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Archiv "Die Medizinalreformbewegung von 1848/49: Zur Geschichte des ärztlichen Standes im 19. Jahrhundert" (11.11.1976)

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Aufsätze Notizen

Ausbildung für den öffentlichen Gesundheitsdienst

eigentlichen Kurs 30 Wochen entfal- len. Er beginnt am 1. Oktober und endet am 30. September eines je- den Jahres. In diese Zeit fallen zweieinhalb Monate für ein Prakti- kum. Es machte einen besonderen Eindruck auf die deutsche Delega- tion, daß die Schule umfangreiche Lehr-Laboratorien unterhält, die alle Untersuchungen im Bereich des öffentlichen Gesundheitswe- sens ermöglichen. In diesen Labo- ratorien werden vor allen Dingen Untersuchungen für die Sicherung der Umwelthygiene durchgeführt, das heißt, Wasser-, Boden- und Luftproben untersucht. Rennes ist auch Referenzzentrum der WHO für diese Aufgaben in Frankreich.

Die Schule hat drei bemerkenswer- te Abteilungen:

0 Abteilung Wissenschaft und Technik der Gesundheit

0 Abteilung Wissenschaft und Technik im Sozialdienst

0 Abteilung Verwaltung im Kran- kenhaus.

Eine vierte Gruppe umfaßt aber auch Statistik, Epidemiologie und Informatik.

In der Abteilung 1 erhalten insbe- sondere die künftigen Amtsärzte die Ausbildung in Sozialmedizin und öffentlichem Gesundheits- dienst. Sie werden auf Leitfunktio- nen und Planungsfunktionen im öf- fentlichen Gesundheitsdienst vor- bereitet. Mit einem Reformpro- gramm, das die öffentlichen Aufga- ben des Gesundheitswesens stär- ker betont, soll der öffentliche Ge- sundheitsdienst auch Durchgangs- station in der Ausbildung aller Ärzte werden. Im Hintergrund die- ser neuen Regelung steht die Tat- sache, daß auch im französischen öffentlichen Gesundheitsdienst gro- ßer Nachwuchsmangel herrscht.

Ingenieure werden mit einer Zu- satzausbildung von einem Jahr zum Gesundheitsingenieur ausge- bildet und damit auf ihre künftigen Aufgaben im öffentlichen Gesund- heitsdienst vorbereitet. Diese Ge- sundheitsingenieure können sich auch mit einem zweijährigen Aus- bildungsgang qualifizieren.

Aber auch hochqualifizierte Fach- kräfte, die später Leitungsfunktio- nen in der Gesundheitspflege über- nehmen sollen, müssen in der Ab- teilung 1 sozialmedizinische Kennt- nisse erwerben. Eine besondere Ausbildung gibt es für den soge- nannten Obertechniker im öffentli- chen Gesundheitsdienst, der später für die Beaufsichtigung der Ge- sundheitsaufseher zuständig ist.

Eine weitere Berufsgruppe, die hauptsächlich in der Abteilung 1 ihre Ausbildung erfährt, bilden die für den betriebsärztlichen Dienst vorgesehenen Ärzte.

In der Abteilung 2 erfahren alle in den öffentlichen sozialen Diensten Frankreichs tätigen Spitzenkräfte ihre Grundausbildung. In der Abtei- lung 3 werden die Verwaltungslei- ter der Krankenhäuser ausgebildet.

Weitere Ausbildungsmöglichkeiten bestehen für Gemeindeschwestern und Pflegepersonal in der Haus- pflege und in der Altenpflege.

Interessant ist das System der Stu- diengebühren. Für die künftig in den öffentlichen Dienst tretenden Schulabgänger übernimmt die Ein- stellungsbehörde nachträglich die Ausbildungskosten. Ähnlich ist die Regelung mit der Privatindustrie.

Diejenigen Schulabgänger, die nicht vom öffentlichen Dienst oder von der Industrie übernommen werden, müssen das Studiengeld von rund 2000 DM pro Jahr selber tragen.

Die französische nationale „Schu- le" für öffentliches Gesundheitswe- sen (Ecole Nationale de La Santä Publique) ist mit den in der Bun- desrepublik bestehenden Akademi- en für öffentliches Gesundheitswe- sen in Düsseldorf und München nicht unbedingt vergleichbar. Der französische Staat hat mit dieser Schule eine großzügige Ausbil- dungsstätte geschaffen, der ein dif- ferenziertes, hauptamtliches Lehr- personal zur Verfügung steht. Die enge Verbindung mit den beiden Universitäten in Rennes garantiert eine qualitativ hochwertige Ausbil- dung. Eindrucksvoll ist die Fülle von Laboratorien und praktischen

Arbeitsplätzen, die allerdings zum Zeitpunkt der Besichtigung nur mä- ßig in Anspruch genommen waren.

