Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 34–35⏐⏐29. August 2005 AA2307
B Ü C H E R
Medizingeschichte
Rundumschlag
Werner E. Gerabek, Bernhard D.
Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. Verlag Walter de Gruyter, Berlin, 2005, XIX, 1544 Seiten, 148 A
„Versuch der vollständigen und strukturierten Darstel- lung des Wissens zu einem bestimmten Thema“ – so die lexikalische Begriffsbestim- mung zu „Enzyklopädie“.
Die Herausgeber der „Enzy- klopädie Medizingeschichte“
hatten sich demnach mit ihrem Projekt, die Medizinge- schichte von der frühen Hochkultur bis zur heutigen Zeit darzustellen, ein hohes
Ziel gesetzt. 212 Autoren ver- fassten mehr als 2 700 Artikel und füllten so 1 544 Seiten.
Dass Amalgam in der Zahnheilkunde bereits 675 n.
Chr. beschrieben wird, erfährt der Leser ebenso wie die Ge- schichte des Roten Kreuzes, die Biografie Louis Pasteurs oder die Anfänge der Strah- lentherapie. Das Werk lädt zum Stöbern und schnellen Nachschlagen ein, aber auch zum Lesen der rund 100 mehrseitigen Übersichtsarti- kel zu Themen wie „Ägypti- sche Medizin“ oder „Medizin im Nationalsozialismus“. Alle Einträge sind mit Autoren ge- kennzeichnet und verweisen auf weiterführende Literatur (Monographien und Zeit- schriftenaufsätze). Die Enzy- klopädie ist alphabetisch auf- gebaut, was den schnellen Zu- griff auf die einzelnen Beiträ- ge ermöglicht. Auf viele in- teressante Beiträge stößt man aber nur beim Durchblättern.
Dabei fällt auf, dass sowohl ein Sach- als auch ein Perso- nenregister fehlen.
Dennoch ist die Enzyklo- pädie ein reichhaltiger Fun- dus für alle Leser, die sich schnell mithilfe von gut ver- ständlichen Einträgen über
die Medizingeschichte infor- mieren möchten. Frei nach dem Motto: „Was ich immer schon einmal wissen wollte.“
Michael Schmedt
Österreich
Neurosenreich
Angela Ringel (Hrsg.): Öster- reichs verwundete Seele – 20 Jah- re nach Erwin Ringel. Kremayr
& Scheriau, Wien, 2005, 160 Sei- ten, gebunden, 19,90 A
Unser Nachbarland ist schon eine eigene Welt. Wo sonst als im Land von Sigmund Freud, Thomas Bernhard und Elfrie- de Jelinek würde man nach 20 Jahren das Jubiläum eines Artikels über die prekäre Seelenlage der Nation bege- hen? Ringel, ein streitbarer und wortgewaltiger Psychia- ter (und bekannter Suizidfor- scher) hatte seinerzeit seinem Heimatland eine allumfas- sende Neurose bescheinigt.
Daran scheint sich, folgt man den Autoren dieses Büch- leins, die unverdrossen am Neurosen-Konzept festhal- ten, nicht viel geändert zu ha- ben. Die Jelinek wird’s gewiss
bestätigen. Neurosen erleben freilich einen Gestaltwandel.
Darauf macht der Grazer Psychiater Hans Georg Zapo- toczky aufmerksam. Auf dem neurotischen gesellschaftli- chen Hintergrund komme es zur Kreation neuer Krank- heitsbilder. Für Nicht-Öster- reicher besonders aufschluss- reich ist der Essay des Publi- zisten Peter Pawlowsky über das neurotisch geprägte Ver- hältnis von Bevölkerung und katholischer Kirche. Die prachtvolle barocke Kultur täusche über die Zerstörun- gen der Gegenreformation hinweg. Bis heute sei das Land von verordnetem Ka- tholizismus geprägt. Davon zeuge der Stil des Lebens, der Politik, der Verwaltung, ja der Intrigen. Die zwangsweise katholisierte Bevölkerung ha- be gelernt, sich um den Preis von Angst, Selbstzweifeln und Schuldgefühlen zu arran- gieren. Die persönliche Über- zeugung sei lange verschwie- gen worden. Doch dies än- dere sich zurzeit, daher die gerade in Österreich so spek- takulären Auseinandersetzun- gen zwischen Laien und der Hierarchie, deren Einfluss schwinde. Norbert Jachertz
Hörspiel
Elfenkind
Dieter Bongartz: Blumen für Angie. edition stammhaus, Köln, 2005, 1 CD, 12 A
Mit kalten, feuchten „Wasch- lappenhänden“ steht Mar- leenken im Blumenladen, um ein Geburtstagsge- schenk für ihre beste Freun- din Angie zu kaufen. Der scheinbar alltägliche Akt ko- stet sie große Überwindung.
Marleenken ist zehn Jahre alt. Sie ist ungeschickt, unsi- cher und kann schlecht rech- nen. Fast nebenbei erfährt der Hörer, dass Marleenken auch das ist, was man land- läufig als „geistig behindert“
bezeichnet.
Wie die Romanvorlage des Kölner Autors Dieter
Bongartz, der mit „Blumen für Angie“ sein erstes Kin- derbuch schrieb, kommt auch das Hörspiel ohne Pathos da- her. Renommierte Schau- spieler, darunter Nina Hoger und Jürg Löw, setzen einen leisen und poetischen Text wirkungsvoll in Szene.
Es ist die Geschichte von Marleenken, die von ihrer Freundin Angie enttäuscht wird, die eifersüchtig auf An- gies Freund ist, die sich ein- sam fühlt. Es ist aber auch die Geschichte von Marleenken, die einen Freund findet – dass es sich dabei um den Siegfried des örtlichen Kriegerdenk- mals handelt, spielt für sie keine Rolle – und in der schurrbärtigen Blumenver- käuferin einen Menschen trifft, der ihr hilft und sie ver- steht. Ein ganz normales Kin- derleben also – bis auf die Tat-
sache, dass Marleenken im Heim aufwächst. „Elfenkin- der“ nennt die Schnurrbärti- ge Kinder wie Marleenken:
„Sie helfen uns, das Glück zu erkennen. – Marleenken ver- stand kein Wort.“
„Blumen für Angie“ han- delt von Selbstfindung und
Integration, ohne auf Mit- leidseffekte oder erhobene Zeigefinger zu setzen. Das Hörspiel ist in der noch jun- gen edition stammhaus er- schienen. Der Erlös kommt der Behindertenarbeit in der gleichnamigen Kölner Einrichtung zugute. Dort le- ben, wohnen und arbeiten seit 20 Jahren behinderte und nichtbehinderte Men- schen miteinander. Autor, Schauspieler und Schau- spielerinnen haben auf ein Honorar verzichtet. Bestellt werden kann die Hörspiel- CD, zuzüglich 2,70 Euro für Porto und Versand, bei der Versandbuchhandlung des Deutschen Ärzte-Verlages, die das Projekt logistisch unterstützt (Telefon: 0 22 34/
70 11-3 22, Fax: 0 22 34/
70 11-4 76, E-Mail: vsbh@
aerzteverlag. de).Heike Korzilius Marleenkens innere Stim-
me: Nina Hoger
Foto:R.Kappus