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Archiv "Gesundheitspolitische Leitsätze der Ärzteschaft (Ulmer Papier): Rationierung nicht länger vertuschen" (30.05.2008)

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 22⏐⏐30. Mai 2008 A1161

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ein Berufsstand kennt die me- dizinische Versorgungswirk- lichkeit besser als der ärztliche.

Deshalb darf es keinen verantwort- lich denkenden Politiker kaltlassen, wenn der Ärztetag konstatiert: „Die an sich notwendige medizinische Versorgung kann heute nicht mehr allen Patienten zur Verfügung ge- stellt werden. Rationierung findet statt.“ So steht es in den „Gesund- heitspolitischen Leitsätzen der Ärz- teschaft (Ulmer Papier)“, die die 250 Delegierten am 21. Mai mit großer Mehrheit verabschiedeten.

Dem vorausgegangen war eine neun- stündige, sehr intensiv geführte De- batte, in deren Folge der vom Vor- stand der Bundesärztekammer vor- gelegte Entwurf des Ulmer Papiers moderat verändert wurde.

„Die Rationierung medizinischer Leistungen muss ein Wahlkampf- thema werden, damit eine Diskussi-

on nicht nur hinter vorgehaltener Hand stattfindet“, forderte Prof. Dr.

med. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsi- dent der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages, zum Auf- takt der Plenarsitzungen in der Ulmer Donauhalle. „Ärztinnen und Ärzte müssen seit Jahren eine heim- liche Rationierung im Gesundheits- wesen ertragen und vor ihren Pati- enten dafür geradestehen.“ Die Poli- tik dürfe sich nicht aus der Verant- wortung stehlen und so tun, als gebe es diese Rationierung nicht. „Wir müssen offen über die Probleme im Gesundheitswesen sprechen, und wir müssen den Menschen zeigen, wer für die Rationierung tatsächlich verantwortlich ist“, betonte Hoppe – lang anhaltender Applaus.

Zu den wenigen Delegierten, die einer Unterfinanzierung des Sys- tems nicht das Wort reden wollten, gehörte Prof. Dr. med. Wulf Diet- rich (Bayern): „Wenn wir Ärzte im drittteuersten Gesundheitswesen der Welt nicht in der Lage sind, unsere Patienten adäquat zu behandeln, dann müssen wir uns auch einmal an die eigene Nase fassen“, forderte der Vorsitzende des Vereins demo- kratischer Ärztinnen und Ärzte mehr Selbstkritik: „Statt immer nur zu jammern, das Geld reicht nicht, wir müssen Mangelmedizin ma- chen, sollten wir besser auf Proble- me der Über- und Fehlversorgung eingehen.“ Im Ergebnis bereite das Ulmer Papier der Selbstzahlermedi- zin das Feld. Dietrich: „Denn jetzt

GESUNDHEITSPOLITISCHE LEITSÄTZE DER ÄRZTESCHAFT (ULMER PAPIER)

Rationierung nicht länger vertuschen

Nach intensiver Debatte beschließt der 111. Deutsche Ärztetag das Ulmer Papier.

Die vom Vorstand der Bundesärztekammer erarbeiteten gesundheitspolitischen Leitsätze der Ärzteschaft sollen der Beginn der innerärztlichen Diskussion sein.

TOP I Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik – Gesundheitspolitische Leitsätze der Ärzteschaft

Alle Fotos aus Ulm:Jürgen Gebhadt

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kann jeder unserer Kollegen zu sei- nen Patienten sagen: Kassenmedi- zin, das ist doch Mist. Wenn Sie richtige Medizin haben wollen, dann müssen Sie aus eigener Tasche drauf- zahlen.“

Streit gab es, als eine knappe Mehrheit der Delegierten zunächst einen Geschäftsordnungsantrag von Dr. med. Andreas Botzlar (Bayern) annahm, demzufolge alle Ände- rungsanträge zum Ulmer Papier aus praktischen Gründen – „das Plenum ist nicht der geeignete Ort, redaktio- nell tätig zu werden“ – an den Vor- stand der Bundesärztekammer über- wiesen werden sollten. Viele hatten den Antrag zunächst falsch verstan- den und gemeint, mit ihrer Zu- stimmung nur stilistische und keine inhaltlich wesentlichen Änderungs- wünsche weiterzuleiten. Nachdem klar war, dass „alle Änderungsvor- schläge ausnahmslos an den Vor- stand überwiesen werden sollten, damit wir zu einem geeigneten Zeit- punkt über eine neue Version Be- schluss fassen können“ (Botzlar), fühlten sich einige Delegierte über- rumpelt: „Es ist unsere ureigene Auf- gabe und unser Recht, Änderungs- anträge zu stellen und dann auch zu entscheiden. Wir sind doch keine Hampelmänner“, sagte Frank-Rüdi- ger Zimmeck (Hessen). Nachdem ei- ne zweite Lesung des Geschäftsord- nungsantrags beschlossen war, wur- de dieser klar abgelehnt.

Wie viel Finanzierung gehört ins Ulmer Papier?