Ausbildungsmaterial und Untersu- chungsgeräte stehen reichhaltig zur Verfügung. Die Ausbildung am Computer, im klinisch-chemischen Labor und im Umweltlabor ist be- sonders hervorzuheben.

Die Schule besitzt zwei Studenten- wohnheime, die eine große Zahl von Zimmern für die Absolventen vorhalten. Ein drittes Wohnheim ist vorgesehen. Die deutsche Besu- chergruppe wohnte in einem sol- chen Studentenwohnheim. Die Ein- richtung ist auf das Notwendigste beschränkt, sie bietet den Studen- ten jedoch eine preiswerte, saube- re und moderne Unterkunft. Den beiden deutschen Akademien feh- len Laboratorien und entsprechen- de Wohnheime.

Einen besonderen Anreiz zum Ein- tritt in den öffentlichen Dienst stellt für die Absolventen die nachträgli- che Zahlung der Studiengebühren durch die übernehmende öffentli- che Einrichtung dar.

Besonders glücklich erschien den Besuchern die selbständige Stel- lung des Präsidenten der Schule in Rennes, der dem Ministerium für Gesundheit in Paris direkt unter- stellt ist und dem neben dem allge- meinen öffentlichen Haushalt der Schule ein Dispositionsfonds zur Verfügung steht, der aus Zuwen- dungen von dritter Seite gespeist wird und im begrenzten Rahmen auch eine eigene Ausgabenpolitik zuläßt. Die Akademie hat den Rang einer „Haute Ecole", die Spitzen- kräfte der französischen Verwal- tung heranbilden. Diesem Status der Schule entspricht ein scharfes Ausleseprinzip bei der Aufnahme der akademischen Gesundheitsbe- rufe. Aber auch für die nichtakade- mischen Berufe wird eine breite Palette an Aus- und Fortbildungs- möglichkeiten bereitgehalten.

Anschrift des Verfassers:

Ministerialrat Dr. med.

Wolfgang Nusche Deutschherrenstraße 56 5300 Bonn-Bad Godesberg 1

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Die Revolution

und die standespolitischen Ziele der Medizinalreform

Als sich im Februar 1848 das Pari- ser Proletariat gegen das Bürger- königtum erhob, sprang der revolu- tionäre Funke auf ganz Europa über. Noch im Februar erhob sich das Volk in Württemberg. Am 13.

März wurde Metternich — Symbol- figur der Restauration — aus Wien verjagt. Am 18./19. März ging die Berliner Bevölkerung auf die Barri- kaden. Friedrich Wilhelm IV. floh.

Rudolf Virchow befand sich zu die- ser Zeit in Oberschlesien, um eine dort herrschende Hungertyphusepi- demie zu beobachten. Er eilte nach Berlin um — wie er sagt — „bei dem Sturz unseres alten Staatsge- bäudes zu helfen" (16, S. 217). Die unglaubliche Not, die in Schlesien herrschte, forcierte seinen Ent- schluß.

Wenige Monate später schreibt er:

„Man erinnere sich an unsere März-Revolution, an die ungeheue- re Bewegung unter unserem ‚Pö- bel': Was war der Inhalt dieser Re- volution, der Zielpunkt dieser Be- wegung? Die Lösung der socialen Frage" (15, S. 38). „Die deutsche Einheit war in aller Munde und wie es schien in aller Herzen ... Keine Partei wagte es mehr zu leugnen, dass der neue Staat nur durch de- mokratische Einrichtungen gesi-

chert werden könne ... Die sociale Frage war der Gegenstand aller Beratungen" (15, S. 30).

Im Mai trat die Frankfurter Natio- nalversammlung zusammen, um über die Neuordnung der deut- schen Verhältnisse zu beraten. Und während man sich in Frankfurt dar- um stritt, wie die deutsche Einheit realisiert werden sollte und welche demokratischen Prinzipien einge- führt werden sollten, nahmen die Ärzte ihrerseits die Reform der me- dizinischen Verhältnisse in Angriff.

