeit folgt.

Im Abschnitt 5 (1–5) finden sich Verzeichnisse der verwendeten Quellen (Literatur, Diskografie u.ä.), Angaben zu den interviewten Personen sowie eine Liste besuchter Konzerte.

Einleitung und Aufbau der Arbeit 19

(21)
(22)

1. Das Feld israelischer Popularmusik und Schlaglichter auf die Wiederkehr des Religiösen

im Zeichen der Globalisierung

Religiöse hassen Säkulare, die Religiöse hassen; Säku- lare, die Säkulare hassen; religiöse linke rassistische Araber, die religiöse Nazis hassen. Rechte ermorden Linke; religiöse Säkulare töten Sefarden, die auf reli- giöse Aschkenasen zielen, die Tiere hassen. Aus deren Jungtieren machen sie Pelze für die reichen religiösen Frauen, die nicht das Geld haben, die dreckigen Kinder der stinkenden Araber zu ernähren, weil die Säkularen in unserer Besatzerarmee dienen, um den Hund von George Bush zu verteidigen, der den hässlichen Hund von Aaron hasst, dem Synagogendiener der sefardi- schen Synagoge von Bat-Yam, von Bat-Yam!

(Gabriel Belchassan, Musiker, 2002)1

Die soziologische Literatur über Israel befasst sich mit einer Vielzahl von Spaltungen, darunter: Nation, Klasse, Religion, Ethnizität, Geschlecht und ideologi- sche Spaltungen, um nur die wichtigsten zu nennen.

(Uri Ram, Soziologe, 2008)2

Die drastischen Liedzeilen des ersten Zitats wurden von einem Musiker ins Mikrofon geschrien, dessen Texte insgesamt aufgrund ihrer unverblümten Di- rektheit als unverdaulich gelten (Kap. 3.V). Sie umreißen sehr anschaulich das Dickicht der Dichotomien, mit denen auch die Literatur über Israel die Leser- schaft konfrontiert. In ernster sarkastisch-nihilistischer Zuspitzung finden sich hier Bezugnahmen auf: Soziale Kategorien, Klassen, ethnische Gruppen sowie

1 Gabriel Belchassan (2002 bzw. 2010).kadurej harga‘a bi-dvash[Beruhigungspillen mit Honig].

Auf:ha-shanim ha-jafot shel Gabriel[Die schönen Jahre Gabriels] bzw.atid[Zukunft]. An- merkung: Die jeweils ausführlichen Angaben zu zitierten Tonträgern (Label, Vertriebsnum- mern u.ä.) finden sich in der Diskografie (Kap. 5.3). In den Fußnoten werden genannt: In- terpret, Jahr des Copyright, Name des Songs und oder Albums.

2 Ram, Uri: The Globalization of Israel. McWorld in Tel Aviv, Jihad in Jerusalem. New York 2008.

S. 7.

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Israel-Palästina-Konflikt, Militarismus, Religion, Nationalismus, Zionismus, Kolonialismus, US-Amerika (Globalisierung), Stellvertreterkrieg, Rassismus, politische Orientierung, Peripherie und Nationalsozialismus.

Aus der überbordenden wissenschaftlichen Literatur über Israel werden im Folgenden Theoreme, Interpretationsansätze und Deutungshorizonte, also Be- schreibungs- und Erklärungsmodelle ausgewählt, vorgestellt und diskutiert, die im Feld der Popularmusik bzw. für die vorliegenden empirischen Befunde von strukturierender oder erklärender Bedeutung sind. Dabei geht es nicht um die erschöpfende Darstellung der Theorien, sondern um Begriffsbildungen und den Erklärungswert einzelner Theoreme für die empirischen Befunde. In den Ana- lysekapiteln illustriert die Empirie vorgestellte Theoreme, in einigen Fällen werden letztere jedoch durch die empirischen Befunde konterkariert.

In einem ersten Schritt wird allgemein vom Feld der Popularmusik als Arena der Aushandlung von„Israelität“(engl.Israeliness, hebr.Israeliut) die Rede sein.