Kontrovers diskutierte der Ärztetag auch die Frage, ob und wenn ja, wie detailliert sich das Ulmer Papier der Finanzierung des Gesundheits- wesens widmen sollte. „Wir haben Medizin studiert. Unsere Aufgabe ist es, Patienten zu versorgen und zu de- finieren, wie viel Geld für eine gute medizinische Versorgung notwendig ist“, meinte Dr. med. Ursula Stüwe, Präsidentin der Ärztekammer Hes- sen. Der Rest sei Sache der Politik.

Stüwe: „Wenn wir uns in diese Dis- kussion einbringen, kann uns die Po- litik später vorhalten: Ihr Ärzte habt das doch alles mit entschieden.“

Dies sah Dr. med. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Ärzte- kammer Hamburg, anders. Spätes-

tens 2011 platze der Gesundheits- fonds, prognostizierte er. Dann be- ginne aber auch die alte Debatte wieder von vorn: Bürgerversicherung kontra Prämienmodell. „Für diesen absehbaren Fall müssen wir ein ab- gestimmtes Konzept in der Tasche haben, in dem wir sagen, wie wir uns die langfristige Finanzierung der Krankenversicherung vorstellen“, meinte der Vizepräsident der Bundes- ärztekammer. Nur so könnten die In- teressen der Ärzte adäquat in die Entscheidungsfindung einfließen.

Stüwes Antrag, den Finanzie- rungsteil im Ulmer Papier ersatzlos zu streichen, lehnte der Ärztetag mit deutlicher Mehrheit ab. Aber auch Montgomerys Vorstoß, die Leitsätze um ein in sich geschlossenes Finan- zierungskonzept für die Kranken- versicherung zu ergänzen, scheiter- te: mit 80 zu 142 Stimmen. Montgo- mery schlägt eine Versicherungs- pflicht für alle Bürger vor. Die Krankenversicherungen sind pri- vatwirtschaftlich organisiert und ähneln den heutigen privaten Kran- kenversicherungen. Der Grundleis- tungskatalog ist für alle Versiche- rungen verbindlich. Der Bürger kann frei bestimmen, ob und in wel-

chem Umfang er Zusatzleistungen, Selbstbeteiligungen oder Franchi- sen wählt. Der Solidarausgleich er- folgt aus Steuermitteln.

Die verabschiedeten Gesund- heitspolitischen Leitsätze enthalten demgegenüber Prüfkriterien für gute Finanzierungskonzepte und Vorschläge für eine kurzfristige und systemimmanente Weiterentwick- lung der Finanzierung der gesetzli- chen Krankenversicherung. Zu Letzteren zählen eine Verbreiterung der Einnahmebasis, das Streichen versicherungsfremder Leistungen, eine sozialverträgliche Erweiterung der Eigenbeteiligungsformen, eine Steuerfinanzierung der Kinder- beiträge, der Erhalt der privaten Krankenversicherung und die Bil- dung von Alterungsrückstellungen auch in der gesetzlichen Kranken- versicherung. Außerdem soll die beitragsfreie Ehegattenversicherung nur noch Elternteilen zugutekom- men, die sich ausschließlich der Kindererziehung widmen.

Zentrales Thema des Ulmer Pa- piers ist die Individualität der Pati- ent-Arzt-Beziehung. Ärztliches Han- deln müsse stets an der Individua- lität des erkrankten Menschen aus- gerichtet sein, heißt es im Prolog, dessen erster Satz auf Antrag von Dr. med. Volker Pickerodt (Berlin) nun folgendermaßen lautet: „Im Be- wusstsein, dass das Gesundheits- wesen keine Gesundheitswirtschaft oder Industrie ist, dass Ärzte keine Kaufleute und Patienten keine Kun- den sind, dass Gesundheit und Krankheit keine Waren und Wettbe- werb und Marktwirtschaft keine Heilmittel zur Lösung der Probleme des Gesundheitswesens sind, dass Diagnose und Therapie nicht zum Geschäftsgegenstand werden dür- fen, beschließt der 111. Deutsche Ärztetag die gesundheitspolitischen Leitsätze der Ärzteschaft, das Ul- mer Papier.“ Geändert wurde auch der Schluss des jetzt 36 Seiten star- ken Schriftstücks. Nach dem Epilog wurde ein Zitat von Rudolf Virchow aus dem Jahr 1848 angefügt. Darin heißt es unter anderem: „Die armen Kranken zwang man, sich von ei- nem von oben her bestimmten Arzt behandeln zu lassen. … Die Ärzte zwang man, durch eine maßlose Gewohnt souverän

leitete Jörg-Dietrich Hoppe die Sitzungen in der Donauhalle.