In den medizinischen Zeitschriften drängen medizinalpolitische Artikel jede andere Berichterstattung in den Hintergrund. Denn: „In einer Zeit, wo Alles nach Recht und Frei- heit ringt ..., wird es gerechtfertigt erscheinen, wenn auch die ..

Aerzte ... die herrschenden Män- gel der Medicinalzustände ... vor das Forum der Oeffentlichkeit brin- gen (19)."

Im Juni erscheint unter der Leitung von Virchow und Leubuscher eine neue standespolitische Wochen- schrift. Sie heißt: „Die Medicinische Reform".

Für die Gruppe um Rudolf Vir- chow ist die Medizinalreform nicht nur — wie im obigen Zitat ange- deutet — eine Folgeerscheinung der allgemeinen Veränderungen.

Sie verstehen Medizinalreform als die notwendige Voraussetzung ei-

ner besseren Gesellschaftsord- nung. Medizinalreform ist für sie keine Privatangelegenheit der Ärz- te, sondern ein integrierender Be- standteil der Politik.

Aus diesem unterschiedlichen An- satz heraus lassen sich in der Me- dizinalreformbewegung zwei we- sentliche Tendenzen unterschei- den: Die eine will die revolutionä- ren Prinzipien von Freiheit, Selbst- verwaltung und Schutz vor sozialer Not vor allem für die Ärzte selbst durchsetzen. Die zweite will dar- über hinaus das öffentliche Ge- sundheitswesen nach revolutionä- ren Prinzipien reformiert sehen.

Überwiegend standespolitische Ziele haben die folgenden Forde- rungen (vgl. 1, 4):

1. Die Realisierung des Einheits- standes. Die getrennten Ausbil- dungsgänge für Wundärzte, Militär- ärzte und Zivilärzte sind abzuschaf- fen. Man ist der — gerechtfertigten

— Ansicht, daß die Tätigkeit der nicht studierten Wundärzte dem wissenschaftlichen Stand der Me- dizin nicht mehr entspricht. Außer- dem sind Wundärzte unliebsame — weil billigere — Konkurrenz.

Man will auch, daß die gesicherte Laufbahn des Militärarztes jedem studierten Mediziner offen stehen solle.

Außerdem fordert man, daß die Mi- litärärzte nicht mehr den adeligen Offizieren untergeordnet werden sollen, sondern ebenfalls Offiziers- rang erhalten (diese Forderung wurde übrigens noch im selben Jahr vom Preußenkönig gewährt).

2. In ärztlichen Regionalvereinen sollen die Ärzte die sie betreffen- den Angelegenheiten selbstverwal- ten können.

3. Die Inhaber öffentlicher Ämter in der Medizinverwaltung wie an den Universitäten, sollen nicht mehr von oben ernannt werden.

Die Stellen sollen öffentlich ausge- schrieben und nach demokrati- schen Verfahren besetzt werden. I>

Die Medizinalreformbewegung von 1848/49

Zur Geschichte des ärztlichen Standes im 19. Jahrhundert

Johanna Bleker

Fortsetzung und Schluß

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4. Es soll Kurierfreiheit bestehen.

Das bedeutet zweierlei:

a) der Kurierzwang soll abgeschaft werden. Jedem Arzt soll es freiste- hen, die Behandlung von Patienten abzulehnen (realisiert 1869)

b) alle Staatsbürger (auch Nicht- ärzte) dürfen Kranke kurieren, so- lange sie keinen Schaden anrich- ten. Dies bedeutet im Prinzip nichts anderes, als die Abschaf- fung eines übriggebliebenen Zunft- privilegs. Da dabei jedoch auch an- dere Gesichtspunkte eine Rolle spielen, nämlich der Schutz der Bevölkerung vor unredlichen Heil- praktiken, ist das sogenannte „Kur- pfuschereigesetz" immer in der Diskussion geblieben.

5. Niederlassungsfreiheit in ganz Deutschland.

Aufsätze • Notizen Medizinalreform

Barrikadenkämpfe in Berlin, 18./19. März 1848, in zeitgenössischer Darstellung.

