SCHWERPUNKT
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 15
K
riege, Wirtschaftskrisen und Flüchtlingsströme: Die Schlagzeilen der Medien malen ein düsteres Bild der Welt. Vergessen gehen dabei häufig die beachtlichen Fortschritte im Kampf gegen eine der grössten Miseren, mit denen wir uns konfrontiert sehen: die extreme Armut.
So ist der Anteil der Menschen, die mit weni
ger als 1.90 Dollar pro Tag auskommen müssen, in den letzten 15 Jahren um über die Hälfte ge
sunken. Heute leben rund 10 Prozent der Welt
bevölkerung in extremer Armut. Zum Vergleich:
Im 19. Jahrhundert waren noch mehr als 8 von 10 Personen davon betroffen (siehe Abbildung 1).
Nennenswert sind auch die Fortschritte im Kampf gegen die Kindersterblichkeit, welche heu
te beinahe vier Mal tiefer ist als vor 50 Jahren.1 Das durchschnittliche Einkommen in Europa vor 200 Jahren glich jenem der ärmsten Länder Afrikas von heute. Damals war nahezu die ge
samte Weltbevölkerung arm (siehe Abbildung 2).
Im Jahr 1970 hatte sich der Kontext als Folge von über einem Jahrhundert Industrialisierung dras
tisch verändert. Die Welt war nun zweigeteilt in entwickelte und arme Länder, was visuell an die Höcker eines Kamels erinnert. 50 Jahre später, um die Jahrtausendwende, hat sich das Kamel in ein Dromedar verwandelt: Die klare Unterscheidung zwischen entwickelter und unter entwickelter
Weniger Armut – mehr Ungleichheit
In den letzten Jahrzehnten hat die Ungleichheit innerhalb der Staaten zugenommen – was hohe politische und soziale Kosten verursachen kann. Die Schweiz will diesem Trend in ihrer wirtschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit entgegenwirken. Catherine Cudré-Mauroux, Patrick Stadler
Abstract Das Umfeld der wirtschaftlichen Entwicklungshilfe hat sich in den letz- ten 50 Jahren drastisch verändert. Die extreme Armut ist auf einen Tiefstand ge- fallen, die Ungleichheit zwischen Staaten hat abgenommen. Gleichzeitig sind aber die innerstaatlichen Disparitäten deutlich gewachsen. Da grosse Ungleichheiten politische und soziale Kosten verursachen können, rückt das Thema zusehends auf die Agenda der internationalen Zusammenarbeit. Die wirtschaftliche Ent- wicklungszusammenarbeit des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) hat den Akzent auf nachhaltiges, inklusives Wachstum gelegt. Dadurch sollen alle Bevöl- kerungsschichten eines Landes Perspektiven erhalten.
Welt ist Geschichte, das weltweite Einkommen deutlich gestiegen und gleichmässiger verteilt.
Innerstaatliche Ungleichheit nimmt zu
Während diese Entwicklungen optimistisch stimmen, ist seit den Achtzigerjahren eine neue Tendenz feststellbar: Die Ungleichheit zwischen den Ländern nahm in den letzten 25 Jahren zwar ab, die innerstaatliche Ungleichheit stieg aber deutlich.2 Aufstrebende Volkswirtschaften wie China und Indien verzeichneten jahrelang hohe Wachstumsraten, was wesentlich zur Armutsre
duktion beitrug. Gleichzeitig wurde jedoch der Graben zwischen den verschiedenen Bevölke
rungsschichten immer grösser. Die wachsende Ungleichheit ist mitunter ein Nebeneffekt der wirtschaftlichen Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte, wie Wirtschaftsnobelpreisträger An
gus Deaton konstatiert.3 Denn die Wohlstands
gewinne eines aufstrebenden Staates kommen nicht allen Bewohnern zur gleichen Zeit und in gleichem Masse zugute.
1 Roser (2015a).
2 Milanovic und Lakner (2015) sowie Anand und Segal (2014).
3 Deaton (2013):
«Inequality is often a consequence of progress. Not everyone gets rich at the same time, and not everyone gets immediate access to the latest life-saving measures, whether access to clean water, to vaccines, or to new drugs for preventing heart disease.»
