• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Behandlung der Migräneattacke und Migräneprophylaxe: Unkenntnis oder Polemik?" (17.04.1998)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Behandlung der Migräneattacke und Migräneprophylaxe: Unkenntnis oder Polemik?" (17.04.1998)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Nicht nur Ärzte, sondern auch alle Migränepatienten interessieren sich natürlich brennend für die „Triptane“.

Leider verweisen die Autoren gerade hier auf fehlende Erfahrungen, über die man vielleicht demnächst noch ein- mal etwas erfahren kann. Mit Aspirin oder Paracetamol habe ich in 30 Jahren noch keinen echten Migräneanfall hei- len können, vielleicht einmal einen Spannungskopfschmerz. Erstaunlich ist das Fehlen des Hinweises auf Diaze- pam; eine wenn auch altbekannte Sub- stanz, mit der man jedoch in Dosierun- gen von 5 bis 10 mg i.v. (oder ganz sel- ten mehr) – sehr zweckmäßig mischbar mit 5 ml Metamizol – auch schwere Mi- gräneanfälle beseitigen kann.

Dr. Fritz Erdmann Internist

Steinstraße 2

51429 Bergisch Gladbach

In dem Artikel wird die „wirk- same Verhaltenstherapie“ folgender- maßen beschrieben: „Intrapsychische Streß- oder Belastungsempfindungen, wie überzogene Einstellungs- und Ver- haltensmuster, sollten identifiziert und bearbeitet werden“. Stört man sich nicht an dem wenig exakten und etwas wertenden „überzogen“, so beschrei- ben Diener et al. damit ein genuin psy- choanalytisches Vorgehen. Um so er- staunlicher ist dann der letzte Satz, in dem sich unter unwirksamen Therapi- en nach Fußreflexmassagen und Ent- fernung von Amalgamfüllungen auch die „klassische Psychoanalyse“ findet.

Es ist erfreulich, daß von seiten der modernen Verhaltenstherapie psy- choanalytische Konzepte übernom- men werden, so wie viele Psychoanaly- tiker verhaltenstherapeutische Ele- mente in ihre Behandlungen integrie-

ren. Dann sollte aber auch auf dem Stand vergleichender Forschung in der Psychotherapie argumentiert werden.

Bei der pauschalen Aussage von der Unwirksamkeit „klassischer Psycho- analyse“ – auf die wesentlich häufige- ren Anwendungen der Psychoanalyse gehen Diener et al. erstaunlicherweise gar nicht ein – vermißt der Leser die Kriterien, nach denen die Autoren Stu-

dien zur Wirksamkeit von Psychothera- pie ausgewählt haben.

Eine „klassische Psychoanalyse“

suchen Patienten selten wegen einer Migräne auf; wenn eine solche Sympto- matik besteht, bildet sie sich oft im Ver- lauf einer Psychoanalyse zurück. Häu- figer und in der Praxis erfolgreich bei der Behandlung von Patienten mit Mi- gräne sind die Anwendungen der Psy- choanalyse, wie sie von den Kranken- kassen bezahlt werden: Analytische Psychotherapie mit zwei bis drei Wo- chenstunden, analytische Gruppenthe- rapien (insbesondere die psychoanaly- tisch-interaktionelle) und tiefenpsy- chologisch fundierte Behandlungen (1). Zu diesen Therapieverfahren lie- gen methodisch anspruchsvolle Studi- en vor (2). Gerade auch die Belastung durch körperliche Symptome wird durch psychoanalytische Psychothera- pie in erheblichem Maße reduziert.

Kürzere Therapien erreichen in diesem Bereich dagegen wesentlich geringere Verbesserungen (3). Daß diese Unter- suchungen meist nicht störungsspezi- fisch vorgehen, sondern Veränderun- gen bei Patienten mit unterschiedli- chen Symptomen in verschiedenen Be- reichen erfassen, ist Ausdruck der Ziel- setzung, Einstellungs- und Verhaltens- muster zu bearbeiten – wie es die Auto-

ren für eine wirksame Behandlung der Migräne beschreiben.

Für Patienten ist es unglücklich, wenn schulspezifische Rivalitäten einer häufig wirksamen Behandlung bei nie- dergelassenen Psychotherapeuten und Psychoanalytikern entgegenwirken.