(Aus der Illustrierten Zeitung, abgedruckt in „Europa, sein Wesen im Bild der Geschichte." Herausgeber Fr. Heer und andere, Alfred Scherz Verlag, Bern, Stuttgart, Wien 1960)

6. Lern- und Lehrfreiheit an den Universitäten.

7. Staatliche Alters- und Hinterblie- benenrenten für Ärzte und ihre An- gehörigen.

Die wissenschaftlichen und sozialen Tendenzen der Medizinalreform

Vor allem die mehr konservativen Ärzte der älteren Generation be- gnügten sich mit diesen Forderun- gen. Andere sahen jedoch nicht nur die Rechte der Ärzte, sondern auch ihre Aufgaben in einem neu- en demokratischen Staat.

Ich zitiere Virchow: „Das eine Wort ,Öffentliche Gesundheitspflege' sagt ..., die ganze radicale Verän- derung in unseren Anschauungen von dem Verhältnis zwischen Staat und Medicin; diess eine Wort zeigt denjenigen, welche da gemeint ha- ben und noch meinen, die Medicin habe mit der Politik nichts zu thun, die Grösse ihres Irrthums" (15, S.

14). Denn der demokratische Staat stelle die sittliche Einheit aller gleichberechtigten einzelnen dar.

Er habe das Wohlsein aller zum Ziel und habe daher die Aufgabe,

jedem das Recht auf eine gesund- heitsgemäße Existenz zu garantie- ren.

Aus diesem Standpunkt erwachsen vor allem drei Forderungen:

1. die Verwaltung des Medizinal- wesens soll von dem Ministerium für geistliche und Unterrichtsange- legenheiten getrennt werden 2. das bisher übliche Philosophi- cum soll durch ein Physicum er- setzt werden

3. das Armenarztwesen soll neu geregelt werden.

Der Zusammenhang der beiden erstgenannten Forderungen mit der Gesundheitspflege mag zunächst etwas unklar erscheinen. Doch die- se Forderungen erwachsen aus ei- nem neuen Selbstverständnis der Medizin, und das hat, wie wir se- hen werden, eine Menge mit den Fragen des öffentlichen Gesund- heitswesens zu schaffen. Vor allem

im Streit gegen das Ministerium für Kultus-, Unterrichts- und Medizi- nalangelegenheiten wird dies deut- lich.

Der Polizeistaat — so sagt Virchow (15, S. 7) — habe sich mit dem

„christlich-germanischen Princip"

bemäntelt. Das heißt, mit der Beru- fung auf das historische Recht und auf das christliche Dogma (das heißt, das war schon immer so, und das ist gottgewollt).

Die Konsequenzen dieses Prinzips verdeutlichen die folgenden Sätze eines hohen Medizinalbeamten:

„Die Combination des Medicinal- Ministeriums mit den Ministerien des Cultus (= der geistlichen An- gelegenheiten) und des öffentli- chen Unterrichts ... (bedeutet) eine doppelte Garantie: 1. dass das Licht des Christenthums in der medizinischen Wissenschaft nie- mals einen rohen Empirismus und todten Materialismus aufkommen lassen und 2. dass die Wärme des Christenthums den armen kranken

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Landman in seiner einsamen Hütte nicht erfrieren lassen wird" (15, S. 7).

Der tote Materialismus — das ist die naturwissenschaftliche Rich- tung in der Medizin. Eine Richtung, die sich gerade in diesen Jahren durchzusetzen begann und die in allen deutschen Staaten nur wenig offizielle Unterstützung fand. Denn offiziell war die Wissenschaft seit der Romantik und mit Hegel ideali- stisch geblieben. Sollten die geist- losen Franzosen sich einem leeren Materialismus hingeben. In Deutschland herrschte — so eine beliebte Lesart — „höhere, ächt deutsche, philosophische Spekula- tion".

In der Medizin versuchte man aus allgemeinen philosophischen Sät- zen die Physiologie und Pathologie des Menschen zu konstruieren. Da sich in einem solchen Fall der An- satz nicht überprüfen läßt, mußte diese Medizin grundsätzlich dog- matisch sein. Und weil man solche spekulativen Lehren nicht durch Erfahrung widerlegen kann, be- standen in der Medizin zahllose verschiedene Sekten nebeneinan- der, deren Rechtfertigung letztlich nur im Glauben an die Autorität ih- res jeweiligen Begründers zu su- chen war.

Mit dem Auftreten des Materialis- mus und des Linkshegelianismus in Deutschland — etwa um 1840 — gerät einmal die Hegelsche Recht- fertigung der absoluten Staatsge- walt ins Wanken, und zum anderen gerät auch der philosophische An- satz der Medizin in Mißkredit. Wie im Staat alle Macht kontrollierbar sein soll, so soll auch in der Wis- senschaft alles überprüfbar sein.