Seco-Entwicklungsziele 2017 – 2020
Das Staatssekretariat für Wirtschaft will nachhaltiges und inklusives Wachstum in den Partnerländern über vier Wir- kungsziele erreichen. Diese leiten sich aus der globalen Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung ab und reflektieren die Stellung des Seco als wirtschaftliches Kompetenzzentrum des Bundes:
– wirksame Institutionen und Dienstleistungen;
– mehr und bessere Arbeitsplätze;
– gestärkter Handel und höhere Wettbewerbsfähigkeit;
– emissionsarme und klimaresilientea Wirtschaft.
a Unter «klimaresilient» wird die Widerstandsfähigkeit gegenüber extremen Klimaereignissen verstanden. Diese stellt neben der Reduktion von Emissionen die zweite Handlungsleitlinie des Seco im Klimabereich dar.
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
16 Die Volkswirtschaft 3 / 2016
Von den Möglichkeiten einer offenen, globali
sierten Weltwirtschaft haben nicht zuletzt wohl
habende Schichten profitiert. Gemäss Schätzun
gen der Grossbank Credit Suisse verfügen heute 0,7 Prozent der Bevölkerung über knapp die Hälf
te des weltweiten Vermögens. Die untersten zwei Drittel besitzen demgegenüber weniger als 3 Pro
zent (siehe Abbildung 3).
Entsprechend sind Verteilungsfragen in den letzten Jahren ganz zuoberst auf die politische Agenda gerückt. Zahlreiche Beobachter spre
chen von strukturellen Herausforderungen, die angegangen werden müssen. So macht der französische Ökonom Thomas Piketty die hö
heren Renditen von Kapital im Vergleich zum Wirtschaftswachstum hauptverantwortlich für die zunehmende Ungleichheit in entwickelten Volkswirtschaften4: Das Einkommen auf Arbeit wachse langsamer als das Einkommen auf Kapi
tal, was das Gros der Bevölkerung systematisch benachteilige. Neue Analysen von Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IMF) zeigen zudem auf, dass Ungleichheit nicht nur poten
ziell negative soziale oder politische Folgen hat, sondern längerfristig auch zu tieferem Wachs
tum führen kann.5
Weltbank geht mit
«Shared Prosperity» voran
Die wachsende Ungleichheit in vielen Ländern wirkt sich auch auf die internationale Zusam
menarbeit aus. Neben dem traditionellen Fo
kus auf die Reduktion von Armut und globalen Risiken wie dem Klimawandel befassen sich Ent
wicklungsakteure vermehrt mit den Folgen zu
nehmender Disparitäten.
Exemplarisch ist in dieser Hinsicht die 2013 verabschiedete Strategie der Weltbank namens Shared Prosperity. Diese enthält das ambitionier
te Ziel, die extreme Armut6 bis 2030 zu überwin
den – respektive auf wenige Prozentpunkte zu reduzieren. Gleichzeitig soll der Lebensstandard der untersten 40 Prozent in jedem Land drastisch verbessert werden, um den Graben zwischen Arm und Reich zu vermindern.
Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter. Rikscha in Indien.
KEYSTONE
SCHWERPUNKT
Die Volkswirtschaft 3 / 2016 17
Inklusives Wachstum als Ziel
Die wirtschaftliche Entwicklungszusammen
arbeit des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) geht in der Strategie 2017 – 2020 ebenfalls ver
stärkt auf Disparitäten ein. So stellt das Seco seine entwicklungspolitischen Aktivitäten unter den Begriff «nachhaltiges und inklusives Wachstum»:
Wachstum soll ökonomische wie soziale und öko
logische Aspekte berücksichtigen und den Wohl
stand künftiger Generationen nicht beeinträchti
gen (siehe Kasten). Der neue Akzent auf inklusives Wachstum zielt darauf ab, allen Bevölkerungs
schichten der SecoPartnerländer7 Perspektiven zu bieten – unter anderem über Jobs.
