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Archiv "GESUNDHEITSBILDUNG (III): Der Arzt und das Thema Gesundheit" (30.08.1979)

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Um Krankheiten zu vermei- den, müssen auch soziale Faktoren aus den Bereichen Erziehung, Arbeitswelt und persönliche Lebensumstände auf die natürlichen Bedürfnis- se des Menschen ausgerichtet werden. Soziale Bezüge, und nicht allein medizinisches Fachwissen, sollten daher das Handeln des Arztes und sei- nen Umgang mit dem Patien- ten mitbestimmen. Die Aus- einandersetzung mit dieser Thematik bildet den Schwer- punkt von drei Beiträgen. Sie gehen zurück auf Referate, 'die anläßlich einer Tagung der Gesellschaft für Gesundheits- bildung in Stuttgart-Hohen- heim gehalten wurden. Der nachfolgende Beitrag ver- sucht insbesondere „Krank- heit" und „Gesundheit' von- einander abzugrenzen. Be- reits erschienen sind: In Heft 31 Prof. Dr. Dr. Heinrich Schipperges: „Die Bedeutung der Gesundheit für das Le- ben" und in Heft 33: Dr. Dr.

Rudolf Affemann: „Durch Ge- sundheitserziehung zur Ge- sundheitsbildung."

DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Heft 35 vom 30. August 1979

GESUNDHEITSBILDUNG (III)

Der Arzt und das Thema Gesundheit

Wolfgang Jacob

Gesundheit, so sagt man, sei das höchste Gut. Wir alle denken nach über die Frage: „Welches sind die Bedingungen und sozusagen die Voraussetzungen unserer Gesund- heit?" Kaum ein Mensch und kaum ein Arzt wird sich mit dieser Frage nicht schon mehr oder weniger in- tensiv auseinandergesetzt haben.

Indessen verfügen wir nicht über ei- ne einzige wissenschaftliche Arbeit zum Thema „Wie wird der Mensch gesund alt?"

Gesundheit wird einerseits als eine natürliche Mitgift betrachtet, gene- tisch oder wie auch immer konstitu- tionell vermittelt. Andererseits stellt Gesundheit eine Bedingung unseres Lebens dar, zu der wir uns bewäh- rend oder schädigend verhalten können. Für jeden einzelnen Men- schen scheint hier eine Toleranz- schwelle zu bestehen, die wir in der Regel nicht kennen und die sich auch nicht im voraus bestimmen läßt.

Aus einigen Mitteilungen des Welt- schrifttums geht hervor, daß die Wandlung eines Menschen zum Ge- sunden nicht selten mit einer gene- rellen Wandlung, einer Umorientie- rung des gesamten Lebensentwurfs verbunden zu sein scheint. Das gilt, wie wir aus den Mitteilungen von Ikemi wissen, erstaunlicherweise auch für eine geringe Anzahl inope- rabler Krebspatienten, die auf die- sem Wege nachweislich gesund ge- worden sind.

Mit anderen Worten: Gesundheit ist kein permanenter, automatisierter,

immer neu sich reproduzierender biologischer Zustand, der uns ein langes Leben garantiert — wie immer wir uns verhalten mögen —, sondern wir haben es mit einer Art „creatio continua" im biologischen, psycho- logischen und geistigen Bereich zu tun. Gesundheit ist ein homöostati- scher Gleichgewichtszustand, der störbar ist und der uns zugleich ständig neu davor bewahrt, Gesund- heitsstörungen, die sich von außen oder von innen bemerkbar machen, widerstandslos ausgeliefert zu sein.

Was ist „gesund", was ist „krank"?

Für den Arzt entsteht zunächst die Frage: „Was ist Gesundheit wirk- lich?" In den Lehrbüchern der Medi- zin fehlt der Begriff „Gesundheit" so gut wie ganz. Objektivierbar ist sie nur als Abwesenheit feststellbarer pathologischer Befunde oder als Grenzwert einer bestimmbaren Lei- stungsfähigkeit.

Das eigene Befinden, auch das eige- ne Wohlbefinden, stellt kein verläßli- ches Kriterium dar: Es vermag lange Zeit über eine selbst tödlich verlau- fende Krankheit hinwegzutäuschen.

Andererseits pflegt die Wahrneh- mung eines hypochondrischen Schmerzes mit der Diagnose „rein organisch gesund" verbunden zu sein. Bei dem Versuch, durch Defini- tion oder Beschreibung dem Wesen der Gesundheit näherzukommen, entgleitet uns der Begriff.