Literatur

1. König K: Einführung in die psychoanalyti- sche Krankheitslehre. Göttingen: Vanden- hoeck und Ruprecht, 1997.

2. Leichsenring F: Zur Meta-Analyse von Grawe und Mitarbeitern. Gruppenpsycho- ther Gruppendyn 1996; 32: 205–234.

3. Manz R, Henningsen C, Rudolf G: Metho- dische und statistische Aspekte der Thera- pieevaluation. Psychother Psychosom med Psychol 1995; 45: 52–59.

Dr. med. Hermann Staats Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Göttingen Von-Siebold-Straße 5 37075 Göttingen

Zur Erklärung der Pathophysiolo- gie des Kopfschmerzes ist der psycho- therapeutische Mediziner zwar nicht kompetent; jedoch im PET nachge- wiesene Durchblutungserhöhungen in Hirnstamm und Mittelhirn während der Migräneattacke erscheinen mir kei- neswegs eindeutig als primäre Ursache der Migräne, sondern sind ebenso als Epiphänomen oder auch als pathophy- siologische Stufe in der Entstehung des Syndroms zu deuten. Es wird in dem Artikel völlig außer acht gelassen, daß seelische Faktoren für die Migränege- nese zumindest seitens der psychoso- matischen Medizin als wesentlich be- trachtet werden. Es gibt durchaus auch Denkmodelle, seelische Konflikte und deren Abwehrmechanismen mit dem körperlichen Substrat bei der Entste- hung der Migräne-Attacke in einen nachvollziehbaren Zusammenhang zu bringen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit spielt hierbei der Zervikalbereich mit seinen sympathischen Ganglien eine wesentliche Zwischen-Rolle (als „car- A-964

M E D I Z I N

(52) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 16, 17. April 1998

DISKUSSION

Behandlung der Migräneattacke und Migräneprophylaxe

Diazepam und Metamizol erfolgreich

Zu dem Beitrag von

Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Prof. Dr. med. Kay Brune,

Prof. Dr. phil. Wolf-Dieter Gerber, Priv.-Doz. Dr. med. Hartmut Göbel und Dr. med. Volker Pfaffenrat in Heft 46/1997

Unkenntnis oder Polemik?

Psychotherapie wirksam

(2)

refour psychosomatique“ nach Guil- lain; entsprechend auch der zervikoge- nen Auslösung von Migräne nach zer- vikalem Bewegungstrauma oder als Migraine cervicale Bärtschi-Rochaix).

Entsprechende Behandlungen sind durchaus erfolgreich, beispielsweise mit Neuraltherapie oder Sympathikus- Blockade (1).

Die apodiktische Aussage, daß die

„klassische Psychoanalyse“ (was das auch immer sei) unwirksam sein soll, ist nicht haltbar. Eine analytisch orientier- te Psychotherapie ist bei Migräne- Patienten durchaus wirksam, was wir mit zahlreichen erfolgreichen Behand- lungen nachweisen können. Daß hier ein wissenschaftlicher Nachweis thera- peutischer Effizienz nicht wie bei medi- kamentösen Behandlungen in Doppel- blind- und plazebokontrollierten Stu- dien erfolgen kann, liegt auf der Hand.

Daß auch für „Nur-Neurologen“ seeli- sche Faktoren bei der Migräneent- stehung vorstellbar sind, geht aus den Vorschlägen der „nicht-medika- mentösen Therapie“ hervor, wo die Autoren „intrapsychische Streß- oder Belastungsempfindungen“ zur „Bear- beitung“ empfehlen. Hiervon schließen sie jedoch implizit tiefenpsychologisch orientierte Therapeuten aus und sehen hierfür nur „ärztliche und psychologi- sche Verhaltenstherapeuten“ als geeig- net an.

Literatur

1. Ullrich J: Zur Anwendung der Stellatum- Blockade unter EEG-Kontrolle bei cervi- cogener Migraine accompagnée. J Neurol 1975; 209: 3021–306.