Demokratie im Staat und Naturwis- senschaft in der Medizin sind iden- tisch.

Virchow schreibt an seinen Vater, als Naturforscher könne er nur Demokrat sein (17). Die März- revolution charakterisiert er so: Sie sei „der große Kampf der Kritik ge- gen die Autorität, der Naturwissen- schaft gegen das Dogma, des ewi-

gen Rechts gegen die Satzungen menschlicher Willkür (15, Sei- te 9)".

In diesem Zusammenhang versteht es sich von selbst, daß die junge demokratische Richtung, die bis dahin obligatorische philosophi- sche Vorbildung der Mediziner durch eine naturwissenschaftliche ersetzen will. (Also Physikum statt Philosophikum).

Die Naturwissenschaftlichkeit in der Medizin läßt noch weitere Per- spektiven zu: Wird nämlich der Arzt zum Naturwissenschaftler, der allgemein anerkannte Gesetze an- wendet, dann wird die ärztliche Ar- beit vergleichbar und überprüfbar.

Durch allgemeine Verbreitung der naturwissenschaftlichen Bildung wird auch der Patient urteilsfähig und mündig. Er ist dann nicht mehr darauf angewiesen, blindlings an die ärztliche Autorität zu glauben.

Gesetze gegen Kurpfuscherei wer- den ebenfalls überflüssig (6, S. 113;

15, S. 55). Überflüssig wird auch — da die Naturwissenschaftlichkeit mit der Kontrolle durch die Patien- ten eine absolute Gleichheit der ärztlichen Arbeit entstehen läßt — die freie Arztwahl (6, S. 102).

Besonnenere Ärzte ahnten aller- dings, daß es bis zu einer wirklich naturwissenschaftlichen Medizin noch ein weiter Weg sein würde.

Tatsächlich bestand damals das Rüstzeug des Praktikers noch im- mer in einem guten Einfühlungs- vermögen und noch blieb ihm we- nig anderes übrig, als bei jedem Einzelfall aufs neue, oft auf vage Vermutungen hin, über Diagnose und Therapie zu entscheiden.

Deshalb verteidigt Virchow die ab- solut freie Arztwahl mit den Wor- ten: „Der Arzt ist wesentlich ein Vertrauensmann. Von dem Augen- blick, wo er diesen Charakter ver- liert hört seine Bedeutung auf."

Aber für Virchow und andere ist dies nichts Absolutes, sondern eine zeitgebundene Erscheinung.

Denn, so sagt er weiter: „Wäre die practische Medicin ... eine exacte Wissenschaft, ja wäre sie über-

haupt erst eine Wissenschaft, so würde sich diess Verhältnis sehr bald ändern (15, S. 41)".

So wandte man sich also gegen das Kultusministerium, weil es ver- sucht hatte, auf die Medizin eine geistliche Zensur auszuüben. Mehr aber noch aus einem anderen Grund. Mit dem Euphemismus von der „Wärme des Christentums", die den armen kranken Landmann nicht erfrieren lassen wird, wurde die Armenkrankenpflege aus den Obliegenheiten des Staates in den Bereich christlicher Wohltätigkeit verwiesen.

Virchow schreibt verbittert: „Die Wärme des Christenthums hat nicht ausgereicht um zu verhin- dern, dass im Jahre des Heils 1847 im Kreise Pless 907 Menschen, das heißt 1,3 p. Ct. der Bevölkerung einfach erfroren und verhungert sind (15, S. 9)". In einem demokra- tischen Staat dürfen die Kranken und Armen nicht mehr auf wohltäti- ge Almosen angewiesen sein. Sie haben, wie die Reformatoren meinen, ein Recht auf gesunde Ar- beit.

Einen Rechtsanspruch auf den Schutz vor Elend und Not. Sie ha- ben ein Recht auf ärztliche Vorsor- ge und Behandlung. Die haben An- spruch auf Aufnahme in ein Kran- kenhaus. Noch aber liegt die durchschnittliche Lebenserwartung der höheren Klassen bei 45 Jahren, die der Arbeiter dagegen bei 15 Jahren (15, S. 21).