Der Begriff der Israelität wird sowohl in der Umgangssprache, als auch in der Wissenschaft häufig verwendet. Regev und Seroussi verstehen darunter:

Das komplizierte Netz entgegengesetzter menschlicher Faktoren [human factors], Herkünfte [human backgrounds], Gedächtnisse [memories], Ideologien und Willens- erklärungen [wills], welche die israelische Gesellschaft und ihre moderne Kultur ge- prägt haben [.]3

Sie leiten daraus ab:„[W]as wir‚Israeliness‘nennen,[…] kann besser interpre- tiert werden, wenn sich gleichzeitig aus verschiedenen disziplinären Perspektiven genähert wird.“4In dieser Arena–so meine Argumentation–spielt die Zunahme religiöser Thematik eine neue Rolle, weshalb in einem zweiten Schritt des Ka- pitels die Wiederkehr des Religiösen, die‚jüdische Renaissance‘(Sheleg) bzw. der

‚jüdische Dschihad‘ (Ram) aus verschiedenen Perspektiven ausführlicher be- trachtet wird. Im Anschluss daran wird das künstlerische, in diesem Fall das musikalische Feld nach Bourdieu in der Rezeption von Florian Schumacher, erläutert und begrenzt. Es wird ein Ausschnitt bzw. Teilfeld in den Blick ge- nommen, in welchem religionsbezogenen (Text-)Inhalten sowie dem feldinter- nen Umgang mit ihnen eine neue und neu ordnende Rolle zukommt. Zuletzt wird auf einen Theoriebaustein des Interdiskurses von Jürgen Link, in einer hier spezifizierten Anwendung auf Musik durch Martin Butler, eingegangen, der den Blick für das dieser Arbeit zugrunde liegende Liedtextverständnis und der be- sonderen Rolle von Musikern des religiös-musikalischen Feldes in der Öffent- lichkeit schärfen soll.

3 Regev; Seroussi 2004, S. VII.

4 Ebd.

Das Feld israelischer Popularmusik und Schlaglichter auf die Wiederkehr des Religiösen 22

(24)

1.1 Popularmusik als Gradmesser für ‚Israelität‘

Während Musik keinen eigenen Sinngehalt hat und auf einerdenotativenEbene somit nicht auf einen spezifischen Ort verweisen kann, ist sie auf einerkonnotativenEbene sowohl in der Lage eine Botschaft, die in der Performanz verankert ist (Liedtexte, Bilder), oder vorherrschende Diskurse zu verstärken, als auch auf einen spezifischen Ort zu verweisen. Diese Referentialität kann sowohl vom Staat für seine Zwecke in- strumentalisiert werden, als auch von Musikern, die nationale Ideologien in ihre kreative Arbeit aufnehmen[.]5(David-Emil Wickström)

Die israelische Popularmusikforschung bekam erst jüngst und auch internatio- nal Anerkennung – wie überhaupt das anwachsende Korpus selbstreflexiver Literatur in Bezug auf Alltagskultur und Themen der Gegenwart.6 Die zwei herausragenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der israelischen Popularmu- sikforschung sind der Soziologe Motti Regev und der Ethnomusikologe Edwin Seroussi. Zusammen veröffentlichten sie 2004 das BuchPopular Music and Na- tional Culture in Israel.Dieses verstehen sie als Antwort auf eine desolate Lite- ratursituation und eher als „Startpunkt für Reflexionen und als Basis für zu- künftige Tiefenbohrungen der Thematik“.7 Basierend auf dem Verhältnis der Musik zu ‚Nationalem‘zeichnen sie detailreich die historischen und sozialen Entwicklungen populärer Musik seit der Staatsgründung bis heute nach. Die Autoren lassen sich hier nicht von musiktheoretischen Ideen leiten sondern fokussieren die Akteure und deren Werke, die im Sinne des zentralen zionisti- schen Projekts darauf ausgerichtet waren, eine neue‚indigene‘jüdische Natio- nalkultur zu‚erfinden‘, und auch diejenigen Akteure und Werke, die sich vom Staat für diese Zwecke zu Eigen gemacht wurden.8Regev und Seroussi widmen sich unter anderem den Fragen, wie‚Nationalkultur‘im Feld der Popularmusik 5 Wickström, David-Emil: „Okna otkroi!“ – „Open the Windows! Transcultural Flows and

Identity Politics in the St. Petersburg Popular Music Scene. Stuttgart 2011. S. 212.

6 Seit etwa 2000 sind diesbezüglich vermehrt Publikationen erschienen, die ein wachsendes und selbstkritisches Interesse an der dynamischen israelischen Gegenwartskultur indizieren. Auf dem Gebiet der Musik sind folgende Titel bzw. Monografien zu nennen (unvollständig):