Ausdrücke wie „Gesundheitsbil- dung", „Gesundheitserziehung",

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Gesundheitsbildung

„Gesundheitsplanung", „Gesund- heitsamt", „Gesundheitssystem"

weisen uns darauf hin, daß es dem Menschen, der sich dieses „Ge- sundheitssystem" etwas kosten läßt, auch und vor allem um die Gesund- heit geht, obwohl unser Gesund- heitswesen in erster Linie als ein

„Krankheitswesen", das heißt als ei- ne Institution zur Behandlung oder Verhütung von Krankheiten, be- zeichnet werden muß.

Die WHO deklariert das Recht eines jeden Menschen auf Gesundheit; sie definiert den Gesundheitsbegriff als

„Zustand vollkommenen, körperli- chen, seelischen und sozialen Wohl- befindens". Gemeint ist mit diesem Idealtypus einer Gesundheitsdefini- tion natürlich das Faktum, es genü- ge nicht, Gesundheit negativ zu fas- sen, als reine „Abwesenheit von Krankheit" oder als „Schweigen der Organe".

Jede Präventionsmaßnahme, jede Vorsorgeuntersuchung läßt sich nur auf Grund einer Normsetzung, das heißt einer biologischen oder soma- tischen, gelegentlich auch psychi- schen Befunderhebung leisten. Ver- änderungen normaler Meßwerte, zum Beispiel beim Bluthochdruck, oder der morphologischen Normge- stalt, etwa bei der Papanicolaou-Un- tersuchung, sind die Parameter, nach denen wir Krankheitszustände von dem „Zustand der Gesundheit"

unterscheiden. Vor allem psychi- sche Krankheitszustände sind auch dann nicht auszuschließen, wenn sie sich jedem somatischen Nachweis entziehen.

Nur der Arzt weiß zu unterscheiden, ob diese oder jene Einschränkung des Wohlbefindens Krankheitswert hat, das heißt, ob sie als Einschrän- kung oder als Störung der Gesund- heit bezeichnet werden muß, ob eine Einschränkung des Wohlbefindens als ein vorübergehendes Aus-dem- Gleichgewicht-Kommen der biologi- schen Funktion anzusehen ist oder ob sie bereits Krankheitswert be- sitzt.

Dieses „Nicht-genau-Wissen", die- ses „Im-Unbestimmten-Lassen",

dieses „Hin- und Herpendeln zwi- schen Zuständen des Wohl- und Mißbefindens", diese Entscheidung:

„Ist er wirklich krank?" — oder:

„Liegt eine hart an die Grenzen des Ertragbaren gehende mitmenschli- che oder soziale, oft auch berufliche Belastung vor?" — diese soziale Be- wertung und die Feststellung des- sen, was „gesund" oder was

„krank" ist, wird im menschlichen Lebensbereich selbst als ein span- nungsreiches Übergangsfeld emp- funden. Es wird in Form von oft ziemlich widersprüchlichen, oft quä- lenden, oft sich ausgleichenden Le- benshaltungen und Lebenshandlun- gen, wechselnden Zuständen des Wohl- und Mißbefindens erlebt, das durchaus noch im Rahmen einer Gesundheit, eines gesunden Lebens angetroffen werden kann. Wir um- schreiben dieses Übergangsfeld mit dem Begriff der „pathischen Exi- stenz" (V. v. Weizsäcker): der Mensch befindet sich häufig in einer Situation, in der seine Gefühle, seine Leidenschaften, seine Affekte star- ken Schwankungen ausgesetzt sind, unter denen er leidet.

Ein sich wiedereinstellendes, zuvor gestörtes Wohlbefinden, dasAuftau- chen aus einer hoffnungslos er- scheinenden Affektsituation oder Stimmung, aus einem Depressions- zustand wird durchaus im Sinne ei- ner „Gesundung" empfunden: Das Fließgleichgewicht, die Homöostase im leiblichen, seelischen oder geisti- gen Bereich ist wieder erreicht. So etwa läßt sich die Dynamik der Ge- sundheit beschreiben — als ein durchaus erlebbarer und auch auf Zeiten erreichbarer Zustand.

Die gesellschaftliche Umwelt beeinflußt die Gesundheit

Wenn es gelingen soll, aus der Un- zahl der mit unserem Alltagsleben verbundenen Störungen diejenigen abzuwehren oder einzuschränken, deren Einwirkung für das Leben des einzelnen krankmachende Folgen haben kann oder haben wird, so sollte der Betroffene selbst in die Lage versetzt werden, diese recht- zeitig zu erkennen und abzuwehren.

Es geht hier um die Entdeckung, das heißt eigentlich um die Wiederent- deckung einer alten, in uns ruhen- den Fähigkeit der Selbstwahrneh- mung gesundheitlicher Störungen, die wir als das „Ärztliche der. Nicht- ärzte" bezeichnen können.