„Staatsdogma und gesetzlicher Bo- den — christlich-germanisches Princip!" heißt es , in der Medizini- schen Reform, „Ist es so schwer einzusehen, ... dass die jetzige Wissenschaft das Dogma bekämpft und nicht das historische, sondern nur das natürliche Recht aner- kennt? Ist es so unklar, dass unse- re Bewegung eine sociale ist, und dass man nicht Anleitungen zu schreiben hat, um die Inhaber von Melonen und Lachsen ..., den wohlhäbigen Bourgeois zu beruhi- gen, sondern dass man Anstalten treffen muss, um den Armen, der

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Aufsätze Notizen Medizinalreform

kein weiches Brod, kein gutes Fleisch, kein Bett hat, der bei sei- ner Arbeit nicht mit . . . Camillen- thee bestehen kann, . . . der am meisten von der Seuche getroffen wird, durch Verbesserung seiner Lage vor derselben zu schützen (15, S. 25)".

Die Interessen des öffentlichen Ge- sundheitswesens und des ärztli- chen Standes verknüpfen sich schließlich in der Armenarztfrage.

Nur wenige wollen die bisherigen Armenverhältnisse beibehalten.

Wie aber sollen die zahlungsunfä- higen Kranken unter Beibehaltung der freien Arztwahl von den frei niedergelassenen Ärzten mitver- sorgt werden? Denn gerade jetzt, wo — wie ein Autor sagt — „alle jugendlichen Köpfe für Freiheit schwindeln" (8, Sp. 585), will man nicht auf die Freiberuflichkeit der Ärzte verzichten.

Das Modell Virchows kommt der späteren Entwicklung am näch- sten: Alle Ärzte, die zur Armenbe- handlung bereit sind, bilden eine Armenärztliche Assoziation. Die Gemeinden erheben eine Steuer, die für die Bezahlung der ärztlichen Aufwendungen verwandt wird. Die Ärzte rechnen ihre einzelnen Lei- stungen mit der Gemeinde ab.

Dieser Entwurf hat Ähnlichkeit mit dem späteren Krankenkassenwe- sen. Er beinhaltet Niederlassungs- freiheit und weitgehend freie Arzt- wahl. Er hat, wie dieses auch einen Schönheitsfehler: Friedrich Hof- mann, Landarzt in Burgsteinfurt, weist mit folgenden Worten darauf hin: „Welche Ungerechtigkeit ge- gen die Bevölkerung des Staates, denen die Natur oder ungünstige Verhältnisse die anziehende Kraft für Aerzte versagt hat! Ganze Län- derstriche sind der ärztlichen Hülfe gänzlich entblösst, weil es den Aerzten eben dort nicht gefällt. Der Staat hat . . . offenbar die Verpflich- tung, auch jene Gegenden mit Aerzten zu versehen. ... Bei den geäusserten Wünschen wegen frei- er Concurrenz haben die Aerzte immer nur sich selbst im Auge,

gleich als ob die Kranken nur ihret- wegen da wären (8, Sp. 594)."

Die ärztliche Unterversorgung auf dem Lande und in sozial benach- teiligten Gebieten — bis heute ein ungelöstes Problem — führt Hof- mann dazu, eine staatliche Rege- lung zu fordern, denn so meint er,

„der Liberalismus kann wohl kaum irgendwo unrichtiger angebracht sein, als durch Gestattung der un- bedingt freien Concurrenz der Aerzte (8, Sp. 593)".

Das Ende der ersten Medizinalreformbewegung

Die Diskussion über die Neurege- lung des Medizinalwesens konnte zu keinem Abschluß kommen.

Bereits im Herbst 1848 begann in Deutschland die Rückkehr der al- ten Mächte:

Am 31. Oktober wurde Wien von den kaiserlichen Truppen zurück- erobert. Im Dezember wurde in Preußen die Nationalversammlung aufgelöst und eine Verfassung von Königs Gnaden oktroyiert. In der medizinischen Reform heißt es bereits im Oktober: „Die deutsche Einheit ist ein Spott der Kinder und der Fremden geworden; der Demo- kratie ... ist erst die Verdächti- gung, dann der offenen Hass, end- lich die rohe Gewalt gegenüberge- treten; die sociale Frage ist in der politischen untergegangen (15, S.

31)".