Popular Music and National Culture in Israel(2004, a.a.O.), Noam Ben-ZeevsMangina Israelit [An Israeli Tune] (2009, a.a.O., Hebr.), Nissim CalderonsThe Second DayOn Poetry and Rock in Israel after Yona Wallach(2009, a.a.O., Hebr.), Benjamin BrinnersPlaying Across a DivideIsraeli-Palestinian Musical Encounters(2009, a. a.O.) ferner Roni Shwekasshir cha- dash[A New SongEssays on Israeli Rock Songs] (2011, a.a.O., Hebr.). Zumindest in der Einschätzung einer Pädagogin die sich immer wieder für eine Auseinandersetzung mit ge- genwärtiger Musik einsetzt (bspw. durch Artikel zum Thema oder durch die Organisation einer Konferenz unter dem Titel Israelische Musik im digitalen Zeitalter an der Tel Aviver Bar Ilan Universität am 16.03.2011), werden innerhalb der Wissenschaft noch immer häufig, die schmaleren Bibliografien in Abschlussarbeiten, die sich mit Gegenwartsphänomenen aus- einandersetzen, kritisiert. Interview mit Amira Ehrlich am 11.04.2011, Tel Aviv.

7 Regev; Seroussi 2004, S. VIII.

8 Regev; Seroussi 2004, S. 11 bzw. Mottozitat vorliegenden Abschnitts.

Popularmusik als Gradmesser für‚Israelität‘ 23

(25)

mitkonstruiert oder Probleme der nationalen Identität verhandelt wurden. Sie heben stets hervor, dass es sich hierbei um die primordialeImaginationoder den Wunsch nach einem Kern von indigener, authentischer, jüdisch-nationaler, is- raelischer Popularmusik resp. Nationalkultur handelt.9 An anderer Stelle ver- gleicht Seroussi diesen vorgestellten Kern einer Nationalkultur anschaulich mit einem Boxsack. Dieser wird von verschiedenen Seiten – und trotz des steten Rückzugs des Nationalstaates aus seiner klassischen Rolle, der ideologischen Fütterung dieses Kerns–von verschiedenen Akteuren (Bevölkerungsgruppen, politischen Lagern, Altersgruppen etc.) attackiert und gleichsam auch neu‚ge- füttert‘.10Besonders Seroussi deutet in diesem Zusammenhang kritisierend auf den zunehmend von „Ideologien verunreinigten“ akademischen Diskurs im Bezug auf Israel insgesamt und auf das Netzwerk der beinahe ausschließlich jüdischen und emotional involvierten Musikologen im Besonderen. Er wünscht, und dies soll hiermit angestoßen werden, eine Erweiterung des Diskurses aus

„‚der Welt dort draußen‘“.11

Für ihr Vorgehen stellen die Autoren in ihrer Einleitung den auch in vorlie- gendem Buch angewendeten theoretischen Zugang bzw. den spezifischen Gel- tungsbereich ihrer Analysen wie folgt dar:

[D]as Buch hat keinen Anspruch darauf, eine enzyklopädische Quelle des Wissens in Bezug auf israelische Popularmusik zu sein. In der Tat erwähnen wir eine große Anzahl von Namen und Fakten–Lieder, Alben, Autoren, Performer und Anderes–und un- tersuchen die Karrieren und Werke ausgewählter Musiker als Paradigmen entschei- dender Phänomene. Dennoch behandelt das Buch nicht alle Persönlichkeiten die möglicherweise ein Anrecht darauf haben wichtige Beiträge zur Geschichte der Popu- larmusik in Israel geleistet zu haben.12

Der in vorliegender Arbeit behandelten Thematik von jüdischer Religion in is- raelischer Popularmusik wird somit auf vergleichbare Weise begegnet. Anhand ausgewählter Musiker(biografien) und ihrer Werke sollen die wesentlichen Phänomene aufgezeigt und interpretiert werden. Gerade weil die Verfasser ihre Auslassungen explizieren und Einschätzungen andeuten–und diese hatten 2004 unbestreitbar noch volle Gültigkeit–sollen in vorliegender Arbeit die seitdem eingetretenen Veränderungen und Neuordnungen des musikalischen Feldes plastisch werden:

[W]ir sind uns dessen wohl bewusst, dass dieses Buch sich nicht mit allen Formen, Stilen und Szenen israelischer Popularmusik beschäftigt. Unter den Ausdrucksformen von

9 Regev; Seroussi 2004, S. 2, 5, 11.

10 Seroussi, Edwin: Music in Israel at Sixty. Process and Experiences. In: Min-Ad. Israel Studies in Musicology Online 7/2, 2008. S. 6–40, 21.