Noch in der allgemeinen Krankheits- lehre des 19. Jahrhunderts wird ganz selbstverständlich von der „vi- ta propria", der Lebenskraft — als dem eigentlichen Motor der Ge- sundheit — gesprochen: „Nur durch das Zusammenwirken der einzelnen Teile des lebendigen Organismus' sind die Organe und die Zellen als die kleinsten, lebenden Individuen durch die Affinitäten und Repulsio- nen ihrer Stoffe, durch deren räumli- che Veränderung — also durch den Stoffwechsel — in den Stand gesetzt, die Integrität ihrer Zusammenset- zung zu erhalten, Verbrauchtes ab- zuwerfen, Bedurftes zu erlangen und zuletzt in einer ganzen Summe von Elementen, welche den Körper zusammensetzen, jenes Gleichge- wicht der Funktionen herzustellen, welches wir in dem Bilde der Ge- sundheit zusammenfassen und mit dem Gefühl des Wohlseins an uns selbst wahrnehmen." (R. Virchow) Die allgemeine Krankheitslehre des 19. Jahrhunderts geht noch einen Schritt weiter: sie stellt fest, daß, selbst wenn diese Funktionen ge- stört sind und als krankhaft verän- dert im Sinne einer Pathophysiolo- gie bezeichnet werden müssen, den- noch vorausgesetzt werden kann, daß andere Teile des Organismus sich zur gleichen Zeit in einem phy- siologischen Zustand befinden kön- nen, das heißt den Zustand einer Teilgesundheit repräsentieren.

In unserer Zeit sind es die Genmu- ster der biologischen Strukturen, die zugleich unsere Konstitution, unse- ren Charakter, unser Temperament und die Gestaltungsmöglichkeiten unserer eigenen biographischen Existenz determinieren; sie werden als die sogenannten „Repräsentan- ten" unserer Gesundheit aufgefaßt.

Gesundheit ist damit ein genetisch- biographisch determinierter, aller- dings mehr oder weniger störbarer

2198 Heft 35 vom 30. August 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Gesundheit - Kraft zum Leben

„Die Bemühungen, zu beschrei- ben, was Gesundheit ist, sind so alt wie die Medizin als Wissen- schaft, die auch über sich selbst und ihr Tun nachdenkt. Und je nach Zeiten und den geistigen Strömungen in ihnen und je nach Menschen und ihren Einstellun- gen zum Leben fielen die Defi- nitionen unterschiedlich, ja ge- gensätzlich aus. Auch der heute mit Hilfe von ,check up' und auto- matischen Analysegeräten immer noch gemachte Versuch, aus so erhobenen Daten und ihrem Ver- gleich mit einer künstlich gemit- telten Norm auf Anomalien in der Funktion des Organismus zu schließen und dies als fehlende Gesundheit zu interpretieren, auch dieser Versuch ist ebenso fragwürdig wie etwa die Formel

‚Gesundheit ist Arbeit und Arbeit ist Gesundheit'. Dann ist schon Nietzsches Überzeugung hilfrei- cher, es gebe nicht eine Gesund- heit, sondern nur Gesundheiten, von denen der Mensch im Laufe seines Lebens viele durchmache.

Oder um eine gerade in ihrer Ein- fachheit überzeugende Beschrei-

bung von Karl Barth, dem Theo- logen zu wiederholen, der die Gesundheit als Kraft zum Menschsein gekennzeichnet hat.

Wie überzeugend und hilfreich ist diese Formel, gemessen etwa an der den Selbstzweck sugge- rierenden Deutung der Weltge- sundheitsorganisation, nach der ,Gesundheit . ein Zustand voll- kommenen körperlichen, geisti- gen und sozialen Wohlbefindens (ist) und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.' Abgesehen davon, daß hier zur Definition eines Begriffs ihrer- seits undefinierte Begriffe wie et- wa Wohlbefinden verwendet wer- den, bewirkt diese Übertragung des Vagen ins Unbestimmte eine Verschärfung der Situation unse- res Gesundheitswesens. die ge- kennzeichnet ist durch übertrie- benes Anspruchsdenken aller daran Beteiligten und durch den Wahn von der Restaurierbarkeit der Gesundheit. Gesundheit ist fast immer zu bewahren, aber nur selten wiederherzustellen."

Johannes Schlemmer im Süd- deutschen Rundfunk in einem Bericht über die „Gesellschaft für Gesundheitsbildung"

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Gesundheitsbildung

biologischer Prozeß, der dem Men- schen als natürliche Mitgift, als na- türliche Gabe zufällt. Dieses auf Aussagen naturwissenschaftlich verifizierbarer Fakten reduzierte Konzept einer allgemeinen Gesund- heitstheorie gestattet nur einen sehr begrenzten Zugang zu den Auswir- kungen der sogenannten „Gesund- heitsstörungen" im Rahmen einer somatischen, psychischen und so- zialen Pathogenese.

