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Archiv "Die Medizinalreformbewegung von 1848/49: Zur Geschichte des ärztlichen Standes im 19. Jahrhundert" (04.11.1976)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen GESCHICHTE DER MEDIZIN

„Der Arzt ist im Wesentlichen ein Vertrauensmann. Von dem Augen- blick wo er diesen Charakter ver- liert, hört seine Bedeutung auf."

(Virchow)

„Der Arzt ist nichts anderes als Na- turforscher, der die erkannten Ge- setze zum Heile der Menschen an- zuwenden hat." (Grauvogl)

Die Medizin ist eine Kunst. „Das erste aber, was die Kunst verlangt

— alle Kunst — ist die Freiheit."

(Ebers)

„Der Liberalismus kann wohl kaum irgendwo unrichtiger angebracht werden, als durch Gestattung der unbedingt freien Conkurrenz der Ärzte." (Hofmann)

Kontroverse Meinungen aus der Medizinalreform von 1848/49. Kon- trovers bis auf den heutigen Tag.

1848 war das Jahr der bürger- lichen Revolution in Deutschland.

Gleichzeitig und von dieser Revo- lution getragen entfaltete sich eine mächtige ärztliche Standesbewe- gung. Im Rahmen dieser Standes- bewegung, die sich selbst den Na- men „Medizinalreform" gab, disku- tierte man über die rechte Stellung der Ärzte in einem demokratischen und sozialen Staat. Die Diskussion wurde nie endgültig abgeschlossen

— bis auf den heutigen Tag.

Sollen die Ärzte vom Staat besol- det werden? Ist die Medizin eine exakte Wissenschaft? Sind politi- sche Fragen Angelegenheit der

Ärzte? Kann der Patient mündig sein?

Solche Fragen — vielleicht in der Form etwas abgewandelt — finden sich bis heute in jeder ärztlichen Standeszeitung. Die Medizinalre- former von 1848 stellten sie eben- falls.

Die wichtigsten Veränderungen im 19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert fielen nicht nur viele wissenschaftliche Entscheidun- gen, die unsere heutige Medizin bedingen. Auch die standespoliti- schen Weichen wurden damals ge- stellt. In der ersten Jahrhundert- hälfte waren die Medizinalverhält- nisse noch stark von den heutigen verschieden und außerdem recht vielgestaltig. Jeder Staat hatte sei- ne eigene Medizinalverfassung. Es gab eine Anzahl von unterschiedli- chen Heilpersonen, die alle eine unterschiedliche Ausbildung hat- ten: die studierten und promovier- ten Civilärzte, die getrennt davon ausgebildeten Militärärzte, dann die durch ein zusätzliches Physi- katsexamen geprüften Medizinal- beamten (Physici) und schließlich verschiedene Klassen von Wund- ärzten oder Chirurgen. Diese Wund- ärzte wurden noch im Meister- Lehrlings-Verhältnis ausgebildet oder auf besonderen Chirurgen- schulen (4).

1849 wurde in Preußen der medi- zinische Einheitsstand geschaf- fen. Und da schließlich alle Teil-

Die erste Hälfte des 19. Jahr- hunderts ist medizinge- schichtlich von außerordent- licher Faszination. In dieser Zeit spielten sich die Ärzte- vereinsgründungen ab, deren Aktivität in der gesundheits- politischen Diskussion durch das Scheitern der bürgerli- chen Revolution von 1848 zwar unterbrochen wurde, je- doch nicht auf Dauer endete.

Der spätere Begründer des Deutschen Ärztevereinsbun- des gehörte selbst zu den Verfolgten der Revolution von 1848. Die Medizinalre- formbewegung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellt sich heute geschlossen dar; die unterschiedlichen Verhältnisse in den einzelnen 39 Staaten des Deutschen Bundes sind indes nur schwierig zu überschauen. In vielen Staaten war die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts geradezu eine Blützezeit ge- sundheitspolitischer Aktivität der Obrigkeit, wie sie in spä- teren Jahrzehnten nie wieder erreicht worden ist. In vielen Staaten machte man sich auch die Sicherung der ärzt- lichen Versorgung sehr zur Aufgabe. Doch die Regime- Unterschiede innerhalb des Deutschen Bundes waren au- ßerordentlich groß. Einen Gesamtüberblick über die

„Medizinalpolitik" im Deut- schen Bund der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu ge- ben ist daher eine schwieri- ge, aber dankbare Aufgabe, der sich die Medizinge- schichte verstärkt zuwenden sollte. DÄ

staaten im Reich, unter Preußens Vorherrschaft, aufgingen, gab es nach 1871 (als das Kaiserreich ge- gründet wurde) offiziell nur noch studierte Ärzte in Deutschland.