11 Seroussi 2008, S. 9. Als eine solche Erweiterung ist vorliegende Arbeit zu verstehen.

12 Regev; Seroussi 2004, S. 11.

Das Feld israelischer Popularmusik und Schlaglichter auf die Wiederkehr des Religiösen 24

(26)

Popularmusik, die in diesem Text ausgespart oder nur flüchtig behandelt werden findet sich Musik, die mit den religiösen Verlautbarungen der verschiedenen ethnischen jü- dischen Gemeinschaften verbunden ist, wie Klezmermusik oder den Piutim (religiöse Dichtung) der sefardischen oder misrachischen Juden; Popularmusik der palästinen- sischen Bevölkerung Israels; die reichhaltige Szene der‚Weltmusik‘in Israel; und einige andere Mikromusiken die mit verschiedenen lokalen Gemeinschaften verbunden sind.13

Heute ist nicht nur die liturgische also„religiöse Dichtung“(Piut)–und hier sind es vor allem die Texte–der orientalischen Juden überraschend und vollgültig im Mainstream populärer Musik angekommen.14Weit darüber hinaus nehmen re- ligiöse Themen einen völlig neuen, 2004 noch unvorhersehbar großen Raum im Hauptfeld der Popularmusik („major music cultures“15) ein. Letzteres geht al- lerdings nicht primär, wie von Regev und Seroussi angedeutet, von den ethni- schen jüdischen Gemeinschaften resp. deren Mikromusiken aus.16Weiterhin, und in Übereinstimmung mit Regev und Seroussi, geht diese neue Thematisie- rung von Religion in der Tat häufig mit einer bewussten oder unbewussten Umprägung dessen einher, was als israelische Musik oder israelisch zu gelten hat.

Dabei spielt der oben genannte, säkular geprägte Zionismus freilich eine zu- nehmend geringere Rolle.17

In ihrer Zusammenfassung konstatieren Regev und Seroussi:

Ein gesamtisraelischer Sound oder eine gesamtisraelische Ausdrucksweise wurde noch nicht herauskristallisiert, aber es ist in der Tat möglich auf die Existenz eines Korpus von Liedern zu verweisen–einen Kanon–der Charakteristiken verschiedener Musikkul- turen und Zeitepochen enthält und der von Israelis dafür gehalten wird, ihre kollektive nationale Identität in der Musik zu repräsentieren.18

13 Mit dem Begriff‚Mikromusiken‘beziehen sich Regev und Seroussi auf: Slobin, Mark: Sub- cultural Sounds. Micromusics of the West. Hanover 1993. Vgl. Regev; Seroussi 2004, S. 11.

14 Die Emanzipation desPiut„aus der Synagoge auf die Straße“(Interview mit Haviva Pedayah am 28.05.2013, Beer Sheva) ist ein wichtiges und komplexes Phänomen, das in dieser Arbeit nicht erschöpfend behandelt wird (v.a. aber in Kap. 3.III, bzw. 2.2.III). Zuweilen(!) trägt die Verwendung des Begriffs Züge einer Verwendung als‚Kampf-‘oder zumindest Abgren- zungsbegriffs im Sinne von: Besonders wir orientalischen Juden bewahrten die Kultur des Piut (ebd.). Letzteres ist historisch unumstritten. Piutim sind auf den großen Bühnen an- gekommen und in Singgemeinschaften (kehilot sharot) werden sie von Laien gelernt. Als Thema wirdPiutheute in den Schule unterrichtet und hat auch im Bildungsfernsehen 23TV einen festen Platz eingenommen (vgl. bspw.: Ibn Gabirol pinat Jehuda Halevi. Auf: http://

www.23tv.co.il/1690-he/Tachi.aspx, Stand: 08.01.2014).

15 Regev; Seroussi 2004, S. 11.

16 Vgl. u.a. Kap. 3.III.

17 Vgl. Kap. 1.2 bzw. 3.I–VI. Die Termini Post-Zionismus oder Post-Post-Zionismus u.ä. sind in dieser Arbeit nicht zentral (dahinter liegende Konzepte z.T. schon), weil sie mir im Feld selten oder zumeist nur in der Rede vom Ableben des Zionismus bzw. im Beschreiben des Vakuums nach dem Zeitalter des Zionismus begegneten.

18 Regev; Seroussi 2004, S. 240.

Popularmusik als Gradmesser für‚Israelität‘ 25

(27)

Das Feld der israelischen Popularmusik ist somit nach wie vor eine zentrale Arena und ein wichtiger Gradmesser für die Aushandlungsprozesse um den Begriff der Israelität. In diesem Rahmen nationaler Kultur(en) und Identität(en) ist die neue Beschäftigung mit religiösen Inhalten zu verorten.

