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Archiv "Ärzte ohne Grenzen: Die Folgen der Gewalt mildern" (18.11.2005)

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ie zwölfjährige Khulud hat seit zwei Jahren kein Wort mehr ge- sprochen. In ihrem kurzen Leben hat sie schon viele Schicksalsschläge er- lebt: Ihre Mutter starb an Krebs, ihr Va- ter wurde während der zweiten Intifada getötet. Mit ihrer völlig überforderten Großmutter und sechs Geschwistern lebt Khulud nun am Stadtrand von Khan Yunis im südlichen Gaza-Streifen.

Hier verlief die Frontlinie zu den jüdi- schen Siedlungen. Tägliche Gewalt und Terror gehörten zur Normalität. „Ruhe ist auch nach dem Abzug der Siedler noch nicht eingekehrt“, so die Einschät- zung von Dr. med.Tankred Stöbe von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen.

Es gebe ein nicht zu unterschätzendes Aggressionspotenzial, denn die Arbeits- losigkeit sei hoch und die Armut groß.

Stöbe war für die Hilfsorganisation vor Ort. Über die psychosoziale Not der Menschen im Gaza-Streifen ist er be- sonders besorgt. „Die Kinder dort haben gelernt, Dutzende Schussgeräusche von- einander zu unterscheiden“, sagt Stöbe.

Wie unzählige Kinder leide Khulud unter Schlafstörungen,Albträumen,Bett- nässen und Konzentrationsschwäche, berichtet Stöbe. Die Hälfte der rund 1,5 Millionen Einwohner des Gaza- Streifens sei jünger als 15 Jahre. Fast jeder, der hier lebe, habe durch den Kon- flikt mit Israel Angehörige oder Freun- de verloren. Rund 4 000 Palästinenser und 950 Israelis kamen bei Auseinan- dersetzungen im Gaza-Streifen ums Leben. Viele Kinder hat die Gewalt zu Waisen gemacht. Der Auseinanderset- zung ausweichen konnte niemand, weil das Gebiet nur 45 Kilometer lang und acht Kilometer breit ist.

Die Folgen des jahrelangen Terrors sind dramatisch: Angsterkrankungen, posttraumatische Belastungsstörungen,

Depressionen und Anpassungsstörun- gen. Traumatisierungen sind eher die Regel als die Ausnahme. Das belegt eine Untersuchung von Ärzte ohne Grenzen bei 500 Patienten, die im Gaza- Streifen psychosozial betreut wurden.

Mehr als 80 Prozent von ihnen haben ein oder mehrere Traumata erlebt.Viele ver- loren Angehörige, wurden Zeugen oder Opfer direkter Gewalt, gerieten in Aus- einandersetzungen oder mussten ihre zerstörten Häuser verlassen. Besonders betroffen sind die Menschen, die in di- rekter Nachbarschaft zu den ehemaligen jüdischen Siedlungen leben.

Über das Ausmaß der psychischen Folgen von Gewalt ist Stöbe bestürzt.

„Die psychosoziale Not dieser Men- schen ist unglaublich“, betont er. Stöbe war während der Räumung der jüdi- schen Siedlungen im August drei Wo- chen für Ärzte ohne Grenzen im südli-

chen Gaza-Streifen im Einsatz. Ziel war es, bei einer möglichen Eskalation medi- zinische Nothilfe leisten zu können. Da der Abzug der rund 8 500 Siedler ohne größere Zwischenfälle verlief, schloss sich Stöbe einem Team von Psychologen an, die im Auftrag der Hilfsorganisation traumatisierte Palästinenser psychosozi- al betreuen.

Die Hilfsangebote für die Betroffenen seien im Gaza-Streifen spärlich, denn das nationale Gesundheitswesen biete kaum Anlaufstellen, kritisiert Stöbe. Eine sta- tionäre psychiatrische Einrichtung gibt es nur in Gaza-Stadt. Dennoch sind rela- tiv wenige internationale Hilfsorganisa- tionen aktiv. Unter anderem Unicef setzt sich für die psychosoziale Betreu- ung von Kindern und Jugendlichen ein.

Während die medizinische Infrastruktur relativ gut sei, gebe es in der psychosozia- len Versorgung deutliche Defizite, meint Stöbe. „Das ist momentan die dominie- rende Not“, sagt er. Ärzte ohne Gren- zen versucht, der mangelhaften psycho- sozialen Versorgung entgegenzuwirken:

Zwei Psychologen sind bislang im Ein- satz. Eine feste Anlaufstelle mit Sprech- zeiten haben jedoch auch sie nicht.Sie su- chen ihre Patienten zu Hause auf. Mehre- re Dutzend Betroffene betreuen sie zur- zeit, in der Regel über einen Zeitraum von acht bis zehn Wochen. Sie arbeiten mit Übersetzern, denn palästinensische Psychologen oder Psychiater sind kaum verfügbar. Das Angebot hat sich mittler- weise herumgesprochen. „Die Mund-zu- Mund-Propaganda funktioniert gut“, sagt Stöbe. Wenn das Ärzte-ohne-Gren- zen-Auto in Siedlungen oder Flücht- lingslagern unterwegs sei, kämen die Menschen auf die Psychologen und Mit- arbeiter zu. „Das Auto hat wirklich eine Magnetwirkung“, erklärt Stöbe.

Auch Khulud hatte das Glück, an die Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen zu gelangen. Mittlerweile spricht sie wieder. Durch ihre Geschichte fühlt sich Stöbe bestätigt, und er ist sicher, dass durch die Interventionen spürbare Erfolge erzielt werden können. Ein Ausbau der Aktivitäten mit festen Räumlichkeiten und einem größeren Team ist geplant. Dr. med. Birgit Hibbeler

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A3174 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 46⏐⏐18. November 2005

Ärzte ohne Grenzen

Die Folgen der Gewalt

mildern

Foto:Tankred Stöbe

Im Gaza-Streifen sind post- traumatische Belastungs- störungen, Depressionen

und Angsterkrankungen Normalität. Behandelt werden die Betroffenen

aber nur sehr selten.

Kindheit im Terror: Psychische Anpassungsstö- rungen sind ein häufiger Ausdruck von Trauma- tisierung.

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