Auch hinsichtlich der Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit wurde

Die Medizinalreformbewegung von 1848/49

Zur Geschichte des ärztlichen Standes im 19. Jahrhundert

Johanna Bleker

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 45 vom 4. November 1976 2901

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Medizinalreform

auf diese Weise das preußische System auf das übrige Deutschland ausgedehnt. In Preußen gab es be- reits seit 1818 völlige Niederlas- sungsfreiheit und Gewerbefreiheit für die Ärzte. In Bayern war dage- gen die Niederlassungszahl für je- den Distrikt begrenzt. Besonders interessant waren die Verhältnisse in Nassau. Dort gab es seit 1818 nur beamtete Ärzte. Bei der Einver- leibung Nassaus in Preußen im Jahre 1866 wurde dieses System zugunsten der absoluten Gewerbe- freiheit aufgegeben, obwohl es von vielen als vorbildlich bezeichnet wurde (5).

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts setzte sich auch al- lenthalben die naturwissenschaftli- che Orientierung der Medizin durch. Zu Anfang hatte man noch die philosophische Bildung als wichtigste Propädeutik für den an- gehenden Arzt angesehen. Die Me- dizinstudenten machten das Philo- sophikum. 1861 wurde in Preußen das Philosophikum durch das Phy- sikum ersetzt (9).

In den letzten Jahrzehnten des vo- rigen Jahrhunderts kommt es zur Gründung der Ärztekammern und der berufspolitisch orientierten ärztlichen Vereine (und der deut- schen Ärztetage). Diese Einrich- tung, die bis zur Jahrhundertwende schrittweise ausgebaut wurde, brachte den Ärzten jene Unabhän- gigkeit vom Staat, die bis heute für ihre Berufsgruppe einzigartig ist.

Zu den entscheidendsten Entwick- lungen des vorigen Jahrhunderts gehört die Gründung der gesetzli- chen Arbeiterkrankenversicherung im Jahre 1883. Bis dahin waren die meisten Arbeiter im Krankheitsfall völlig ungeschützt. Sie verloren ih- ren Verdienst und konnten vielfach nicht einmal einen Arzt bezahlen.

Die Krankenkassen verursachten natürlich eine grundlegende Ände- rung des ärztlichen Berufsbildes.

Diese Konsequenzen wurden zwar auch unter den Ärzten schon seit Gründung der gesetzlichen KV dis- kutiert. Da dies den Ärzten aber erst nach einigen Jahren voll be-

wußt wurde, fällt die Diskussion darüber erst an den Anfang unse- res Jahrhunderts und kann hier nicht näher besprochen werden.

Das Berufsbild des Arztes hatte sich allerdings bereits im 19. Jahr- hundert entscheidend gewandelt.

Zu Beginn des Jahrhunderts war der Prototyp des Arztes der Haus- arzt. Er war der Vertraute der Fa- milie, der alle familiären Bedingun- gen in seine Diagnose mit einbe- zog. Seine Qualifikation beruhte auf seiner langjährigen Erfahrung und seinem Einfühlungsvermögen.

Der Hausarzt schrieb keine Rech- nungen. Er erhielt einmal jährlich ein Honorar, dessen Höhe von der Wertschätzung und von den finan- ziellen Möglichkeiten des Familien- vaters abhing.

Am Ende des Jahrhunderts ist der Arzt ein Fachmann geworden. Sei- ne Qualifikation ist von der Aktuali- tät seines Wissensstandes abhän- gig. „Es ist gleichgültig, wer am Bett steht" — rühmt ein zeitgenös- sischer Autor — „er muß nur ver- stehen zu untersuchen, zu erken- nen. Er tritt vor ein Objekt, welches er ausforscht, ausklopft, aushorcht, ausspäht, und die rechts und links liegenden Familienverhältnisse än- dern daran gar nichts" (18, S. 33/

4). Der Arzt findet es nun nicht mehr ehrenrührig, für seine Lei- stungen einen festgesetzten mate- riellen Gegenwert zu fordern, und Rechnungen zu schreiben (14).

Die Medizinalreformbewegung von 1848 steht quasi auf der Grenze zwischen den alten Zuständen und den neuen Entwicklungen. Damals wurden alle genannten Verände- rungen bereits entworfen, und manches wurde diskutiert, das weit über die Entwicklung des 19. Jahr- hunderts hinausging. Die bürger- lich-demokratische Bewegung von 1848 wurde mehrere Jahrzehnte, ja fast ein ganzes Jahrhundert lang, politisch verdrängt, ihre radikalde- mokratischen Züge sogar fast ver- gessen. Und der Medizinalreform- bewegung erging es ähnlich. Wäh- rend viele ihrer Forderungen nach und nach verwirklicht wurden, wur-

den andere Tendenzen so gründ- lich vergessen, daß sie erst heu- te wiederaufzuleben scheinen. So kann es nicht verwundern, daß die damalige Diskussion zuweilen ganz aktuelle Themen betrifft.

