A3006 Deutsches ÄrzteblattJg. 103Heft 4510. November 2006
E
s war ein warmer Sommer- abend, als Mario spürte, dass er nicht mehr konnte. Von „Synanon“kannte er bis dahin nur die großen Umzugslastwagen mit der grünen Aufschrift „Leben ohne Drogen“. Et- liche von ihnen sind täglich in Berlins Straßen unterwegs. Welche Organisa- tion dahintersteckte, wusste Mario nicht. Es war ihm auch gleichgültig.
Wenn ihn das ständige Trinken nicht völlig kaputt machen sollte, brauchte er schnelle Hilfe – egal welche.
Hohe Verantwortung
„Ich habe mich bei Synanon regel- recht abgegeben“, sagt Mario heute, zwei Jahre nach seinem Zusammen- bruch. Mittlerweile ist er weg vom Alkohol und drückt mit Mitte dreißig noch einmal die Schulbank. Im ge- schützten Umfeld von Deutschlands größter Suchtselbsthilfeeinrichtung strebt er einen Berufsabschluss als Bürokaufmann an.
Die Chancen stehen gut, dass Mario die Finger dauerhaft von der Flasche lässt. Denn nach Angaben der Synanon-Stiftung sind rund 70 Prozent der Betroffenen mit einer Bindung an Synanon von zwei bis
drei Jahren nicht mehr rückfällig ge- worden. Dies spricht sich rum: Al- lein im vergangenen Jahr kamen fast 800 Suchtkranke in das Stammhaus in der Bernburger Straße in Berlin- Kreuzberg. Die sofortige Aufnahme Entzugswilliger ist bundesweit ein- malig. Viele bleiben für längere Zeit. Im Jahresdurchschnitt leben fast 150 Abhängige ständig in der Einrichtung. Seit ihrer Gründung vor 35 Jahren wandten sich mehr als 20 000 Betroffene an die Stiftung.
Weil Entzugswillige strengen Ver- haltensregeln unterworfen sind und sie zunächst isoliert von ihrem ur- sprünglichen sozialen Umfeld leben müssen, wurden Synanon in der Ver- gangenheit immer wieder sektenähn- liche Strukturen unterstellt. „Von ei- ner Sekte kann man nicht sprechen“, stellt Dr. phil. Michael Utsch von der evangelischen Zentralstelle für Welt- anschauungsfragen in Berlin klar.
Dies sagt er auch verunsicherten An- gehörigen von Synanon-Bewohnern, die sich immer wieder bei ihm mel- den. Es bestehe jedoch die Gefahr, dass Gruppenleiter ihre extreme Machtposition gegenüber den Be- wohnern ausnutzen, warnt der Psychologe. Sie müssten sich ihrer hohen Verantwortung bewusst sein.
„Wir sind nicht hart, wir sind konsequent“, beschreibt Uwe Schrie- ver, Vorstandsvorsitzender der Syna- non-Stiftung, die Philosophie der Einrichtung. In den Häusern gelten drei Regeln: keine Drogen, keine
Gewalt und kein Tabak. Sozial- arbeiter, Ärzte oder Psychologen kommen nicht zum Einsatz. So wer- den in der Akutphase der Entgiftung auch keine Medikamente verab- reicht. Eine Suchttherapie im ei- gentlichen Sinne gibt es also nicht.
„Für viele mögen die strengen Re- geln abschreckend sein, doch Syna- non zeigt, welche Kraft in der Selbst- hilfe steckt“, sagt die Drogenbeauf- tragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing (SPD). Professionelle Hilfe würden nicht alle Abhängigen benöti- gen, meint Prof. Dr. med. Michael Krausz vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Für bestimmte Gruppen von Entzugswilligen, denen von professioneller Seite nicht gehol- fen werden könne, sei das Angebot sinnvoll. Psychologe Dr. Heinrich Küfner vom Institut für Therapiefor- schung in München bestätigt dies:
„Synanon spricht Teilgruppen von Abhängigen an, für die diese Thera- pieform am geeignetsten ist.“ Dies er- kläre auch die hohe Erfolgsquote.
Integration in die Arbeitswelt
Für den Vorsitzenden der Berliner Landesstelle gegen die Suchtgefah- ren, Michael Hoffmann-Bayer, liegt das Erfolgsrezept von Synanon in der Integration der Abhängigen in die Arbeitswelt. Hierfür sind unter dem Dach von Synanon zahlreiche Zweckbetriebe angesiedelt. Die Syna- non-Umzüge sind vielen Berlinern ein Begriff – ein Sanitärdienst, eine Lackiererei, ein Gartenbaubetrieb, ein Cateringservice, eine Tischlerei sowie ein Entrümpelungsbetrieb und eine Reinigung gehören ebenso da- zu. Damit ist die Stiftung zugleich ein breit aufgestelltes mittelständi- sches Unternehmen, dies jedoch mit allen Risiken eines wirtschaftlich agierenden Betriebes. Grobes Miss- management des Vorstandes brachte die Stiftung in den Neunzigerjahren an den Rand des Ruins. Mittlerweile hat sich die Situation entspannt: „Wir sind zuversichtlich, dass die positive Entwicklung weiter anhält“, sagtSchriever. n
Samir Rabbata
SUCHTSELBSTHILFE
„Nicht hart, aber konsequent“
Synanonbewohnermüssen selbst mit anpacken, um den Start in ein drogenfreies Leben zu meistern.
Keine Drogen, keine Gewalt, kein Tabak – diese Vorgaben sind bei der Berliner Suchtselbsthilfeeinrichtung „Synanon“
Gesetz. Nun feiert sie ihr 35-jähriges Bestehen.
Foto:Stiftung Synanon