DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Entwicklung bewährter Diuretika
HARMAFORSCHUN
Am Anfang stand eine Nebenwirkung
Die Cassella-Riedel Pharma hatte Geburtstag. Sie konnte 1987 auf ihr 25jähriges Bestehen zurück- blicken und hatte aus diesem Anlaß im Oktober in ihr Stammhaus in Frankfurt-Fechenheim zu einer Fei- erstunde eingeladen, in deren Mit- telpunkt ein Vortrag von Professor Dr. Dr. E. Mutschier, Universität Frankfurt, über Strategien der Arz- neimittelforschung stand. Der Frankfurter Pharmakologe zeichne- te die Wege nach, auf denen in den Forschungslaboratorien heute Arz- neimittel systematisch entwickelt werden. Die Forschung konzentriert sich hauptsächlich auf die Suche nach Leitsubstanzen, seien es kör- pereigene, sonstwo in der Natur vor- kommende oder synthetische Stoffe, und auf die Optimierung von Leit- substanzen durch Molekülvariation.
Daneben steht noch die Entwick- lung neuer Arzneiformen durch ga- lenische Maßnahmen.
Als Beispiel für eine Stoffklasse, bei der die Optimierung der Leitsub- stanz nicht nur verbesserte Eigen- schaften erbrachte, sondern sogar zu neuen Leitstrukturen führte, nannte Professor Mutschler die Sulfonamid- Diuretika. Es begann damit, daß ein diuretischer Effekt als Nebenwir- kung des Chemotherapeutikums Sulfanilamid beobachtet wurde.
Professor Mutschler beschrieb, wie die Forschung nach dieser Beobach- tung schließlich zu dem Schleifendi- uretikum Piretanid führte, nämlich zum Präparat Arelix® von Cassella- Riedel. Dazu erklärte Professor Mutschler:
Um ausgehend von Sulfanilamid ein brauchbares Diuretikum zu be- kommen, war es erforderlich, die antibakterielle Wirkung zu eliminie- ren. Dies gelang durch Acetylierung der aromatischen Aminogruppe so- wie durch Ersatz des Phenylrestes durch einen Heterocyclus. Die auf diese Weise erhaltene Substanz war Acetazolamid, das tatsächlich nur noch diuretisch wirkte. Als Wir- kungsmechanismus wurde eine
Prof. E. Mutschler, Frankfurt Hemmung der Carboanhydratase erkannt
Da die Substanz bei mehrfacher Applikation rasch an Wirksamkeit verlor, wurde erneut versucht, zu besser wirkenden Diuretika zu ge- langen. Einführung einer zweiten Sulfonamidgruppe in das Sulfanil- amid-Molekül sowie Ringschluß zwischen der ringständigen Amino- gruppe und der Sulfonamidgruppe führte zu den Thiazid-Diuretika, die stärker und länger anhaltend diure- tisch wirken als Acetazolamid und, wie erst später bekannt wurde, auch einen anderen Wirkmechanismus und einen anderen Wirkort besitzen.
Während nämlich die Carboanhy- dratase-Hemmer vom Acetazol- amid-Typ am proximalen Tubulus angreifen, wirken Thiazide am früh- distalen Tubulus.
Versuche bei den Farbwerken Hoechst, die zweite Sulfonamid- Gruppe in den Thiaziden durch eine Carboxylgruppe zu ersetzen, er- brachten ein wiederum nicht vorher- sehbares Ergebnis: Das nach diesen Überlegungen synthetisierte Furose- mid erwies sich im Vergleich mit den Thiaziden als weit stärker wirksam, und zwar deshalb, weil sich erneut der Wirkungsmechanismus und der Wirkort geändert hatten: Furosemid hemmt am aufsteigenden Teil der Henleschen Schleife den Natrium- Kalium-Chlorid-Kotransport. Diese wirksame Substanz wurde somit
zum Prototyp der Schleifendiure- tika.
Piretanid ist vom Wirktyp her betrachtet mit Furosemid identisch, doch weist es eine noch größere Wirkstärke und eine verbesserte Pharmakokinetik auf, da es bei ora- ler Applikation nahezu zu hundert Prozent resorbiert wird, während bei Furosemid die Resorptionsquote zwischen vierzig und sechzig Prozent schwankt Außerdem liegen ernstzu- nehmende Untersuchungen vor, daß die Kaliumverluste nach Gabe von Piretanid geringer sind als nach Ga- be von Furosemid.
Professor Mutschler befaßte sich in seinem Vortrag in Frankfurt- Fechenheim auch mit einem negati- ven Aspekt der chemischen Ab- wandlung von Leitsubstanzen, die vor allem dann, wenn sie von Fir- men betrieben wird, die nicht selbst an der Entdeckung des Leitstoffes beteiligt waren, als Me-too-For- schung bezeichnet wird. Sie zielt darauf ab, sich mit Analog-Präpara- ten Marktanteile einer eingeführten Leitsubstanz zu verschaffen. Profes- sor Mutschier war zuversichtlich, diese Me-too-Forschung im negati- ven Sinne werde zukünftig sicherlich ab- und nicht zunehmen. Es lohne sich nämlich für eine Firma nicht, die heute immensen Kosten für die Entwicklung eines Wirkstoffes auf- zubringen, der gegenüber einem be- reits in die Therapie eingeführten Pharmakon keinen entscheidenden Vorteil besitzt.
Seinen Festvortrag zum Ge- burtstag von Cassella-Riedel hatte Professor Mutschler mit einem Aus- spruch des Nobelpreisträgers Feo- dor Lynen begonnen, der auch für die künftigen Aufgaben der Arznei- mittelforschung stehen mag, die laut Mutschler eher größer als kleiner ge- worden sind: „In keinem anderen Bereich der Wissenschaft ist der Er- folg so abhängig von einer wirksa- men Kombination von richtig inter- pretierten Zufällen, Intuition und Systematik. Eine weitere wichtige Voraussetzung ist die Bereitschaft zum Risiko. Nach den heute übli- chen Sicherheitsmaßstäben hätten viele zwischenzeitlich als sicher er- kannte Arzneimittel die Forschungs- laboratorien nie verlassen." r-h A-876 (68) Dt. Ärztebl. 85, Heft 13, 31. März 1988