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V A R I A BILDUNG UND ERZIEHUNG
M
it seiner deutschen Ju- gend kann Bundesbil- dungsminister Jürgen Rüttgers (CDU) zufrieden sein. Und er ist es auch: „Die Jugendlichen zeigen sich un- beeindruckt von jenen in Po- litik und Wirtschaft, die den Standort schlechtreden“, ließ der Minister in Kenntnis der neuen EMNID-Daten ver- lauten. Mehr noch: Sie „ge- hen mit Zuversicht in die Zu- kunft“ und „haben die Zei- chen der Zeit erkannt“. Von solchen Jugendlichen möchte Rüttgers „lernen“ und auch ihre „Bedenken sehr ernst“nehmen.
Anbieten würde sich hier das Thema Gentechnologie, eines der wenigen Gebiete, in
denen die Prozentzahlen nicht auf der Generallinie der Politik der Bundesregierung zu liegen kamen. Nur 14 Prozent der Befragten stimm-
ten gentechnisch veränderten Lebensmitteln eher zu. Gen- technik in der Lebensmittel- erzeugung halten 76 Prozent für gefährlich, und knapp
zwei Drittel sehen die Gen- technologie generell eher als Risiko denn als Chance an.
Die Analyse des Mini- steriums: Die Zahlen zu gen- veränderten Lebensmitteln reflektierten „die Unsicher- heiten der öffentlichen Aus- einandersetzungen“ bei Soja- und Maisimporten. Gegen- maßnahme: eine „offensi- ve Informationskampagne“
soll „die Vorteile der Zu- kunftstechnologie Gentech- nik deutlich machen“. Und weil 57 Prozent der Jungbür- ger gemäß einer Fragestel- lung ankreuzten, es werde wohl im Bereich Gentechnik zukunftssichere Arbeitsplät- ze geben, folgerte Rüttgers flugs: Eine grundsätzliche
(70) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 5, 31. Januar 1997
Jugendliche
Treue und Pflicht
Was treibt die Jugend in Deutschland um? Die Bundes-
regierung wollte es wissen – und schickte einmal mehr
die Demoskopen los. Rund 2 000 junge Bundesbürger
zwischen 14 und 29 Jahren ließen ihre Zukunftswünsche
und Weltanschauungen vom EMNID-Institut in statistische
Schablonen pressen. Ein Ergebnis: „Pflichterfüllung“ steht
angeblich ganz oben auf der Hitliste.
A-259 Ablehnung von Gentechnik
und Biotechnologie sei „nicht erkennbar; viele Jugendliche rechnen sogar mit sicheren Arbeitsplätzen in diesem Be- reich“.
Eine offensichtliche Ent- täuschung für die Umfrage- Sponsoren des Bundesmini- steriums für Bildung, Wis- senschaft, Forschung und Technologie war das Ab- schneiden des „technischen Fortschritts“ auf der Liste der
bedeutendsten Zukunftsthe- men: nur ein siebter Platz, noch hinter Europa. Spitzen- reiter sind Arbeit und – The- menvorgaben wie Innere Si- cherheit oder Bildung zum Trotz – der Umweltschutz.
Leicht verschnupfte Anmer- kung im Kommentar zum Er- gebnis: „Die Bedeutung des technischen Fortschritts wird noch verkannt.“
So hat sich die Jugend ein- mal mehr als nicht eigentlich böswillig, son- dern lediglich schlecht infor- miert und von den Medien ir- regemacht her- ausgestellt. Und die Zahlen las- sen einen weite- ren Hoffnungs- schimmer er- kennen: Ost- deutsche sind im Schnitt weni- ger technolo- giekritisch als ihre westlichen Altersgenossen.