Dr. J. Ullrich Neurologisch-

Psychosomatische Klinik St.-Marien-Hospital

Nikolausstraße 14–16 · 53129 Bonn

„Die Unterstellung, die Migräne sei . . . psychosomatischer Natur, führt zwangsläufig zu unwirksamen und bis- weilen sogar schädlichen Therapiever- suchen.“ Diese Feststellung in der – sieht man von der Art der Abhandlung psychosomatischer Zusammenhänge ab – insgesamt guten Übersichtsarbeit

zur medikamentösen Behandlung der Migräne ist wissenschaftlich so nicht haltbar. Es gibt einige prospektive Stu- dien, teilweise auch an repräsentativen Bevölkerungsstichproben durchge- führt, welche bio-psycho-soziale („psy- chosomatische“) Zusammenhänge in der Ätiopathogenese der Migräne be- legen (1, 5). Da auch die neueste dieser Studien trotz ihres Erscheinens in

„Neurology“ von Diener et al. un- berücksichtigt blieb, sei sie im folgen- den kurz zusammengefaßt: Bei einer nach Zufallsprinzip gezogenen Stich- probe von 1 200 Versicherten eines Distrikts im Mittleren Westen der USA, die zu diesem Zeitpunkt zwi- schen 21 und 30 Jahre alt waren, wurde jeweils mit Hilfe standardisierter Inter- views das Vorhandensein einer Migrä- ne sowie psychischer Störungen (mit Hilfe des DIS) und Neurotizismus (EPQ-R) untersucht. Von den 848 Teil- nehmern, welche bis zur Eingangserhe- bung ihr Leben lang noch nie unter Mi- gräne gelitten hatten, entwickelten ins- gesamt 71 (8,4 Prozent, Frauen 12 Pro- zent, Männer 3,2 Prozent) im Fünf-Jah- res-Beobachtungszeitraum eine Migrä- ne. Die Ergebnisse belegen, daß der Nachweis psychischer Erkrankungen (vor allem depressiver und Angst- störungen) im Zeitraum vor der Erster- fassung bei Frauen die Wahrscheinlich- keit, eine Migräne im Beobachtungs- zeitraum zu entwickeln, um etwa das Zweifache erhöht. Auch wenn man das Auftreten einer psychischen Erkran- kung „herausrechnet“, wurde ein signi- fikanter Zusammenhang (p < 0,001) zwischen vorausgehendem Neurotizis- mus und der späteren Entwicklung ei- ner Migräne bei den betroffenen 60 Frauen belegt; für die betroffenen 11 Männer war aufgrund der geringen Fallzahl ein solcher Zusammenhang statistisch nicht klärbar. Jene Frauen, deren Neurotizismus-Scores bei der Ersterhebung im obersten Viertel des Spektrums der Gesamtpopulation la- gen, hatten im Vergleich zu jenen mit Werten im untersten Quartil eine knapp dreifach höhere Wahrschein- lichkeit, im anschließenden Fünf-Jah- res-Beobachtungszeitraum eine Migrä- ne zu entwickeln. Ganz ähnliche Zu- sammenhänge wurden in der Züricher Kohorten-Studie (5) gefunden. Vor al- lem der Faktor Angst und ängstlich-de- pressive Grundpersönlichkeit stellen

insofern ätiopathogenetisch bedeutsa- me und zumindest für eine größere Subgruppe von Patienten mit Migräne gut belegte Kofaktoren dar.

Doch nicht nur hinsichtlich patho- genetischer Aspekte, sondern auch der Darstellung therapeutischer Ansätze kommen Diener et al. zu wissenschaft- lich nicht haltbaren Konsequenzen:

Schon 1990 zeigten Holroyd und Pen- zien bei einem metaanalytischen Ver- gleich der Wirkung von Propranolol (25 klinische Studien) und Entspan- nungsverfahren/Biofeedback (35 klini- sche Studien), daß in der Migränepro- phylaxe beziehungsweise -Intervallbe- handlung sowohl beim medikamentö- sen als auch beim nicht medikamentö- sen Vorgehen eine im Durchschnitt 43prozentige Reduktion der „Migrä- neaktivität“ beim einzelnen Patienten erreichbar ist und sich dieser Effekt signifikant von jenem der in die Meta- analyse einbezogenen Kontrollgrup- pen (20 Gruppen mit Plazebo, 17 unbe- handelt) unterschied. (Bei der Berech- nung der „Migräneaktivität“ wurden Frequenz, Dauer und Intensität in ei- nem Score zusammengefaßt.) Leider wurden von Diener et al. auch die Er- gebnisse dieser metaanalytischen Stu- die nicht berücksichtigt. Unberück- sichtigt blieb ebenfalls die metaanalyti- sche Untersuchung von Hermann et al.