Der ärztliche Stand im Vormärz Um die Medizinalreformbewegung von 1848 verständlich zu machen, muß ich etwas in die Zeit vor 1848

— den sogenannten Vormärz — zu- rückgreifen.

Bekanntlich zog nach dem Wiener Kongreß von 1815 die Reaktion in Deutschland ein. Die Gedanken der französischen Revolution, die Hoffnung auf nationale Einigung, das Streben nach politischer Frei- heit wurden durch die Staatsgewalt zurückgedrängt. Es gab Perioden eines relativen Tauwetters, in de- nen Dichter und Literaten ihre Ideale von Freiheit und nationaler Einheit verkünden durften. Ihnen folgten immer wieder Demagogen- verfolgungen, Verhaftungen, Emi- gration.

So entstand in dieser Zeit der Bie- dermeier. Der Prototyp des braven Bürgers, der sich nicht in die Poli- tik mischt und seine Aktivitäten da entfaltet, wo ihm die Staatsgewalt einen Freiraum gewährte: im Be- reich der Familie, der Bildung und in der Wirtschaft. Der wirtschaftli- che Liberalismus hatte sich durch- gesetzt. Er basierte auf dem Er- werbsstreben des einzelnen und der freien Konkurrenz aller. Das li- berale Wirtschaftsprinzip hatte aber nicht allein die Entstehung ei- nes Besitzbürgertums zur Folge, sondern auch eine ständig wach- sende Zahl von Besitzlosen. Dies waren zunächst verarmte Bauern, die in die Städte zogen, und Hand- werker, die durch die wachsende

Konkurrenz nicht mehr ihr Exi- stenzminimum erwirtschaften konn- ten. Wirtschaftskrisen und Mißern- ten führten zur Verarmung großer Bevölkerungsteile.

Auch die Ärzte, die zumindest in Preußen in den Genuß der Gewer-

2902 Heft 45 vom 4. November 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Med izinalreform

befreiheit kamen, gehörten vielfach nicht zu den Nutznießern des Sy- stems. Vielen von ihnen ging es schlecht. Man glaubte, das liege daran, daß die Zahl der Ärzte zu groß geworden sei. So stieg inner- halb von 20 Jahren die Zahl der Ärzte in Preußen von 2000 auf 3000.

Aber das war nicht der eigentliche Grund, denn die Gesamtbevölke- rung wuchs etwa im gleichen Ver- hältnis. Damit kamen gleichblei- bend etwa bis zu 6000 Einwohner auf einen Arzt (12, S. 43/5, S. 369).

Die Armut der Ärzte kam vielmehr daher, daß die Mehrzahl der Pa- tienten nicht zahlungsfähig war.

Ein ärztlicher Beobachter schreibt:

„Arbeit gibt es in Hülle und Fülle, aber Geld gibt es wenig, und die Gewerbetreibenden sind darauf an- gewiesen, auf die wohlhabende Mittelklasse, und die wird dazu alle Tage geiziger" (12, S. 31).

So beginnt man sich in ärztlichen Kreisen zu fragen, ob das Prinzip der Gewerbefreiheit in der Medizin am Platze sei. Man stellt fest, daß die Notwendigkeit, von den Krank- heiten anderer Menschen zu leben, den Ruf der Ärzte verdirbt und ihre Moral korrumpiert. Denn

„welch ein jammervolles Bild ist ein Arzt ohne Praxis! . . . ein Mann, der seinen aufkeimenden Hunger durch die Hoffnung be- schwichtigt, daß vor seiner Tür ein wohlhabender Mensch das Bein bricht, der eine Pest unter seinen Collegen herbeiwünscht und aus Schadenfreude jubelt, wenn ein College einen dummen Streich ge- macht hat". So herrsche — heißt es weiter — „In den Verhältnissen der praktischen Aerzte eine per- sönliche und gesellige Mißachtung ..., eine moralische Weitbeinigkeit und Rücksichtslosigkeit, daß die besseren Männer darüber verzwei- feln möchten" (10, S. 78/9).

Wäre es nicht besser — so fragen viele — wenn zumindest, wie in Bayern, die Niederlassungszahlen beschränkt würden (11), oder bes- ser noch, wenn durch eine allge- meine Beamtung die Ärzte vom Er- werbszwang befreit würden (1;

10)?