Rock als Dominante im Feld israelischer Popularmusik

Innerhalb der israelischen Popularmusik konstatieren Regev und Seroussi die Dominanz desRock, resp. einerRockästhetikseit den 1980er Jahren.19Damit ist allerdings nicht die„Überfülle an Stilen von Popularmusik des späten Zwan- zigsten Jahrhunderts“insgesamt, sondern sind diejenigen Artefakte gemeint, die sich an den Bandformationen der„Beatles und den Rolling Stones, oder Singer- Songwritern wie Bob Dylan, Neil Young oder Joni Mitchell orientieren.“20 In diesem Sinne ist die gesamte israelische Popularmusik – und das ist nun mehrheitlich und auch von den Nicht-Rockmusikern des Feldes akzeptiert21– von genannter Rockästhetik dominiert, die folgendermaßen konnotiert ist:

[E]ine Reihe sich stets verändernder Praktiken und stilistischer Imperative für das Musikmachen und deren Hauptbestandteile: elektrische und elektronische Soundtex- turen, Verstärkung,‚nicht-ausgebildete‘undspontane Formen der vokalen Darbietung, vordergründige Präsenz von Rhythmusinstrumenten, Handwerkstechnik im Studio und eine eklektische Logik, die das Genannte auf jedweden musikalischen Stil anwendet –zudem einSchwerpunkt auf Musiker als Autoren, nicht nur Ausführenden.[Hervorh., F.P.]22

Neben den technischen Praktiken wird die spontane Vokaldarbietung und das Ideal der Deckungsgleichheit von Autor und Sänger letztlich im Sinne eines Liedermachers resp. Singer-Songwriters herausgestellt.23In der Regel wird so- wohl von den Interpreten, Kritikern wie vermutlich auch von einem Großteil des israelischen Publikums vor allem in Bezug auf israelische Künstler(!) dieser 19 Regev; Seroussi 2004, S. 45 bzw. Regev, Motti: Rock Aesthetics, Israeliness and Globalization.

In: Kemp, Adriana; Newman, David; Ram, Uri; Yiftachel, Oren (Hg.): Israelis in Conflict.

Hegemonies, Identities and Challenges. Brighton 2004. S. 188–200.

20 Regev 2004, S. 189.

21 Diesen Umstand fasst Regev dann unter dem Begriff der Pop-Rock-Ästhetik. Vgl. Regev 2007 und hier insbesondere S. 331.

22 Regev 2004, S. 189.

23 Hier wird das damit verbundene„Authentizitätsideal“(von Appen) im Sinne der Folktra- dition konnotiert. Vgl. Kap. 2.2.II bzw. von Appen, Ralf: Der Wert der Musik. Zur Ästhetik des Populären. Bielefeld 2007. S. 122. Der Begriff des Sängers wird in dieser Arbeit, mit einer Ausnahme (Chanan Yovel), synonym mit den Begriffen Frontman, (Rock-) Musiker, Singer- Songwriter verwendet. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, konfligiert der erwähnte ide- altypische Schwerpunkt mit dem Sänger als Autor mit dem Nachsingen religiöser Texte.

Das Feld israelischer Popularmusik und Schlaglichter auf die Wiederkehr des Religiösen 26

(28)

komplexe Anspruch von Authentizität vertreten bzw. eingefordert, was i.d.R. die Personalunion von Verfasser (auteur) und Interpret impliziert, desgleichen Person des Künstlers undPersona(Bühnenpräsenz) des Künstlers, und Grund dafür ist, dass Rockmusik als Kunst und gleichermaßen als Bestandteil von po- pulärer Kultur gelten kann. Diese schwerwiegende voraussetzungsvolle Auffas- sung ist in vorliegender Studie wichtig und kann unter Vorgriff auf die empiri- schen Befunde im Wesentlichen bestätigt werden.

Selbstverständlich gibt es zahllose Überschneidungen zur Musik, die als Ma- instream oder Musik, die als„middle of the road“(MOR) bezeichnet wird.24Mit letzterer kann, so Regev, metaphorisch eine Leichtigkeit („‚light, soft and easy‘“) verbunden werden.25Es gibt weitere Überschneidungen zu zahllosen der ge- nannten Mikromusiken oder anderen Genres, wie bspw. der Weltmusik (vgl.

Kap. 2.1), sodass Regev für den global-nationalen Kontext von einer ethno- nationalen Pop-Rock-Musik mit dem Schwerpunkt auf der genannten Rockäs- thetik spricht.26

In vielerlei Hinsicht implizieren die oben genannten Ansprüche eine ‚Be- gegnung‘der Musiker mit ihrem Publikum bzw. ihren Fans auf Augenhöhe.