Ansonsten be- deutet Jungsein in Deutschland 1997, EMNID und dem Auf- traggeber zufol- ge, vor allem Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 5, 31. Januar 1997 (71)
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Tabelle 1
Wichtige politische Aufgaben (in Prozent)
gesamt West Ost
Arbeitslosigkeit 99 99 98
Ausbildungs- und
Lehrstellensituation 97 96 99
Umweltschutz 95 96 94
Gesundheitsbetreuung für
alle sicherstellen 94 93 95
Schutz vor Verbrechen
und Kriminalität 93 93 94
soziale Gerechtigkeit 93 93 94
das Bildungssystem
(Schulen, Universitäten) 91 90 93
Renten sichern 91 90 92
Stabilität der Preise/Inflation 86 86 84 Wirtschaftskraft Deutschlands 84 84 83 Quelle: EMNID/BMBF
Tabelle 2
Werte und Leitlinien mit „eher großer Bedeutung“, in Prozent
gesamt West Ost Pflichtbewußtsein 93 93 92
Treue 91 91 90
Freizeit 89 89 88
Arbeit, Beruf 89 88 92
Toleranz 87 87 85
Eigeninitiative 86 86 88
Freiheit 84 82 94
Leistung 83 83 85
Fleiß 82 81 82
Familie 81 82 78
Quelle: EMNID/BMBF
Verantwortungsbewußtsein gegenüber den Belangen der Wirtschaft, dem Staatswesen und dem eigenen Fortschrei- ten auf der Karriereleiter.
Noch vor nicht einmal zehn Jahren landete in allen ähnli- chen Umfragen unter dem Druck der Friedensmärsche das Stichwort Atomkriegsge- fahr ganz oben auf der Liste der „wichtigsten politischen Aufgaben“. Heute nicht ein- mal unter „ferner liefen“. Die Arbeitslosigkeit ist für 99 Prozent das Top-Thema, ge- folgt von der Ausbildungs- und Lehrstellensituation mit 97 Prozent. Und sage und schreibe 91 Prozent (achter Platz) der 14- bis 29jährigen forderten die Sicherung der Renten.
Da verwundert schon kaum noch die Hitparade der zehn wichtigsten Werte und Leitlinien im Leben junger Menschen 1997: Die
„Treue“ (91 Prozent, zweiter Platz) schlägt knapp „Arbeit, Beruf“ als Wert oder Leitli- nie (89 Prozent, vierter Platz), wobei allen anderen
Primär- oder Sekundärtu- genden durch das „Pflichtbe- wußtsein“ (93 Prozent, Spit- zenreiter) das Sahnehäub- chen aufgesetzt wird.
Zeichen für Kleinmut
Ins fast schon Abenteuer- liche steigert sich das Fra- ge-Design, aber auch die offizielle Auswertung der EMNID-Umfrage, an ande- rer Stelle. Abzulehnen oder zu bejahen hatten die jungen Leute in vollem Ernst die Aussage: „Wir haben in Deutschland alles Wissen der Welt.“ – Das immerhin von flächendeckendem gesun- dem Menschenverstand zeu- gende Ergebnis von 89 Pro- zent Ablehnung nimmt die Studie als Zeichen für Klein- mut: „Wir reden in Deutsch- land noch zu wenig über un- sere Stärken.“ Von ähnli- chem Kaliber ist die An- merkung angesichts 67pro- zentiger Zustimmung zur Pa-
role „Schule darf nicht nur Spaß machen“: Die Jugendli- chen, teilt das Ministerium mit, stellten damit existieren- de pädagogische Konzepte bewußt in Frage.
Was Jugendliche wirklich wollen, warum sie allen etablierten Parteien ver- stärkt den Rücken kehren, was sie bei freier Nennung
der Probleme statt vorgege- bener Schablonen und Phra- sen äußern würden – das Bundesbildungsministerium wird es vorerst nicht erfah- ren. Auch nicht, woher 73 Prozent die überwiegende Hoffnung nehmen, mit der sie laut EMNID ihrer per- sönlichen Zukunft entgegen- sehen. Oliver Driesen
A-260 (72) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 5, 31. Januar 1997
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Erstmals „Reps“ im Studentenparlament
Erstmals werden im April zwei Vertreter der Partei
„Die Republikaner“ in ein Studentenparlament einzie- hen. Bei den Wahlen zur studentischen Vertretung an der Universität Marburg errangen die „Republikaner“ 3,7 Prozent der Stimmen und stellen im neuen Parlament zwei der insgesamt 41 Sitze. Besonders unter Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern war die Gruppierung mit 182 Stimmen erfolgreich. Einer der beiden neuen Abgeord- neten, die zugleich Mitglieder von Burschenschaften in Marburg sind, sitzt seit 1993 als „Republikaner“-Vertre- ter im Marburger Kreistag. Eine Studie des Frankfurter Instituts für Sozialwissenschaften hat durch Studenten- befragungen ermittelt, daß an hessischen Universitäten ein harter rechtsradikaler Kern von vier Prozent und ein weiteres Umfeld von 15 Prozent existieren. OD