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Archiv "Philosophie: Zum Gebrauch der Vernunft anhalten" (15.12.2006)

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A3434 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 50⏐⏐15. Dezember 2006

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um Ringen um Verständigung gibt es keine Alternative – ge- rade nicht angesichts des derzeit aus- weglos erscheinenden Terrors. Die Autoren leben ihre Aussage mit dem Buch praktisch vor: Es handelt sich meines Wissens um die erste ge- meinsame Veröffentlichung dieser beiden herausragenden Vertreter zweier konkurrierender philosophi- scher Schulen. Das Buch enthält In- terviews der Philosophin Giovanna Borradori, die sie mit Habermas und Derrida sechs Wochen nach dem

I

n den letzten Jahren erkennen Neurologen immer mehr, dass das sogenannte typische Parkin- son-Syndrom nicht nur eine Bewe- gungsstörung oder eine Störung des dopaminergen Systems ist, sondern auch mit komplexen Ein- schränkungen in Verhalten, Wahr- nehmung und Kognition einher- geht und somit viele verschiedene Gehirnsysteme betrifft. „Tief im Hirn“ zeigt, dass jedoch auch diese Sichtweise – ja, jede rein medizini- sche Sichtweise überhaupt – zu kurz greift, will man wirklich das Erleben eines an Parkinson er- krankten Menschen verstehen. Der 64-jährige Soziologie-Professor re- flektiert schonungslos und sehr per- sönlich sein eigenes Erleben der Krankheit und ihrer Behandlungs- versuche (insbesondere der Implan- tation eines Tiefhirnstimulators).

Als Dubiel vor zwölf Jahren mit der Krankheitsdiagnose konfron- tiert wurde, stand er kurz vor dem Höhepunkt seiner Karriere – der Lei- tung des renommierten Instituts für Sozialforschung in Frankfurt. Auf- grund der Krankheit konnte er die Aufgaben jedoch nicht mehr schaf- fen, simulierte Spontaneität und Normalität – und verlor letztlich das, was ihn einst auszeichnete: seine Redegewandtheit, sein Vermögen, scharfsinnige Diskussionsbeiträge und schnelle Argumentationen zu liefern. Ihm kam es vor, als fahre der

„Dampfer voll lachender, glückli- cher Menschen“ ohne ihn weiter.

Nach der Stimulator-Operation – er- folgreich in ärztlichen Augen – stell- ten sich Depressionen und Sprach- störungen ein. Während er in New York noch eine Kultur der Akzep- tanz auffallender Verhaltensweisen

erleben konnte, begegnete ihm in Deutschland eine aus- grenzende Stigmatisierung, die zu sozialem Rückzug und einem Riss zwischen ihm und der Welt führte.

Dubiel öffnet jedem Le- ser die Augen, die persönli- chen und sozialen Konse- quenzen einer Krankheit zu sehen, die man als Arzt möglicherweise zunächst nur als „Bewegungsstörung“

abhaken könnte. Und je mehr man den sehr persönlichen Er- lebnissen, Gedanken und Gefühlen des Autors folgt, desto mehr erkennt man, dass ihm „Parkinson“ und „Tief- hirnstimulation“ zu äußeren Anläs- sen für eine tiefere Reflexion wer- den – eine Reflexion über Krankheit und Leben, Medizin und Moderne.

Diese Reflexion lohnt sich für jeden Arzt, der seine Patienten, aber auch sich und das Leben besser zu verste-

hen versucht. I

Matthis Synofzik 11. September 2001 in New York

geführt hatte. In ihrer Kernaussage stimmen beide überein – in der Ver- teidigung des immer noch aktuellen Projektes der Aufklärung: den Men- schen zum Gebrauch der Vernunft anzuhalten. Die Texte sind kenntnis- reich kommentiert, sodass der Leser einen umfassenden, aber gut lesba- ren Überblick über das Schaffen die- ser beiden Philosophen erhält.

Als „Aussage“ ist Terror für keine Antwort erreichbar. Abreißen jegli- cher Kommunikation und hilflose Wut sind Folgen des Terrors und gleichzeitig seine Entstehungsbe- dingung. Der Strukturwandel geht weltweit mit dem „Schmerz des Zer- falls der gewohnten Lebensformen“

einher. Zwar ist Strukturwandel eine Voraussetzung für Fortschritt und Verbesserung. Aber der gegenwärti- ge, globale Strukturwandel wird von den meisten Menschen nicht „mehr als ein Prozess der schöpferischen

Zerstörung erfahren“, dem eine Ver- besserung folgen kann.

Die Lektüre des Buches ist lehr- reich – auch für Ärzte. Unsere pro- fessionelle Identität entsteht ganz wesentlich aus einem reflektierten Umgang mit Emotionen. Im Früh- jahr 2006 wurde die Bezeichnung

„Wutarzt“ unter Ärzten hierzulande sehr populär. Der Strukturwandel stürzt offenbar nicht nur Menschen in den Ländern, die als Brutstätten des Terrorismus gelten, in existenzi- elle Krisen. Absurde Entwicklungen im Gesundheitswesen haben auch in der deutschen Ärzteschaft einen Zeitgeist hervorgebracht, der von Fassungslosigkeit und Wut geprägt ist. Aber humane ärztliche Praxis ist mit der Fähigkeit zur Konsensbil- dung ebenso verknüpft wie die Le- bensfähigkeit der Menschheit ins- gesamt. Zum Ringen um Verständi- gung gibt es keine Alternative. I Christoph Hager

PHILOSOPHIE

Zum Gebrauch der Vernunft anhalten

PARKINSON

Reflexion über Krankheit und Leben

Jürgen Habermas, Jacques Derrida:

Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Ge- spräche, geführt und kommentiert von Gio- vanna Borradori. Eu- ropäische Verlagsan- stalt, Hamburg, 2006, 256 Seiten, kartoniert, 12,90 A

Helmut Dubiel: Tief im Hirn. Kunstmann, München, 2006, 142 Seiten, gebunden, 14,90 A

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