Nachhaltiges und inklusives Wachstum bedingt wirksame Institutionen und Dienst
leistungen, die allen Bevölkerungsschichten zugutekommen. Ohne Rechtssicherheit oder funktionierende Energieversorgung können Kleinunternehmer nur mit Mühe eine Firma auf
bauen und Arbeitsplätze schaffen. Ein verant
wortungsvoller Umgang mit öffentlichen Finan
zen und Investitionen sowie ein gut entwickelter Finanzsektor wirken sich positiv auf die wirt
schaftliche Leistung eines Landes aus, was wie
derum die Armut reduziert. Konkret unterstützt das Seco beispielsweise Ghana mit Expertise und ITInfrastruktur beim Aufbau eines effizienten und fairen Steuersystems. Dadurch konnten die Staatseinnahmen erhöht und die Steuerlast brei
ter verteilt werden.8
Mehr und bessere Arbeitsplätze sind der Schlüssel zu einer wirtschaftlichen Entwicklung, die möglichst viele einbezieht. So stellt ein wür
diger Arbeitsplatz das wohl wirksamste Mittel gegen Armut dar. Damit neue Stellen entstehen, braucht es neben einem förderlichen Geschäfts
klima auch Zugang zu Finanzierungsquellen und Fachkräften. Gleichzeitig müssen Arbeitsplätze Mindestanforderungen erfüllen, um ein sicheres und menschenwürdiges Umfeld zu bieten. Über die Finanzierungsinstitution Swiss Investment Fund for Emerging Markets (Sifem) stellt das Seco deshalb Unternehmen in Entwicklungslän
dern Kapital zur Verfügung, damit diese expan
dieren und neue Stellen schaffen können.
Längerfristiges Wachstum setzt einen stär
keren Handel und höhere Wettbewerbsfähigkeit voraus. Entwicklungsländer profitieren jedoch
Abb. 1: Anteil der Armen an der Weltbevölkerung
Das Jahreseinkommen der Menschen ist hier weltweit in «Internationalen Dollars»
angegeben. Diese Vergleichswährung basiert auf einem Warenkorb, gemessen in Dollar (1990).
Abb. 3: Weltweite Vermögensverteilung (2015)
ROSER (2015A), BOURGUIGNON/MORRISSON (2002), WORLD BANK (2015) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Abb. 2: Weltweite Einkommensverteilung 1820, 1970 und 2000
JAMES DAVIES, RODRIGO LLUBERAS AND ANTHONY SHORROCKS, CREDIT SUISSE GLOBAL WEALTH DATABOOK 2015 / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
90 In % 80 70 60 50 40 30 20 10 0
1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 2015
extreme Armut bisher (weniger als 1.25 Dollar pro Tag)
Weltbank-Definition von extremer Armut ab 2015 (weniger als 1.90 Dollar pro Tag)
1820 1970 2000
ROSER (2015B), OECD (2014) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
Jahreseinkommen pro Einwohner (in Internationalen Dollars, 1990) 300
320 Bevölkerung (in Millionen) 280
260 240 220 200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0
100 200 300 500 1000 2000 3000 5000 10 000 20 000 30 000 50 000 100 000
71 % 3 386 Millionen Menschen Vermögen von
Einzelpersonen
Anzahl Personen (Anteil an der Weltbevölkerung) Gesam
tverm ögen (
Anteil a m T
otal) 21 %
1 003 Millionen Menschen 7,4 % 349 Millionen
Menschen
> 1 Million Dollar 112,9 Billionen Dollar (45,2 %) 100 000 bis 1 Million Dollar 98,5 Billionen Dollar (39,4 %)
10 000 bis 100 000 Dollar 31,3 Billionen Dollar (12,5%)
< 10 000 Dollar 7,4 Billionen Dollar
(3,0 %) 0,7 %
34 Millionen Menschen
ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
18 Die Volkswirtschaft 3 / 2016 Literatur
Anand, Sudhir and Paul Segal (2014). The Global Distribution of Income. International Develop- ment Institute Working Paper 2014-01, London.
Bourguignon, François and Christian Morrisson (2002). Inequality Among World Citizens:
1820 – 1992. The American Economic Review, Vol. 92, No. 4. September 2002.