Dieser Umstand ist mir außerhalb Israels eher im Bezug auf Folkmusik, doch seltener in Bezug auf Rockmusik begegnet. Meines Erachtens hängt dies mit der häufig angesprochenen Größe des Landes zusammen (‚jeder kennt jeden‘), aber wichtiger, auch mit der zumindest ideell von Parität geprägten und nachwir- kenden sozialistischen Geschichte. Das bedeutet im Wesentlichen, dass es in Israel zwar Musiker gibt, die von einzelnen als Stars bezeichnet werden, aber diese Stars nicht in dem normalerweise damit konnotierten Sinne, überhöht werden und, dass es folgerichtig auch keine ausgeprägten‚Starallüren‘gibt und– so meine Einschätzung–in absehbarer Zeit auch nicht geben wird (ausführlicher dazu, vgl. Kap. 2.1, 2.2.II). Dennoch findet sich auch in Israel, im Sinne Christoph Jackes, folgende sinnvolle, wenn auch schwer eruierbare Unterscheidung zwi- schen der Bekanntheit und der Beliebtheit von Musikern:

Bekanntheit ist […] einfacher zu messen, da es um eine quantitative Größe geht, die dann auf die Ebenen des Kommunikationsprozesses übertragen werden kann, [wenn]

also danach gefragt wird, wie viele Aktanten auf der Produktions- und Rezeptionsebene bestimmter Medienangebote jemanden kennen. […] Beliebtheit stellt gegenüber der

24 „Eine andere prominente Nische von Popularmusik [popular music], die eine Anpassung an die Rockästhetik während der 1980er zeitigte, war MOR [middle of the road]. Das bezieht sich auf die Sorte von Popmusik die mit einer starken Betonung auf Unterhaltung, auf eine breites Publikum aller Alterstufen zielt.“Regev; Seroussi 2004, S. 171.

25 Regev 2007, S. 321.

26 „In den 1990ern wurde israelischer MOR-Pop zu einem Synonym für eine moderate, softe und leichte Adaption der Rockästhetik.“Regev; Seroussi 2004, S. 172.

Popularmusik als Gradmesser für‚Israelität‘ 27

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Bekanntheit ein von vornherein eher qualitatives Kriterium dar, welches Prominente zu Stars veredeln kann und wesentlich schwieriger zu messen ist.27

Das Ideal eines Rockmusikers im Sinne eines Singer-Songwriters führt in Israel paradoxerweise dazu, dass Musiker, die im Licht eines einzigen Scheinwerfers einen ruhigen Songabend gestalten, als Rockmusiker bezeichnet werden.28Das liegt mit Sicherheit aber auch daran, dass dieselben Musiker an einem folgenden Abend auf einer anderen Bühne dieselben Lieder mit einer vollständig anderen Besetzung oder als Gast bei einem anderen Musiker und dessen Band auf eine andere, z.B. ‚härtere‘und lautere Weise vortragen können. In diesem Zusam- menhang möchte ich abschließend auf ein weiteres Phänomen hinweisen.

War bisher von einem (Rock)Musikideal im Sinne eines Singer-Songwriters die Rede, so verwirrt der für Israel ebenfalls hervorzuhebende Umstand, dass dieselben Musiker gelegentlich dafür gefeiert werden, dass sie Texte israelischer (National-)Dichter vertonen und damit deren Lyrik popularisieren. Diese Praxis kann als eine kontinuierliche in der Geschichte israelischer Popularmusik gel- ten.29Hierbei wird, ganz im Sinne der oben ausgeführten Konnotationen zur Rock- und Pop-Rockästhetik, zwischen Gedichten (shirim) und Songtexten (pismonim) unterschieden.30Das Thema ist jüngst vom Literaturwissenschaftler Nissim Calderon in dessen BuchThe Second Day. On Poetry and Rock in Israel after Yona Wallach (2009) bearbeitet worden.31Darin argumentiert Calderon, dass durch dieses Phänomen einige Lyriker und Lyrikerinnen überhaupt erst Populariät auf breiter Ebene erlangten und lanciert die These, dass Singer- Songwriter und mithin auch Rockmusiker als die energischeren jüngeren Brüder der„bloßen“Dichter (oder Sänger) begriffen werden müssen.32Schließlich sind 27 Jacke 2009, S. 156 .