(2), welche zu dem Ergebnis kommt, daß bei Kindern mit Migräne Biofeed- back und progressive Muskelrelaxati- on die wirksamste prophylaktische Be- handlung darstellen – auch wirksamer als eine medikamentöse Prophylaxe.

Vielleicht sollte in diesem Zusammen- hang nochmals darauf hingewiesen werden, daß Entspannungsverfahren nicht mit Verhaltenstherapie gleichzu- setzen, sondern Psychotherapieverfah- ren sui generis sind. Verhaltensthera- peuten integrieren oft Entspannungs- verfahren in ihre Schmerzbewälti- gungsprogramme – eine Integration von Entspannungsverfahren geschieht ebenfalls im Rahmen tiefenpsycholo- gischer Behandlungen, zumindest im stationären Bereich. Ob kombinierte Programme bei Migräne mehr bringen als Entspannungsverfahren allein, ist bisher umstritten und wissenschatlich noch nicht hinreichend geklärt. Her- mann et al. (2) kommen bei ihrer Me- taanalyse zumindest für Kinder mit Migräne zu dem Ergebnis, daß Bio-

A-965

M E D I Z I N

Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 16, 17. April 1998 (53) DISKUSSION

Migräne ist häufig

psychosomatisch bedingt

(3)

A-966

M E D I Z I N

(54) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 16, 17. April 1998 feedback und progressive Muskelrela-

xation alleine signifikant wirksamer scheinen als verhaltenstherapeutische Ansätze. In einer im gleichen Jahr er- schienenen kontrollierten Studie an Kindern zeigte Labbe (4), daß Autoge- nes Training bei Kindern mit Migräne eine gute Wirkung zeigt: 50 Prozent waren in der Sechs-Monatskatamnese symptomfrei, während dies bei der Kontrollgruppe in keinem Fall gege- ben war. Die Kombination von AT mit Hauttemperatur-Biofeedback erhöhte die Rate symptomfreier Kinder auf 80 Prozent. Insofern bedürfte die pau- schale Aussage von Diener et al. („Im Vordergrund sollte bei Kindern die Verhaltenstherapie stehen“) einer Dif- ferenzierung, zumal wenn später bei der Darstellung nicht medikamentö- ser Therapie darauf hingewiesen wird, daß Verhaltenstherapeuten im breiten Umfang gar nicht zur Verfügung ste- hen: Auch Nichtverhaltenstherapeu- ten, so auch die meist tiefenpsycholo- gisch orientierten Fachärzte für Psy- chotherapeutische Medizin oder ande- re Facharztgruppen mit der Bereichs- bezeichnung „Psychotherapie“, führen Entspannungsverfahren routinemäßig und qualifiziert durch! Und solche gibt es durchaus in einer Zahl, die eine brei- te Versorgung für Migräne-Patienten mit Entspannungsverfahren gewähr- leistet!

Die dargestellten wissenschaftli- chen Mängel und Fehlaussagen in einer Arbeit, die immerhin von renommier- ten Vertretern der Deutschen Kopf- schmerzgesellschaft verfaßt wurde, können auch als ein anschauliches Bei- spiel dafür gesehen werden, wie wichtig bei der Entwicklung von diagnosti- schen und therapeutischen Leitlinien neben einer fachübergreifenden Ko- operation vor allem die Berücksichti- gung der Kriterien einer Evidence ba- sed Medicine (EBM) bei der Aufarbei- tung von wissenschaftlicher Literatur ist, damit nicht „wissenschaftliche Bin- nenkriterien“ einer Expertengruppe zu einseitigen und eventuell voreinge- nommenen Vorgaben für Kollegen in Klinik und Praxis führen. Immerhin sind die von Diener et al. nicht berück- sichtigten Studien in wissenschaftlich renommierten Fachzeitschriften er- schienen.

Als Fazit müßte im Sinne einer auf wissenschaftlicher Evidenz basieren-

DISKUSSION

den Medizin die eingangs zitierte Fest- stellung von Diener et al. wie folgt mo- difiziert werden: Die Unterstellung, die Migräne sei nicht psychosomatischer Natur, führt zwangsläufig dazu, daß die Abklärung prädisponierender psychi- scher Faktoren und Störungen unter- bleibt und vielen Patienten nicht-phar- makologische Behandlungen (vor al- lem Entspannungsverfahren), die im Unterschied zu pharmakologischen keinerlei Nebenwirkungen haben und kostengünstiger sind, oft vorenthalten werden.