Im März 1848 beschließt die Frank- furter Nationalversammlung eine konstitutionelle Reichsverfassung und bietet Friedrich Wilhelm IV. die Krone an. Der König lehnt die

„Krone von Bäckers und Metzgers Gnaden" ab. Die Nationalversamm- lung ist ratlos. Die meisten Deli- gierten gehen nach Hause. Die Ab- geordneten der Linken versuchen in Stuttgart ein Rumpfparlament zu bilden und werden vom Militär aus- einandergetrieben.

sen, Baden und in der Pfalz. Im Juli 1849 besiegen die Preußen die auf- ständischen Truppen in Baden. Da- mit ist die revolutionäre Bewegung endgültig beendet. Es folgen eine weitgehende Wiederherstellung der alten Verhältnisse, Presseverbot, eine Flut von Hochverratsprozes- sen. Heinrich Heine bringt in einem Gedicht die tiefe Entmutigung die- ser Zeit zum Ausdruck:

„Gelegt hat sich der starke Wind Und wieder stille wird's daheime;

Germania, das große Kind, Erfreut sich wieder seiner

Weihnachtsbäume.

Wir treiben jetzt Familienglück. — Was höher lockt, das ist vom Übel Die Friedensschwalbe kehrt zurück, Die einst genistet an des

Hauses Giebel.

Gemütlich ruhen Wald und Fluß, Von sanftem Mondlicht übergos- sen;

Nur manchmal knallt's — ist es ein Schuß? — Es ist vielleicht ein Freund

den man erschossen (7, S. 393)".

Ende Juni 1849 stellte auch die

„Medicinische Reform" ihr Er- scheinen ein. Resigniert heißt es im letzten Artikel: „Wir hatten an die Macht der Vernunft gegenüber der rohen Gewalt, der Cultur ge- genüber den Kanonen zu viel ge- glaubt, wir haben unsere Irrthümer eingesehen ... Die Medicinische Reform, die wir gemeint haben, war eine Reform der Wissenschaft und der Gesellschaft. ... Jeder Augen- blick wird uns beschäftigt finden, für sie zu arbeiten, bereit, für sie zu kämpfen. Wir wechseln nicht die Sache sondern den Raum. Es wäre nicht bloss nutzlos sondern auch thöricht, junge Saat auf Felsgrund zu streuen oder im Winter unter die Erde zu bringen. Jegliches Ding hat seine Zeit und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stun- de (15, S. 77/8)".

Noch einmal kommt es zu Volkser- So endet diese umfassende ärztli- hebungen im Rheinland, in Sach- che Standesbewegung. Denn auch

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im medizinischen Bereich macht sich nach 1849 der Geist der Reak- tion bemerkbar. Das soziale und politische Engagement verschwand aus der Standespresse.

Etwa 20 Jahre später, als die Grün- dung des norddeutschen Bundes und dann des zweiten deutschen Kaiserreiches auch eine Verein- heitlichung der Medizinalverhält- nisse nötig machten, gab es zwar erneut eine ärztliche Standesbewe- gung. Aber nun ging es überwie- gend um die engeren Interessen des Berufs. So um die Erweiterung der gewerblichen Freiheiten, um das Liquidationsrecht, um die Ver- einheitlichung der Studienordnung und um die Gründung eines Zen- tralverbandes zur Wahrung der Standesinteressen. Die Verbesse- rung der Hygiene und die Organi- sation der Volksgesundheitspflege wurden zwar ebenfalls diskutiert.

Aber eine grundsätzliche Auseinan- dersetzung mit den sozialen Pro- blemen fand offenbar nicht mehr statt. (14)

Die Medizin hat inzwischen, wie die Reformer es wollten, eine weit- gehend naturwissenschaftliche Ba- sis gewonnen. Auch die Stellung des Arztes im Staat ist auf eine Weise gefestigt, wie es damals die meisten wünschten. Allein die Auf- gaben des Arztes in einem demo- kratischen und sozialen Staat sind bis auf den heutigen Tag Gegen- stand vieler Diskussionen geblie- ben.

Literatur beim Sonderdruck

Anschrift der Verfasserin:

Dr. med. Johanna Bleker Institut für Theorie

und Geschichte der Medizin der Universität Münster Waldeyerstraße 27 4400 Münster

Kassenärztliche Bundesvereinigung

Lehrgang zur Einführung in die

kassenärztliche Tätigkeit

Niedersachsen,22.Januar1977

Die Kassenärztliche Vereinigung Nie- dersachsen, Bezirksstelle Göttingen, veranstaltet am Sonnabend, den 22. Ja- nuar 1977, einen Einführungslehrgang gemäß § 17 der Zulassungsordnung.