Deaton, Angus (2013). The Great Escape:
Health, Wealth, and the Origins of Inequality, Princeton.
IMF Staff Discussion Note (2015). Causes and Consequences of Income Inequality: A Global Perspective, Washington D. C..
Milanovic, Branko and Christoph Lakner (2015).
Global Income Distribution: From the Fall of the Berlin Wall to the Great Recession, in: The World Bank Economic Review, 12. August 2015.
OECD (2014). How Was Life? Global Well-being Since 1820, Paris.
Piketty, Thomas (2013/2014). Capital in the Twenty-First Century, Paris.
Roser, Max (2015a). Child Mortality, Oxford, Ourworldindata.org.
Roser, Max (2015b). Inequality Between World Citizens, Oxford, Ourworldindata.org.
World Bank (2015). Global Monitoring Report 2015/2016, Washington.
häufig nicht von den ertragreichen Etappen in der Wertschöpfungskette eines Produkts. Denn Güter durchlaufen heute komplexe Wertschöp
fungsketten in verschiedenen Staaten, bis sie die Konsumenten erreichen. Geeignete wirtschaft
liche Rahmenbedingungen tragen dazu bei, dass die Produktivität von kleinen und mittleren Un
ternehmen kontinuierlich steigt und lukrative Produktionsschritte mit hoher Wertschöpfung vermehrt vor Ort anfallen. Aus diesem Grund stärkt das Seco in Indonesien beispielsweise die Managementkapazitäten von KakaoKlein bauern und sorgt damit für stabilere Einkommen.
Arme stärker vom Klimawandel betroffen
Eine emissionsarme und klimaresiliente Wirt
schaft ist angesichts der Herausforderungen des Klimawandels von zentraler Bedeutung. Ent
wicklungsländer sind besonders exponiert und bekommen die Folgen extremer Klimaereignisse stärker zu spüren als entwickelte Staaten. Gera
de die Ärmsten in diesen Ländern sind überpro
portional von Überschwemmungen und anderen Katastrophen betroffen.
Klimarelevante Strategien umfassen sowohl Massnahmen zur Reduktion der Treibhausgase als auch solche zur Anpassung an die Folgen der Klimaerwärmung. Im Zentrum stehen Massnah
men in Städten, weil sie bedeutende Verursacher
klimarelevanter Gase sind und immer mehr Be
wohner zählen. In Tadschikistan hat das Seco zu einem zuverlässigeren und nachhaltigeren Zugang zu Elektrizität beigetragen. Das Energie
netz wurde saniert, was unter anderem Energie
verluste reduzierte. Subventionen trugen dazu bei, dass auch die Ärmsten einen verbesserten Elektrizitätszugang erhielten.
Abschliessend kann gesagt werden: Dispa
ritäten sind mitunter ein Nebeneffekt der wirt
schaftlichen Fortschritte der vergangenen Jahr
zehnte. Mit ihren potenziell hohen politischen und sozialen Kosten stellen sie für Entwicklungs
länder eine Herausforderung dar, die sie noch lange beschäftigen dürfte. Die internationale Zusammenarbeit der Schweiz, insbesondere des Seco, begleitet sie auf diesem Weg.
4 Piketty (2013/2014).
5 IMF Staff Discussion Note (2015).
6 Einkommen pro Person von weniger als 1.90 Dollar pro Tag (kauf- kraftbereinigt, 2011).
7 Schwerpunktländer im Süden: Indonesien, Vietnam, Ägypten, Gha- na, Südafrika, Tunesien, Kolumbien und Peru.
Im Osten: Albanien, Serbien, Kirgistan, Tadschikistan, Ukraine.
8 Die Projektbeispiele basieren auf laufenden oder früheren Projek- ten, welche bereits einen starken Bezug zu inklusivem Wachstum aufweisen. Siehe auch die Beiträge von Alain Bühlmann, Stephan Leiser und Mike Ducker sowie Franziska Spörri und Sibylle Hägler in dieser Ausgabe.
Catherine Cudré- Mauroux Leiterin Politik und Qualität, Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Staats
sekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern
Patrick Stadler Wissenschaftlicher Mit
arbeiter, Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Staats
sekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern