A1774 Deutsches ÄrzteblattJg. 105Heft 34–3525. August 2008
P O L I T I K
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elche Eigenschaften die per- fekte Rosine haben musste, wussten Krankenkassenmanager ge- nau: Jung, gesund und gut verdie- nend sollte der ideale Versicherte sein. Das war die Zielgruppe, die am meisten Geld einbrachte und am wenigsten kostete. Der Risikostruk- turausgleich (RSA), mit dessen Hil- fe Unterschiede in der Versicherten- struktur wie Alter, Geschlecht und Einkommen ausgeglichen werden sollten, dämmte diese Form der Ro- sinenpickerei nur unzureichend ein.Doch jetzt müssen die Kassen- manager umdenken, weil vom nächs- ten Jahr an ein neuer Finanzaus- gleich die Gelder der Versicherten zielgenauer umverteilen soll. So wird auch die Morbidität der Versi- cherten Einfluss auf die Höhe der RSA-Zuschläge für die Kassen ha- ben. Damit dürften vor allem Pati- enten von den Kassen umworben werden, deren Erkrankungen vom morbiditätsorientierten Risikostruk- turausgleich (Morbi-RSA) abge- deckt werden.
Kaum Anreize für Prävention
Das ist politisch gewollt und eine Voraussetzung für die vorgesehene morbiditätsorientierte Vergütung der Ärzte. Möglich sind aber auch un- erwünschte Nebenwirkungen. Statt, wie ursprünglich geplant, nur weni- ge Erkrankungen zu berücksichti- gen, umfasst der Krankheitsbegriff im neuen RSA mehrere Tausend ICD-10-Codes. Weil in der Zu- schlagsliste auch Volkskrankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck vermerkt sind, werden vom RSA nicht wie geplant 23 Prozent der 72 Millionen gesetzlich Versicherten berücksichtigt, sondern 40 Prozent.Der RSA-Experte, Prof. Dr. Gerd Glaeske, befürchtet nun, dass der
Morbi-RSA in seiner jetzigen Aus- gestaltung Präventionsprogramme verhindern könnte: „Der Anreiz für eine Kasse, mehr Patienten zu pro- duzieren, als sie eigentlich hat, ist vorhanden.“ Seiner Ansicht nach dürften die Kassen nach der Neure- gelung aus rein betriebswirtschaft- lichen Überlegungen heraus wenig Interesse daran haben, ihre Versi- cherten durch teure Präventionspro- gramme gesund zu erhalten.
Henke: Kassen nicht Betrug unterstellen
Tatsächlich treibt die Jagd nach möglichst kranken Versicherten schon jetzt bizarre Blüten. Wie das ARD-Magazin „Panorama“ berich- tete, durchforsten Kassenexperten die Daten ihrer Versicherten nach Anhaltspunkten für bestimmte Krankheitsbilder, die sie für die RSA-Zuweisungen geltend machen können. Rudolf Henke, Vorsitzen- der des Präventionsausschusses der Bundesärztekammer, glaubt jedoch nicht an eine Kassenstrategie, ge- sundheitlich gefährdete Mitglieder absichtlich krank werden zu lassen oder Gesunde absichtlich als krank einzustufen. „Dann müsste man den Kassen ja im strafrechtlichen Sinne Betrug unterstellen.“ Er sieht viel- mehr die Gefahr, dass der geplante Einheitsbeitrag und die Systematik des Gesundheitsfonds die Kassen dazu bringen, auf wichtige Leistun- gen, wie Präventionsprogramme, zu verzichten: „Die einzelnen Kassen werden alles daran setzen, mit ihren Zuweisungen aus dem Fonds zu- rechtzukommen, ohne Zusatzbeiträ- ge erheben zu müssen. Da könnten Präventionsprogramme das Nachse- hen haben.“
Erste Anzeichen hierfür macht Henke gegenwärtig bei den Ho-
norarverhandlungen von Ärzten und Kassen aus. Die Vergütung von ärzt- lichen Präventionsleistungen sei zwischen Ärzten und Krankenkas- sen umstritten. Auch Ärzteverbände schlagen Alarm. Die Kassen ver- suchten, die Honorare für Check- ups etwa zur Krebsvorsorge oder zur Erkennung von Entwicklungs- störungen bei Kindern um ein Drit- tel zu drücken, warnen der Berufs- verband Deutscher Internisten und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. Bislang sind die ärztli- chen Vergütungen für Prävention vornehmlich nicht Bestandteil der Honorarbudgets. Künftig sollen sie nach der normalen Gebührenord- nung abgerechnet werden.
Krankenkassenvorstände tappen im Dunkeln
Allerdings muss man den Kassen- vorständen zugestehen, dass sie bei ihrer Haushaltsplanung fürs nächste Jahr noch völlig im Dunkeln tappen.
Zwar veröffentlichte das Bundesver- sicherungsamt Anfang Juli ein Klas- sifikationsmodell, das die Versicher- ten bestimmten Morbiditätsgruppen zuordnet. Wie viel die einzelnen Krankenkassen vom nächsten Jahr an konkret über den Morbi-RSA für ihre kranken Versicherten erhalten, wissen sie jedoch nicht. Dies liegt daran, dass die Kassen keine Infor- mationen über die Versicherten- struktur ihrer Konkurrenz haben.
Folglich können sie nicht berechnen, wie groß ihr Stück vom RSA-Ku- chen sein wird. Genaue Informatio- nen liegen den Kostenträgern erst Mitte November vor. Bis dahin ver- suchen sie, über Simulationsrech- nungen zu ermitteln, wie viel ihre kranken Versicherten künftig wert
sein werden. I
Samir Rabbata