28 Dieser Umstand führte im Rahmen von Vorträgen meinerseits oder privat wiederholt zu erstaunten Reaktionen aufseiten deutscher Hörer. An dieser Stelle folgt eine Aussage an der Grenze des Normativen. Ich spielte deutschen Freunden und Bekannten des Öfteren israe- lische Musik vor. Nicht selten waren die ersten Reaktionen (wie auch häufig meine eigene):

‚Der kann ja gar nicht singen‘, oder,‚der trifft die Töne nicht‘. Konfrontierte ich Israelis mit dieser Einschätzung stieß ich auf Unverständnis, aber diejenigen, die Text und Image kurzzeitig vom Gesang zu trennen vermochten, nahmen Misstöne, zumeist aufgrund des Textes, des Lebensgefühls oder der Botschaft, gern in Kauf und interpretierten die Person als authentisch, im Sinne von: Das ist einer von uns.

29 Unter den für diese Studie ausgewählten Protagonisten ist diese Praxis vor allem bei Chanan Yovel, ferner bei Ariel Silber und Yoni Genut nachzuweisen. Es kann als gesichert gelten, dass längst nicht alle (diese) Lieder aus dem Repertoire eines Sängersz.B. aufgeführt für spezielle Anlässe wie einem Erinnerungsabend an einen Dichter o.ä.Aufnahme in dessen Alben finden.

30 Demgemäß wird ein Autor von Songtexten alspismona’jund der Autor von Gedichten als meshorerbezeichnet.

31 Calderon, Nissim: The Second Day. On Poetry and Rock in Israel after Yona Wallach.

Kinneret 2009. (Hebr.)

32 Calderon 2009, S. 12f., ferner, Papenhagen, Felix: Calderon, Nissim. The Second Day. On Das Feld israelischer Popularmusik und Schlaglichter auf die Wiederkehr des Religiösen 28

(30)

sie es, so Calderon, welche Texte schreiben bzw. von Dichtern übernehmen, diese subjektiv vertonen und öffentlich (meist zur Gitarre) vortragen. Sie übernehmen die Gesamtverantwortung für Wort, Musik und Performanz.33

In diesem Sinne würde Calderon und zahlreiche Vertreter des Feldes israeli- scher Popularmusik dem deutschen ‚Dylanologen‘ Heinrich Detering mit Si- cherheit zustimmen, der schreibt:

[…] dass Dichtung, Musik und Aufführung zusammengehören und dass sie in dieser Einheit ein Teil der täglichen Erfahrung sind: […] doch jedenfalls [in] unsere[r] me- diale[n] Gegenwart. Wer die Welt der Poesie noch immer strikt aufteilen wollte in die Gutenberg-Galaxie auf der einen und die Welt der Klänge auf der anderen Seite, wer damit gar noch Wertungen verbände, […] der müsste wohl sehr weit außerhalb dieser Gegenwart zu Hause sein.34

1.2 Die Wiederkehr des Religiösen im Zeichen der Globalisierung

Frage: Was ist in den Wahlen [zum Ministerpräsidenten 1996, F.P.] passiert? [Der Kanditat Shimon]Peres:Wir haben verloren…;Frage:Wer ist das, wir?Peres:Wir, das sind die Israelis;Frage:Und wer hat gewonnen?Peres:All diejenigen, die nicht die israelische Mentalität teilen;Frage:Wer sind diese?Peres:Nenne sie die Juden.35 Der in dieser Untersuchung verhandelte neue Stellenwert von Religion in der Popularmusik ist nicht zu verstehen, ohne den Blick auf die allgemeine Wie- derkehr des Religiösen im Land. Selten, so der Soziologe Uri Ram, wird die zunehmend wichtiger werdende Unterscheidung zwischen‚jüdisch‘und‚israe- lisch‘im nationalen Diskurs so deutlich wie im Eingangszitat durch die Worte des damaligen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten Shimon Peres.36Im Feld der Musik, das ein wichtiger und katalytisch wirkender Teil des Diskurses ist, wurde unter anderem von einer „religiösen Welle“37gesprochen. Für das gesamte Phänomen kursieren in der Gesellschaft Termini mit ganz unter- schiedlichen Konnotationen wie: Renaissance, Revival, Trend, Mode, Rückbe-

Poetry and Rock in Israel after Yona Wallach. In: Lied und populäre Kultur. Jahrbuch des Deutschen Volksliedarchivs 2010. S. 217f.

33 Calderon 2009, S. 12f. bzw. Interview mit Nissim Calderon am 15.04.2011, Tel Aviv.

34 Detering, Heinrich: Bob Dylan. Poet. Warum er den Literatur-Nobelpreis bekommen muss.

In: Literaturen 10, 2009. S. 28–41, 33.

35 Ram, Uri: The Globalization of Israel. McWorld in Tel Aviv, Jihad in Jerusalem. New York 2008. S. 208f. Ram zitiert hier Ben Simon, Daniel: A New Israel. [Israel acheret. Nizachon ha- shulajim. Ejch karass ha-smol we-ala ha-jamin.] Tel Aviv 1997. S. 13. (Hebr.)