In den letzten Jahren vor der Re- volution beginnt nun das politische und geistige Klima sich zu wan- deln. Während man bis dahin nur von Freiheit und Gleichheit träumte und dichtete, drängt nun eine Ge- neration nach vorn, die aktiv auf den Umsturz hinarbeitet. „Immer Freiheit in Gedichten — Ach, und

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Mit dieser Schrift formuliert der Berliner Armenarzt Salomon Neumann die These vom Recht auf Gesundheit und disku- tiert die Probleme des Gewerbeprinzips in der Gesundheit

nirgends einen Mann, der die beß- re Tat verrichten — der sie kühn erobern kann!" protestieren die Literaten des Vormärz (German Mäurer 7, S. 316).

Während man in den ersten Jahr- zehnten vor allem die deutsche Ein- heit und eine gewisse Kontrolle der Staatsgewalt, die Mitregierung er- strebte, fordert die junge Genera- tion den radikalen Umsturz, die Selbstregierung, die Republik. Sie will nicht nur die individuelle Frei- heit realisiert sehen, sie will die Gleichheit aller Staatsbürger, die Abschaffung aller Privilegien. Und dabei wird evident, daß es nicht nur Privilegien des Adels gibt, son-

dern auch Privilegien des Besitzes.

Die soziale Frage, die sich gerade in diesen Jahren verschärft — ich erinnere nur an den Weberauf- stand in Schlesien von 1844 — ge- rät in den Mittelpunkt des Interes- ses.

Die Ärzte beginnen nun zu sehen, daß das Gewerbeprinzip in der Me- dizin nicht nur für sie selbst pro- blematisch ist, sondern auch für alle diejenigen, die außer ihrer ge- sunden Arbeitskraft nichts besit- zen. Man weiß, daß gerade Armut und Not die Verbreitung von Krankheiten unterstützen. Aber was wurde dagegen getan? Die öf- fentliche Gesundheitspflege be- schränkt sich auf die Wahrneh- mung medizinalpolizeilicher Maß- nahmen.

Und auf welche Weise sollen die Armen ärztlich versorgt werden, wo doch die Ärzte auf ihren Ver- dienst angewiesen sind?

Der preußische Staat sorgte auf zwei Wegen dafür: einmal durch den Kurierzwang. Das heißt, der Arzt durfte unter Androhung von Strafe keinen Hilfesuchenden ab- weisen. Die Ärzte betrachten das als eine unzumutbare Beschrän- kung der Freiheit, eine Beschrän- kung, die schließlich keinem ande- ren Gewerbezweig zugemutet wur- de.

Der zweite Weg war die Anstellung von besonderen Armenärzten. Das Gehalt dieser Ärzte lag meist unter dem Existenzminimum. Arme, die armenärztliche Behandlung bean- spruchten, mußten erst staatlich als Arme anerkannt sein. Arbeiter und Handwerker, die erst durch ihre Krankheit verarmten, hatten also keinen Anspruch auf ärztliche Hilfe. Freie Arztwahl bestand nicht.

Rudolf Virchow, damals 26 Jahre alt, schreibt 1848 über das Armen- arztwesen: „Die armen Kranken zwang man, sich von einem von oben her bestimmten Arzt behan- deln zu lassen ... Die Aerzte zwang man durch eine maßlose Concur- renz, eine Stellung anzunehmen, welche ihnen den ... würdigen

2904 Heft 45 vom 4. November 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen Medizinalreform

Lohn vorenthielt ... Diese Verhält- nisse mussten nothwendig die Ar- men und die Aerzte erbittern, beide mussten allmählich mehr und mehr von der Ueberzeugung durchdrun- gen werden, daß sie die Opfer fal- scher gesellschaftlicher Grundsät- ze waren. Die Gesellschaft schuf sich selbst ihre Feinde. Das Prole- tariat wurde von Tag zu Tag unru- higer, unklare Gedanken von Men- schenwohl und Menschenwürde begannen sich in ihm zu regen ...

Und wer kann sich darüber wun- dern, daß die Demokratie und der Socialismus nirgend mehr Anhän- ger fand als unter den Aerzten?

Die Medicin ist eine sociale Wis- senschaft und Politik ist weiter nichts als Medizin im Grossen" (15, S. 34).

• Wird fortgesetzt Anschrift der Verfasserin:

Dr. med. Johanna Bleker

Institut für Theorie und Geschichte der Medizin

an der Universität Münster Waldeyerstraße 27

4400 Münster ZITAT

Gegenwehr

„Man fing bei uns an mit den ,Halbgöttern in Weiß', das ging über die ‚Profitmaximie- rer', und das endete vielleicht bei den ‚Beutelschneidern'.