Literatur

1. Breslau N, Chilcoat HD, Andreski P: Fur- ther evidence on the link between migraine and neuroticism. Neurology 1996; 47:

663–667.

2. Hermann C, Kim M, Blanchard EB: Beha- vioral and prophylactic pharmacological in- tervention studies of pediatric migraine: an exploratory meta-analysis. Pain 1995; 60:

239–255.

3. Holroyd KA, Penzien DB: Pharmacolo- gical versus non-pharmakological prophy- laxis of recurrent migraine headache; a meta-analytic review of clinical trials. Pain 1990; 42: 1–13.

4. Labbe EE: Treatment of childhood mi- graine with autogenic training and skin tem- perature biofeedback; a component analy- sis. Headache 1995; 35: 10–13.

5. Merikangas KR, Angst J, Isler: Migraine and psychopathology. Results of the Zurich cohort study of young adults. Arch Gen Psychiatry 1990; 47: 849–853.

Prof. Dr. med. Ulrich T. Egle Vorsitzender des

Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM)

Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der

Johannes-Gutenberg-Universität Untere Zahlbacher Straße 8 55131 Mainz

Der Beitrag bietet eine klar geglie- derte nosologische Abgrenzung der Migräne gegenüber anderen akuten Kopfschmerzformen und räumt auch mit einigen ätiologischen und thera- peutischen Legenden auf. So wird der Vorstellung, die Migräne sei bedingt durch knöcherne Veränderungen der Halswirbelsäule, ebenso eine Absage erteilt wie der Annahme, eine Migrä- neattacke sei durch Chirotherapie oder Manualmedizin wirksam zu behandeln:

Von 161 Patienten mit Kopfschmerzen unterschiedlicher Genese, die im Laufe von vier Jahren am Institut für Manual- medizin und Entwicklungstherapie un- tersucht und behandelt wurden, wiesen 41 eine neurologisch nachgewiesene Migräne auf (mit und ohne Aura). Bei keinem dieser Patienten gelang es, eine akute Migräneattacke durch chirothe- rapeutische Manipulation und/oder an- dere manualmedizinische Techniken in Dauer und Intensität wirksam zu beeinflussen. Dies gilt für die akute Migräneattacke! Anders sieht es dagegen bei der Intervallbehandlung und Migräneprophylaxe aus: Hier konnte durch eine manualmedizinische Spezialmethode, die Atlastherapie (ARLEN), bei 27 der betreuten Migrä- nepatienten eine signifikante Minde- rung der Anfallshäufigkeit erreicht

werden. Knapp zwei Drittel der Patien- ten konnten im Beobachtungszeitraum auf eine medikamentöse Prophylaxe verzichten. Alle diese Patienten wiesen allerdings segmentale Dysfunktionen der oberen Halswirbelsäule auf, denen im Rahmen dieser multifaktoriellen Erkrankung offensichtlich eine Trig- gerfunktion zukommt. Hervorzuheben ist, daß die Atlastherapie mit der klassi- schen Chirotherapie nicht identisch ist und auch nicht deren behandlungstypi- schen Risiken aufweist, weswegen sie beim gleichen Patienten beliebig oft eingesetzt werden kann. Aufgrund die- ser Ergebnisse kann angenommen wer- den, daß diese Form der Manualmedi- zin imstande ist, bei geeigneten Patien- ten die Anfallshäufigkeit deutlich zu re- duzieren und eine Einsparung von Me- dikamenten zu bewirken.

Dr. med. Wilfrid Coenen Institut für Manualmedizin und Entwicklungstherapie

Pontarlierstraße 9 · 78048 Villingen

Bei der Auflistung des Autogenen Training (AT) als unwirksame Thera- pie bei der Migräne ist den Autoren ein Irrtum unterlaufen. Inzwischen gibt es

Atlastherapie einsetzen

Autogenes Training als

Migräneprophylaxe

(4)

A-967

M E D I Z I N

Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 16, 17. April 1998 (55) eine randomisierte kontrollierte Studie

von Labbe (1) zur Wirksamkeit des AT bei Kindern. Es wurde eine signifikante Verbesserung der Häufigkeit und Dau- er der Migräneanfälle gefunden, 50 Prozent der Kinder der AT-Gruppe wurden nach sechs Monaten symptom- frei, kein einziges der Kontrollgruppe.