36 Ram nennt die Spaltung zwischen israelisch und jüdisch‚eher weniger bekannt‘bzw.‚nicht so gern wahrgenommen‘[„not-so-well-renowned“]. Ram 2008, S. 208f.

37 Vgl. Shalev 28.5.2009. Vgl. auch Einleitung dieser Arbeit.

Die Wiederkehr des Religiösen im Zeichen der Globalisierung 29

(31)

sinnung, Rückkehr zu den Wurzeln, Umkehr, Jüdischer Dschihad, Rückschritt, Kehricht. Es ist offenbar schwierig, einen neutralen Begriff zu finden.

Die Zunahme jüdischer Religiosität

Umfragen zufolge gibt es in Israel eine statistische Zunahme von jüdischer Re- ligiosität.38Das Institut für Demokratie (The Israel Democracy Institut, Jerusa- lem, seit 1991) bzw. dessen angegliederte Abteilung für Demoskopie (The Guttman Center for Surveys, seit 1947), veröffentlichte 2012 in Zusammenarbeit mit der einflussreichen Avi Chai Foundation39 den viel beachteten dritten Guttman-AVI CHAI Report–A Portrait of Israeli Jews: Beliefs, Observance, and Values of Israeli Jews,2009.40In der Zusammenfassung der Ergebnisse heißt es unter anderem:

Die Vergangenheit hat bestimmte Veränderungen gezeitigt, wie israelische Juden ihre Religiosität definieren und zu welchem Grade sie die religiöse Tradition befolgen:

zwischen 1991 und 1999 gab es einen Rückgang des Prozentsatzes israelischer Juden, die sich selbst in starkem Maße als religiöse Tradition befolgend definierten (von 24 % zu 19 %)–offensichtlich unter dem Einfluss der großen Einwanderungswelle aus der ehemaligen Sowjetunion. Dieser Trend hat sich umgekehrt; zwischen 1999 und 2009 gab es einen Anstieg des Prozentsatzes israelischer Juden, die religiöse Tradition in starkem Maße befolgen (von 19 % zu 26 %). Zusätzlich identifizierten sich 2009 mehr israelische Juden selbst als Orthodoxe oder Charedim [Ultraorthodoxe, F.P.] im Gegensatz zu (22 % bzw. 16 %) 1999. Dementsprechend definierte sich 2009 ein kleinerer Prozentsatz von Juden selbst als säkular, aber nicht anti-religiös oder säkular und anti-religiös, als 1999 (46 % bzw. 52 %). Der absteigende Trend der Anbindung an Tradition und Re- 38 Mit jüdischer Religiosität ist hier und im Folgenden eine Adoption individuell z.T. sehr verschiedener religiöser Einstellungen aus der gesamten Bandbreite jüdischer Traditionen gemeint, wie z.B. der Glaube an Gott, das Einhalten der Speisegesetze (kashrut), das Einhalten des Schabbat, das Studium religiöser Texte etc.

39 Die private US-amerikanischeAvi Chai Foundationbzw. vergleichbare Fonds, sind auch für das in vorliegender Studie behandelte Phänomen von maßgeblicher finanzieller Bedeutung (Kap. 1.2, 3.III). Sie tritt dezidiert für eine Revitalisierung des Judentums ein und nennt folgende Ziele als zentral für ihre„Mission“. Sie möchte:„Diejenigen der jüdischen Religion zu einer größeren Hingabe für jüdische [religiöse, F.P.] Observanz und Lebensstil ermutigen, durch Vergrößerung ihres Verständnisses, ihrer Wertschätzung und der Praxis jüdischer Traditionen, Bräuche und Gesetze.“Sie„ermutigt zu gegenseitigem Verständnis und Ein- fühlungsvermögen zwischen Juden verschiedener religiöser Hintergründe und Hingabe zur Observanz.“ Vgl. o.V.: Mission, 2013. http://avichai.org/about-us/mission/ (Stand: 02.04.

2014).

40 Die vorhergehenden zwei Berichte betrafen die Jahre 1991 und 1999.Der aktuelle Report, vgl.

Arian, Asher (u.a.):A Portrait of Israeli Jews. Beliefs, Observance, and Values of Israeli Jews, 2009.Jerusalem 2012. http://en.idi.org.il/events/conferences-and-seminars/findings-of-the- third-guttman-avi-chai-report/ (Stand: 13.01.2014).

Das Feld israelischer Popularmusik und Schlaglichter auf die Wiederkehr des Religiösen 30

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