Ort: Parkhotel Ropeter, Kasseler Land- straße 45, Göttingen-Grone. Beginn:

9.15 Uhr - Ende: etwa 17.00 Uhr. Inter- essenten werden gebeten, der KVN-Be- zirksstelle Göttingen, Elbinger Straße 2, Postfach 425, 3400 Göttingen, Telefon (05 51) 510 85, ihre Teilnahme unter Angabe von Namen, Vornamen, Ge- burtsdatum und Anschrift rechtzeitig mitzuteilen, da wegen Raumbeschrän- kung nur eine begrenzte Teilnehmer- zahl möglich ist. Die Teilnehmergebühr von 20 DM bitten wir bei Anmeldung auf das Konto Nr. 2/30 003 (BLZ 260 700 72) der KV Niedersachsen, Be- zirksstelle Göttingen, bei der Deut- schen Bank Göttingen oder auf das Postscheckkonto Nr. 59 96-3 01 beim PschA Hannover zu überweisen.

Kassenarztsitze

Niedersachsen

Von der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen werden folgende Kas- senarztsitze als vordringlich zu beset- zen ausgeschrieben:

Braunschweig, Facharzt für Dermatolo- gie und Venerologie. ln der Großstadt Braunschweig (ca. 275 000 Einwohner) mit großem Einzugsgebiet ist die Nie- derlassung eines Facharztes für Derma- tologie und Venerologie dringend erfor- derlich geworden. Geregelter Nacht- und Wochenenddienst Gegenseitige Urlaubsvertretung mit Kollegen mög- lich.

Salzgitter, Facharzt für Augenheilkun- de. Im Stadtgebiet Salzgitter (rd.

120 000 Einwohner) ist die Niederlas- sung eines weiteren Facharztes für Au- genheilkunde - möglichst im Stadtteil

Salzgitter-Lebenstadt (52 000 Einwoh- ner) - dringend erforderlich gewor- den. Belegärztliche Tätigkeit und ge- genseitige Vertretung mit den im Salz- gitter-Bereich tätigen Augenärzten ist möglich. Außerdem besteht ein gere- gelter Sonntagsdienst

Braunlage, Arzt für Allgemeinmedizin bzw. praktischer Arzt. ln dem Kurort Braunlage im Oberharz (7300 Einwoh- ner) ist wegen bevorstehender Praxis- aufgabe aus Altersgründen die Stelle eines Arztes für Allgemeinmedizin bzw.

praktischen Arztes wieder zu besetzen. Wohn- und Praxisräume stehen zur Miete zur Verfügung. Gegenseitige Wo- chenend- und Urlaubsvertretung mit den Nachbarkollegen.

.... Einem der zugelassenen Bewerber wird gemäß § 5 I der Richtlinien der Kassenärztlichen Vereinigung Nieder- sachsen für Maßnahmen zur Sicherstel- lung der kassenärztlichen Versorgung eine Umsatzgarantie in Höhe von 30 000 DM vierteljährlich gewährt wer- den.

Nähere Auskunft erteilt die Kassenärzt- liche Vereinigung Niedersachsen, Be- zirksstelle Braunschweig, An der Petri- kirche 1, Postfach 30 40, 3300 Braun- schweig, Tel. 05 31/4 40 36.

D

Langwedel, Kreis Verden, praktischer Arzt bzw. Arzt für Allgemeinmedizin. ln Langwedel praktizieren zur Zeit zwei Ärzte für Allgemeinmedizin, von denen einer aus Altersgründen seine Praxis reduziert hat und aufgeben will. Der Flecken Langwedel mit 2000 E·inwoh- nern und einem zusätzlichen Einzugsge- biet von 4000 Einwohnern liegt zwi- schen den Städten Verden und Achim und an der Bundesbahnstrecke Hanno- ver - Nienburg - Verden - Bremen. Der Ort verfügt über eine Grund- und Hauptschule. Eine Realschule, Gymna- sien und Fachschulen sind in der ca. 8 km entfernt liegenden Kreisstadt Ver- den vorhanden. Bei der Beschaffung von Wohn- und Praxisräumen hat die Gemeinde ihre Unterstützung zugesagt.

.... Einem der zugelassenen Bewerber wird gemäß § 5 I der Richtlinien der Kassenärztlichen Vereinigung Nieder- sachsen für Maßnahmen zur Sicherstel- lung der kassenärztlichen Versorgung eine Umsatzgarantie in Höhe von 30 000 DM vierteljährlich für die Dauer eines Jahres gewährt. Außerdem kann für die Finanzierung der Einrichtung

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