DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
FÜR SIE GELESEN
Zur kognitiven Struktur der „Legastheniker"
Calfee wählt einen kognitiv-psy- chologischen und informations- theoretischen Ansatz zum Ver- ständnis der Legasthenie. Diese Teilleistungsstörung liegt vor, wenn eine Diskrepanz zwischen signifikant unter der Altersnorm liegenden Lese-Rechtschreib- Leistungen und dem durch- schnittlichen allgemeinen Intelli- genzniveau besteht.
Auszuschließen sind visuelle, akustische, neurologische und primäre psychische Beeinträchti- gungen. Außerdem müssen aus- reichende Lernbedingungen, ins- besondere ein angemessenes Unterrichtsangebot bestanden haben. Ein den Besonderheiten menschlicher Informationsverar- beitung angepaßter Leseunter- richt ist kohärent zu strukturie- ren.
So muß entsprechend der be- grenzten Verarbeitungskapazität des Kurzzeitgedächtnisses von überschaubaren Elementen aus- gegangen werden, wie Wortzer- legung, Vokabular, Verstehen von Sätzen und Abschnitten so- wie schließlich auch längerer Texte. Das entspricht der hierar- chischen Struktur formalen Wis- sens, welches durch schrittweise Analyse komplexer Wirklichkeits- bereiche gewonnen wurde. Die Integration der Elemente wird im Leseunterricht bewirkt durch übergreifende Themen wie etwa Beziehungen zwischen gespro- chener und geschriebener Spra- che oder etwa Bedeutung der Landesgeschichte für die Ent- wicklung der Schriftsprache.
Die Schule vermittelt durch plan- vollen Unterricht formale Wis- sensstrukturen, Scripts, wie bei- spielsweise die Schriftsprache.
Das außerschulische oder hand- lungsbezogene Lernen führt da- gegen zur Bildung von Schema- ta, d. h. Abstraktionen aus kon- kreten Erfahrungen.
Beispiel hierfür ist die gespro- chene Sprache. Ständige konkre- te Bezüge zur vertrauten gespro- chenen Sprache erleichtern das Erlernen der formalen Schrift- sprache. Erst wenn in der Schule unter Berücksichtigung der kind- lichen kognitiven Entwicklung kohärent unterrichtet wird, dürf- ten mehr Schüler als jetzt effi- ziente Lesetechniken und ausrei- chendes Leseverständnis erwer- ben.
Außerdem könnte dann die Kern- gruppe tatsächlich legasthener Kinder früher erkannt werden, was therapeutischen wie wissen- schaftlichen Bemühungen zugu-
te käme. sef
Calfee, R.: The Mind of the Dyslexic. Annals of Dyslexia, Vol. 33 (1983)
Schnüffelsüchtige Jugendliche:
Eine Studie aus Japan
Von 64 Jugendlichen, die wegen Schnüffelns zwischen 1969 und 1979 in einer Jugendberatungs- stelle in Kochi (Japan) vorgestellt wurden, waren ein Drittel Mäd- chen. Das Vorstellungsalter lag zwischen 11 und 17, bei 88 Pro- zent zwischen 13 und 15 Jahren.
Zusätzliche, meist dissoziale Ver- haltensauffälligkeiten fanden sich bei über 75 Prozent. Die aus Pla- stiktüten oder Flaschen inhalier- ten organischen Lösungsmittel waren Plastikklebstoffe und Lackverdünner. Bei dem durch Freunde oder in Gruppen initiier- ten und schließlich mehrmals wöchentlich durchgeführten Schnüffeln traten neben ange- nehmen traumhaft-halluzinatori- schen Erlebnissen auch Angstge- fühle, Übelkeit und Erbrechen auf. An familiären Belastungen fanden sich Verlust eines Eltern- teils durch Scheidung oder Tod bei 48 Prozent und chronische körperliche Erkrankung eines El-
ternteils bzw. Alkoholabhängig- keit des Vaters bei jeweils 13 Prozent der Jugendlichen. Fast zwei Drittel der Eltern ließen eine
„laissez-faire" Erziehungshaltung erkennen. Die Schulleistungen der schnüffelnden Jugendlichen lagen bei 88 Prozent — teilweise weit — unter dem Durchschnitt.
Nach im Mittel 6,9 Jahren konn- ten zwei Drittel (42/64) der ehe- maligen Schnüffler nachunter- sucht werden. Über drei Viertel von ihnen waren nunmehr 18 Jahre und älter. Berufstätig wa- ren 62 Prozent, arbeitslos 12 Pro- zent, eine Schule besuchten 10 Prozent und 12 Prozent waren Hausfrauen, hingegen befanden sich 2 (5 Prozent) der Befragten im Heim bzw. im Gefängnis. Ver- heiratet waren 36 (15/42).
Schnüffeln während des letzten Jahres gaben 6 (14 Prozent)
meist noch jugendliche Nachun- tersuchte an. Nur einer von ih-
nen inhalierte täglich. Außer bei drei Amphetaminabhängigen konnte sonstiger Drogenmiß- brauch nicht ermittelt werden.
Bei 10 Prozent (4/42) war es zu kriminellen Handlungen gekom- men. Ein signifikanter Unter- schied zwischen den 29 sozial gut integrierten und den 13 un- zureichend oder schlecht ange- paßten ehemaligen Schnüfflern fand sich nur bezüglich des Zu- sammenlebens mit einem Ehe- partner.
Trotz der — auch im Vergleich zu Alkoholabhängigen — günstigen Prognose für über zwei Drittel (69 Prozent) der früheren Schnüffelsüchtigen und des rela- tiv seltenen Umsteigens auf an- dere Drogen erscheint eine ein- gehendere Beschäftigung mit der kleineren Gruppe jener Schnüffler wünschenswert, die langfristig sozial schlecht inte- griert sind, bzw. die das Schnüf- feln beibehalten oder tabletten- abhängig werden. sef
Hiroshi Suwaki, M. D.: A Follow-up Study of Adolescent Glue-Sniffers in Japan. British Journal of Addiction 78 (1983) 409-413
2810 (66) Heft 39 vom 26. September 1984 81. Jahrgang Ausgabe A