P O L I T I K
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A2208 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 34–35½½½½28. August 2000
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ehr und mehr führt „Sprach- losigkeit“ in der Arzt-Patien- ten-Beziehung in diagnosti- sche Fallen. Viele nicht erkannte Krankheiten haben ihren Ursprung in einer kranken Seele, manifestieren sich aber mit körperlicher Symptoma- tik. Typische Beispiele dafür sind die psychosomatische Krankheit („Wenn die Seele schweigt, schreit der Kör- per . . !“), oder die „maskierte“ („lar- vierte“) Depression. Diese Krank- heitsbilder schaffen nicht nur viel menschliches Leid, sondern auch ei- ne gestörte Arzt-Patienten-Beziehung.Sie zählen auch zu den häufigsten Ursachen für Krankmeldungen am Arbeitsplatz; Kränkung, Psy- choterror, Mobbing „stechen ins Herz“, „schlagen auf den Ma- gen“, „liegen zentnerschwer auf der Brust“ – vielfach wird hier der Weg bereitet in vorzeitige Er- werbs- und/oder Berufsunfähigkeit („Ich schaffe es nicht mehr . . !“).
Oft werden die betroffenenen Men- schen mit verdrängtem seelischen Leidensdruck nicht „verstanden“. Sie haben keine Chance, sich Sorgen, Kummer „von der Seele zu reden“, und werden krank – zuerst seelisch, dann körperlich, wie alle Menschen, die Kränkungen, Konflikte, Ärger, Neid verdrängen, „schlucken“, in sich
„hineinfressen“ und in der „Sprech“- stunde ihr Herz nicht „ausschütten“
können, die im „Sprech“zimmer auch
„kein Gehör“ finden.
Nicht nur hier, sondern in allen Be- ziehungen zwischen dem Arzt und sei- nen Patienten, die nicht optimal funk- tionieren, wird das Grundgesetz der Medizin grob missachtet: Das Arztge- spräch stellt das wichtigste Diagnosti- kum, im Idealfall mit einer Treffer- quote von mehr als 50 Prozent, im Rahmen der Gesamtdiagnostik dar.
Es ist der sicherste Schutzwall gegen Verirrung in diagnostische Um- und Irrwege und gegen Fehldiagnosen, es bietet eine durch nichts ersetzbare Voraussetzung für eine positive ver- trauensvolle Zuwendung. Seelische
Hilfe erfährt der Patient durch das Wort. Hier gilt das Motto: Wenn man über die Dinge spricht, sind sie nur noch halb so schlimm . . !
Zunehmend bekommen Ärzte, be- vorzugt die „Hausärzte“, auch seeli- sche Nöte ihrer Patienten in der Part- nerschaft, Familie, Schule, am Ar- beitsplatz zu spüren, die früher übli- cherweise mit dem Pastor oder Pfarrer besprochen wurden. In seiner Zuwen- dung durch das Gespräch ist nun der Arzt in ganz besonderer Weise gefor- dert. Aber „das ärztliche Gespräch ist im Verfall . . ., es wird viel zu selten ge- führt. Es ist technikbezogen, zu wenig
menschlich nach Tiefgang und Thema- tik. Es wird bereitwillig delegiert an andere Hilfskräfte . . !“ So warnte be- reits 1981 Hans Erhard Bock in einem Vortrag vor Ärztinnen und Ärzten in der Bundesärztekammer.
Diejenigen, die mit der „alten Medi- zin“ nichts zu tun haben wollen, sollten auf der Hut sein. Denn der Mangel beim Arztgespräch rächt sich an der Gesundheit – vor allem durch Zunah- me seelischer Krankheiten. Vernach- lässigt werden diese durch eine dyna- misch expandierende, techniklastige Körpermedizin. Dies bekommt der seelisch Kranke häufig schmerzhaft zu spüren. Oft vergeht zu viel Zeit bis zur Sicherung der Diagnose. Nicht nur der Kranke selbst ist davon betroffen, das seelische Leid bleibt nicht ohne Aus- wirkungen auf das soziale Umfeld, vor allem die Familiengemeinschaft. Seeli- sche Krankheiten können „anstecken“.
Keine einzige Familie, in der eine de- pressive Mutter, ein durch Arbeitslosig- keit depressiv gewordener Vater, ein anorektisches Mädchen (zunehmend auch Jungen) leben, ist eine glückliche
Familie! Die Folgen stellen insgesamt ein gesellschaftliches Problem dar.
Reformen müssten mit einer längst fälligen Neugestaltung des Medizin- studiums beginnen, das den werden- den Arzt weitaus mehr als bisher hin- führt zur Ganzheitsmedizin, zur Psy- chosomatik, zur diagnostischen, the- rapeutischen Elementarfunktion der Zuwendung zum Kranken durch das Gespräch. Es muss allerdings depri- mieren, dass bei Diskussionen über ei- ne „Reform des Gesundheitswesens“
mehr an Budgets, Deckelung, Vertei- lerquoten als an eine Behebung der Misere der Arzt-Patienten-Beziehung gedacht wird. Selbst die teuersten Apparate, die wertvollsten Medi- kamente können das Arzt-Patien- ten-Gespräch nie ersetzen.
„Im Anfang war das Wort!“ – Auch in der Medizin sollte es ge- nau jenes Wort sein, das am An- fang jeder Beziehung zwischen dem Arzt und dem Menschen, dem er helfen will, steht, damit die Hil- fe in die richtige Richtung geht. Die für immer mehr Kranke spürbare Ten- denz der Medizin zur Entfernung von den Fundamenten der „sprechenden“
Medizin zwingt zur Rückbesinnung auf Grundwerte der Elementardia- gnostik, die sich am Prinzip von „sine materia“ im Sinne von Paracelsus (1493 bis 1541) und an der wirklichen Aussagekraft des Wortes orientieren.
Die Fortschritte in der Medizin ha- ben einen Stand erreicht, der vor we- nigen Jahrzehnten noch unvorstell- bar gewesen wäre. Letzten Endes kann aber dieser Fortschritt nur so gut, so hilfreich sein wie die ihn be- gleitende Mitmenschlichkeit ärztli- chen Denkens, Fühlens und Han- delns. Das Gleichgewicht zwischen
„Apparate“-Medizin und „sprechen- der“ Medizin muss stimmen, wenn die kranke Seele aus dem „Schatten- dasein“ einer dominierenden Körper- medizin befreit werden soll. Dies wäre dann auch eine spürbare Ausgaben- steuerung im Sinne der Gesundheits- reform 2000! Dr. med. Rudolf Köster