Und die Ärzte wehren sich gegen Beleidigung, gegen Diffamierung, die Ärzte ha- ben Furcht, daß das Vertrau- ensverhältnis Arzt/Patient da- durch gestört wird, das ist heute der Sinn dieses Prote- stes: daß wir auch die Gefahr aufzeigen, daß unser gesun- des, und ich sage ganz be- wußt, unser preiswertes Ge- sundheitssystem Schaden leidet."

Dr. Wilhelm Gerland, Zweiter Vorsitzender der KV Westfa- len-Lippe in einem Gespräch mit Günther Windschild im WDR-Mittagsmagazin.

Durch Götz von Berlichingen kam die Sache „in den Griff". Der alte Haudegen verlor bekanntlich in der Schlacht bei Nördlingen seine rechte Hand. Er sann darüber nach, wie man dem Verlust der Hand durch eine Art Ersatzhand abhelfen könne. Nach seinen eige- nen Plänen ließ er sich vom Schmied in Jagsthausen die welt- bekannte künstliche eiserne Hand schmieden.

Durch einen Druckmechanismus konnte er mit dieser Hand Ge- genstände, ja sogar seine Waffe, festhalten. Er war damit der erste Mensch, der eine künstliche Er- satzhand erdacht hatte, mit der man zumindest unter Zuhilfenah- me der anderen Hand etwas um- greifen und festhalten konnte.

Kriegsnot und schöpferische Bega- bung hatten ihn dazu inspiriert.

Kein Geringerer als Professor Sau- erbruch erbat sich diese Hand runde 350 Jahre später, im ersten Weltkrieg, zum Studium des Mecha- nismus aus. Immerhin dünkte er sich nicht zu erhaben, sich erst einmal den „Griffversuch" des Göt- zen anzuschauen. Auch bei Sauer- bruch waren die furchtbaren Schußverletzungen der Soldaten des ersten Weltkrieges Veranlas- sung zu der Überlegung, wie man diesen Menschen wieder zum Grei- fen verhelfen könne, allerdings auf operativem Wege. Sauerbruch schuf so bekanntlich die erste will- kürlich bewegte Hand, indem er die Greifwerkzeuge direkt an die mit Tastsinn ausgestatteten Mus- kelwülste anschloß.

Und wieder waren es die im zwei- ten Weltkrieg auftretenden entsetz- lichen Verstümmelungen, die den traurigen Anlaß gaben zu noch subtilerer und noch spezifizierterer Gliederchirurgie. Prof. Otto Hilgen- feldt (Bochum) wurde in jahrelan- ger Verfeinerung seiner Methode zum Initiator des operativen Dau-

FEUILLETON

menersatzes durch Versetzung des Mittelfingers unter Erhaltung der Sensibilität. Er wurde damit Wegbe- reiter für Beseitigung von Greifstö- rungen bei Fingerverlusten vielerlei Art.

Der inzwischen emeritierte Profes- sor Hilgenfeldt wurde für seine weltweit anerkannten Erfolge im Jahre 1973 mit dem erstmalig ver- liehenen „Erich-Lexer-Preis" aus- gezeichnet.

Fassen wir zusammen: Der Götz schafft die erste künstliche Hand, Sauerbruch die „willkürlich beweg- te Hand" (Greifprothese), Hilgen- feldt bekommt die Sache „endgül- tig in den Griff". Zahllose dankbare Patienten sind dafür lebende Zeu- gen. Ein Teil des Dankes gebührt dem Götz. Nach langem Weg wur- de seine Idee Wirklichkeit.

Götzens eiserne Hand befand sich nicht immer wie heute im Schloß zu Jagsthausen bei seinen Nach- kommen. Sie gelangte nach sei- nem Tode in den Besitz der frei- herrlichen Familie von Hornstein, und erst drei Jahrhunderte später gelang es der Freifrau Therese von Berlichingen, dieselbe wieder in den Besitz der Familie zu brin- gen.

Nachdem sie dem Freiherrn von Hornstein vergeblich eine namhaf- te Summe dafür geboten hatte, lud dieser die Freifrau eines Tages zu einem Gastmahl ein. Nach Beendi- gung des Mahles ließ er ihr als Nachtisch eine sorgfältig bedeckte Schüssel vorsetzen. Sie enthielt Götzens Hand als Geschenk.

Anschrift des Verfassers:

Dr. Georg Munck Garbersweg 8 2100 Hamburg 90

Der geheimnisvolle Nachtisch

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 45 vom 4. November 1976 2905

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