Frühere Studien hatten teilweise er- hebliche methodische Mängel und be- legten zumeist eine deutliche Überle- genheit der Progressiven Muskelent- spannung nach Jacobson (PMR) im Vergleich zum AT bei der Migränepro- phylaxe. Keinesfalls läßt sich daraus zwangsläufig eine Unwirksamkeit des AT ableiten. Im akuten Migräneanfall ist AT nach aktuellem Kenntnisstand kontraindiziert. In der Migräneprophy- laxe zeigt die klinische Erfahrung, daß Patienten mit hoher Suggestibilität und gutem Vorstellungsvermögen hinsicht- lich der Streßbewältigung, Streßimmu- nisierung und Verbesserung der Selbst- kontrolle mehr vom AT als von der

PMR profitieren. Die holländische Ar- beitsgruppe um Terkuile konnte zei- gen, daß bei Studien zur Effektivität von Entspannungsverfahren bei Kopf- schmerzpatienten bestimmten Per- sönlichkeitsvariablen eine entscheiden- de Rolle für die Differentialindikation zukommt (2, 3). Die globale Feststel- lung einer Unwirksamkeit des AT ist somit heute nicht mehr haltbar.

Literatur

1. Labbe EE: Treatment of childhood migraine with autogenic training and skin temperature biofeedback: a component analysis. Head- ache 1995; 35: 10–13.

2. Terkuile MM et al.: Responders and non- responders to autogenic training and cognitive selfhypnosis: prediction of short- and long-term success in tension-type head- ache patients: Headache 1995; 35: 630–636.

3. Terkuile MM et al.: Cognitive coping and ap- praisal processes in the treatment of chronic headaches. Pain 1996; 64: 257–264.

Dr. med. Dipl.-Psych. Claus Derra Kitzberg-Klinik

Erlenbachweg 24 97980 Bad Mergentheim

DISKUSSION

Zur Pharmakotherapie

Die Autoren haben mit Absicht noch nicht zu den neuen „Triptanen Zolmitriptan, Naratriptan und Riza- triptan“ Stellung genommen, da so kur- ze Zeit nach der Zulassung der ersten beiden Substanzen keiner der Autoren über genügend eigene Erfahrung im Einsatz dieser Substanzen, außerhalb klinischer Studien, hat. Es gibt genü- gend prospektive, plazebokontrollierte Studien, die die Wirksamkeit von Ace- tylsalicylsäure und Paracetamol bei der Behandlung von Migräne-Attacken belegt haben. Diazepam ist tatsächlich eine wirksame Substanz, was sich auch tierexperimentell über die Wirkung auf GABAA-Rezeptoren erklären läßt.

Kontrollierte Studien liegen allerdings nicht vor. Ein Diazepam-haltiges Mi- gränemittel wurde vom Markt genom- men, da sich durch den Zusatz von Dia- zepam ein nicht unerhebliches Abhän- gigkeitsproblem ergab.

Zur Psychotherapie

Die von Dr. Staats angeführten wissenschaftlichen Arbeiten beziehen

sich nicht primär auf Migräne-Erkran- kungen und können nicht als Beleg für die Wirksamkeit der Psychoanalyse angesehen werden. Kontrollierte pro- spektive Studien, wie sie von der Ar- beitsgruppe von Hollroyd und Andra- sik sowie von Gerber zur psychothera- peutischen Behandlung der Migräne vorgelegt worden sind, beziehen sich ausschließlich auf verhaltensmedizini- sche und verhaltenstherapeutische Verfahren. Prospektive randomisierte Studien zur Psychoanalyse liegen bei der Behandlung der Migräne nicht vor.

Die Aussagen von Herrn Dr. Ull- rich basieren auf Beobachtungen an ei- genen Patienten. Dies ersetzt nicht das rigorose Vorgehen klinischer Studien.

Von den Psychoanalytikern wird häufig darauf hingewiesen, daß ein wissen- schaftlicher Nachweis therapeutischer Effizienz nicht wie bei medikamentö- sen Behandlungen in doppelblinden und plazebokontrollierten Studien er- folgen kann. Allerdings zeigen die zahl- reichen Arbeiten aus der Verhaltens- medizin, daß sehr wohl unter Einbezie- hung von kompetenten Analysen wissenschaftliche Untersuchungen zur Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren bei Migräne möglich sind.