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Konkurrenz eine Stellung anzuneh- men, welche ihnen den ihrer An- strengungen würdigen Lohn vorent- hielt. . . . Diese Verhältnisse mussten notwendig die Armen und die Ärzte erbittern; beide mussten allmählich mehr und mehr von der Überzeu- gung durchdrungen werden, dass sie Opfer falscher gesellschaftlicher Grundsätze waren.“

Als Opfer falscher gesellschaftli- cher Grundsätze sieht sich die Ärzte- schaft auch heute: In ihren Leitsät- zen kritisiert sie die „mechanistische Vorstellung des therapeutischen Ge- schehens“ in den Reformgesetzen der letzten Jahre. „Weil Gesundheit weder angeordnet noch hergestellt werden kann, da sie wesentlich vom Mitwirken des Patienten abhängig ist“, könne diese Begegnung nicht standardisiert erfolgen. Vielmehr sei die Therapiefreiheit von einer grund- sätzlichen, sehr hohen Bedeutung für Patienten und Ärzte. Der Arzt entscheide zusammen mit seinem Patienten, inwieweit er die Ergeb- nisse evidenzbasierter Leitlinien in seine Therapie einfließen lasse. „Ex- terne Eingriffe in die Therapiefrei- heit, wie etwa schematische Stan- dardisierungen, können sich nur de- struktiv auf die Vertrauensbeziehung von Patient und Arzt auswirken: Der Arzt fühlt sich seiner Freiheit be- raubt, der Patient zweifelt an der Un- abhängigkeit seines Arztes.“

Viele Ärztinnen und Ärzte haben diesem System inzwischen den Rücken gekehrt. Gegen den auch daraus resultierenden Ärztemangel helfe nur eine Verbesserung der Rah-

menbedingungen, lautet die Bot- schaft des Ulmer Papiers: „Nicht der Arztberuf ist unattraktiv, sondern die Rahmenbedingungen, unter denen er ausgeübt werden muss.“ So habe der ökonomische Druck in den Kliniken zu einer enormen Leistungsverdich- tung für die Ärzte geführt. Hinzu kä- men die unzureichende Vergütung und die im Vergleich zum Ausland krasse Unterbewertung der ärztli- chen Arbeit. Die Berufszufriedenheit sinke auch in der ambulanten Versor- gung in dem Maß, in dem die Büro- kratisierung zunehme. Die Patien- tenbehandlung werde zum Neben- schauplatz ärztlicher Tätigkeit.

Das Ärzteparlament forderte auch ein Sofortprogramm zur Stabi- lisierung der wirtschaftlichen Situa- tion der Krankenhäuser. Schon heu-

te gebe es erhebliche Finanzie- rungslücken im stationären Sektor.

Die stationäre Versorgung der Be- völkerung dürfe jedoch angesichts des steigenden Bedarfs nicht weiter gefährdet werden. Das Sofortpro- gramm müsse die Deckelung der Budgets beenden, eine realistische Refinanzierung der Aufgaben er- möglichen, eine sofortige Rücknah- me der Sanierungsabgabe an die Krankenkassen beinhalten und die Investitionskraft der Krankenhäuser stärken. Bundesgesundheitsministe- rin Ulla Schmidt hatte diesen Punkt zur Eröffnung des Ärztetages aufge- griffen und wenig konkret mehr Fi- nanzmittel für die Krankenhäuser in Aussicht gestellt.

Erst der Anfang der Diskussion

Wie sind die mit großer Mehrheit be- schlossenen gesundheitspolitischen Leitsätze der Ärzteschaft zu bewer- ten? „Das Ulmer Papier in seiner jet- zigen Version ist nicht das Ende, son- dern der Anfang einer Diskussion“, betonte Botzlar, zweiter Vorsitzender des Marburger Bundes. „Es ist der geringste gemeinsame Nenner, den wir finden konnten“, ergänzte Dr.

med. Wolf Neher (Bayern). Darüber sei aber intern noch intensiv zu dis- kutieren. „Es ist klar, dass das Ulmer Papier als Konsenspapier viele Kom- promisse enthält“, meinte auch Dr.

med. Karl-Heinz Pfetsch (Westfalen- Lippe). Dr. med. Cornelia Goes- mann, Vizepräsidentin der Bundes- ärztekammer, zeigte sich erleichtert:

„Wir haben uns nicht zerfleischt, sondern erst einmal auf eine Positio- nierung geeinigt. Der Öffentlichkeit können wir signalisieren: Wir stehen zu dem Arztbild, das dieses Papier repräsentiert.“ Hoppe wertete das klare Votum der Delegierten als wichtige Positionsbestimmung der Ärzteschaft in der gesundheitspoliti- schen Debatte: „Das Ulmer Papier ist eine gute argumentative Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Politik über die Neuausrichtung des Gesundheitswesens.“ Es sei aber kei- neswegs ein neues Programm der Ärzteschaft. Hoppe: „Das sogenann- te Blaue Papier der Ärzteschaft, zu- letzt aktualisiert 1994, gilt unverän-

dert weiter.“ I

Jens Flintrop Mehr Selbstkritik der Ärzteschaft forderte Wulf Dietrich:

Es sei genug Geld im System.

Scheiterte mit seinem Anliegen, das Ulmer Papier um ein in sich ge- schlossenes Finan- zierungsmodell zu ergänzen: Frank Ulrich Montgomery.

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