Die Autoren bestreiten keineswegs,

daß auch seelische Faktoren in der Pa- thophysiologie der Migräne eine Rolle spielen, wobei diese aber eher als Aus- löser denn als eigentliche Krankheits- ursache angesehen werden müssen.

Herr Prof. Egle hat sich ausführlich mit unseren Therapie-Empfehlungen be- schäftigt. Die zitierte Publikation von Breslau et al. 1996 hat schwerwiegende methodische Mängel aufgrund eines Selektionsbias, fehlerhafter Repräsen- tativität, ungenügender Diagnose-Kri- terien und eines fehlenden Kontroll- gruppenvergleichs. Daher ist die postu- lierte Bewertung der Migränespezifität der von den Autoren untersuchten Per- sönlichkeitsvariablen unmöglich. Meri- kangas, eine amerikanische Wissen- schaftlerin, mit der zwei der Autoren der Therapie-Empfehlungen eng zu- sammenarbeiten, hat tatsächlich eine Assoziation zwischen Angsterkran- kungen, Depression und Migräne so- wie eine negative Korrelation mit Al- koholmißbrauch und Alkoholkrank- heit gefunden. Diese Beobachtungen beziehen sich allerdings auch auf die nicht an Migräne leidenden Angehöri- gen der Betroffenen, so daß sich hier sehr wahrscheinlich eher eine gemein- same genetische Disposition als ein kausaler Zusammenhang zwischen Angst und Migräne zeigt. Der Hinweis von Herrn Egle, daß auch nicht verhal- tenstherapeutisch orientierte Fachärz- te Entspannungsverfahren routi- nemäßig und qualifiziert durchführen, ist sicher richtig. Die Autoren wollten nicht den Eindruck erwecken, daß nur Entspannungstechniken bei der Be- handlung der Migräne wirksam sind.

Entspannungstechniken sind nur Bau- steine einer ganzheitlichen Therapie.

Die bisher vorliegenden Studien zum Autogenen Training haben keine Wirksamkeit bei erwachsenen Migrä- ne-Patienten ergeben (Brief Dr. Der- ra). Im Gegensatz dazu konnte tatsäch- lich bei Kindern mit Kopfschmerzen ei- ne Wirksamkeit des Autogenen Trai- nings und des Handerwärmungstrai- nings gezeigt werden. Das Handerwär- mungstraining ist ein unspezifisches Biofeedback-Verfahren.

Prof. Dr. med.

Hans-Christoph Diener Neurologische

Universitätsklinik Essen Hufelandstraße 55 · 45122 Essen

Schlußwort

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Der Regierungsrat wird beauftragt, sich im Rahmen der Vernehmlassung zur AP 2011 dafür einzusetzen, dass die strategischen Erfolgspotentiale der landwirtschaftlichen

(„Im Vordergrund sollte bei Kindern die Verhaltenstherapie stehen“) einer Dif- ferenzierung, zumal wenn später bei der Darstellung nicht medikamentö- ser Therapie darauf

(„Im Vordergrund sollte bei Kindern die Verhaltenstherapie stehen“) einer Dif- ferenzierung, zumal wenn später bei der Darstellung nicht medikamentö- ser Therapie darauf

Diese Beobachtungen beziehen sich allerdings auch auf die nicht an Migräne leidenden Angehöri- gen der Betroffenen, so daß sich hier sehr wahrscheinlich eher eine gemein-

*** = Therapieempfehlung stützt sich auf mehrere plazebokontrollierte Studien oder auf Meta-Analyse; ** = mindestens eine randomisierte, plazebokontrollierte Studie mit ausrei-

Die Intensität des Entzugs wurde in unserer Untersuchung wie auch in analogen Studien anhand der für diesen Zweck weit verbreiteten Short Opiate Withdrawal Scale nach Gos-

Daher ist eine Dosis von einmal täglich Clexane® 40 für Hochrisiko- patienten und Clexane® 20 für Patienten mit normalem Risiko als wirksam und si- cher. Enoxaparin kann auch

Das Verhalten der christ- lichen Kirchen bezüglich lediger Mütter in den ver- gangenen Jahrhunderten ist nicht zu entschuldigen, aber solche Verfehlungen sind doch auch kein