Wenn unsere Umwelt „vornehmlich in Form der gesellschaftlichen Um- welt auf die Gesundheit des Men- schen einwirkt" (H. Schaefer) und die von der Gesellschaft geprägten Lebensbedingungen sozusagen ei- ne „lebenslange Pathogenese" dar- stellen, die schlußendlich zu einem manifesten Wirksamwerden der Krankheit führt, so rückt damit die Biographie in den Mittelpunkt der Betrachtung:

Welche Kräfte, welche Einflüsse der mitmenschlichen Umwelt, welche Beziehungen des Individuums zu dieser seiner Mitwelt bestimmen im Laufe einer langen biographischen Entwicklung und Persönlichkeits- entwicklung darüber, ob und wann ein Mensch krank wird oder ob und wann in einer psychosomatischen Kovalenz der Kräfte der gefestigte Kern einer menschlichen Persön- lichkeitsentwicklung Gesundheit zu stabilisieren vermag?

Der Arzt als Berater bei einer gesunden Lebensgestaltung Hier fallen dem Arzt, insbesondere dem Familien- oder Hausarzt, be- sondere Aufgaben zu, nämlich die, eingreifende Gesundheitsstörun- gen, der ihm anvertrauten Patienten

— Patienten, die er vielleicht unter günstigen Voraussetzungen nicht nur Tage oder Monate, sondern über Jahre oder Jahrzehnte kennt — rechtzeitig zu erkennen und zu be- handeln. Er sollte mit dem Patienten als Partner darüber verhandeln, wel- che Bedingungen seines Lebens und seiner Lebensgestaltung für die Gesundheit förderlich oder hinder- lich sein könnten.

Es handelt sich hier nicht um Maß- nahmen einer Gesundheitserzie- hung nach Programm, also um die Beherzigung von Regeln oder Maß- nahmen zu einer gesunden Lebens- führung, sondern es geht hier zu- nächst um das Erkennen eines de- taillierten soziobiographischen Zu- sammenhanges. Vor allem ist die Ausbildung eines ärztlichen Vertrau- ens wichtig, das den Bedrohten oder Betroffenen veranlaßt, seinen Arzt rechtzeitig in die eigenen Probleme der Lebensführung einzubeziehen, um nach gangbaren Möglichkeiten einer Änderung der Situation zu su- chen. So werden hier notwendige und wirksame Entscheidungen er- möglicht oder bekräftigt und da- durch Krankheit vermieden. Die pro- spektive Fähigkeit der Erkennung und Beeinflussung kränkender Er-

eignisse sollten zum Handwerks- zeug des Arztes gehören, wenn er versucht, gesundheitsbildend oder als Gesundheitserzieher wirksam zu werden. Wir stehen hier in der Tat vor einer neuen Entwicklung ärztli- cher Perspektiven, welche eine Neuorientierung unserer ärztlichen Ausbildung verlangt ebenso wie ei- ne Umgestaltung der hier notwendig werdenden ärztlichen Maßnahmen und Methoden.

In jedem Lebensalter sind spezifi- sche Gefahren eines „Lebens unter veränderten Bedingungen mit dem Charakter der Gefahr" (R. Virchow) prävalent: Wir brauchen hier nicht auf die Umbrüche und Krisen im menschlichen Leben hinzuweisen, die jedem von uns bekannt und ge- läufig sind. Es geht um die Anwen-

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen Gesundheitsbildung

dung brauchbarer, auch psychothe- rapeutisch wirksamer Methoden, die den Arzt in die Lage versetzen, Ge- sundheitskrisen rechtzeitig zu er- kennen und sie gemeinsam mit dem Patienten abzuwenden oder in ihrer pathogenen Wirkung abzuschwä- chen.

Die Ausbildung derartiger ärztlicher Fähigkeiten setzt allerdings ein von dem derzeitigen verschiedenes Aus- und Weiterbildungskonzept voraus.

Es fehlt in der derzeitigen ärztlichen Ausbildung das Grundkonzept einer medizinischen Anthropologie. We- der die Psychologie noch die Sozio- logie, als nichtmedizinische Wissen- schaftsdisziplinen, sind in der Lage, dem zukünftigen Arzt ein medizi- hisch-anthropologisches Grundwis- sen zu vermitteln. Ohne dieses Grundwissen aber ist der Arzt nicht imstande, Kriterien einer sich an- bahnenden Gesundheitskrise oder sich anbahnender Gesundheits- schäden rechtzeitig und regelhaft zu erkennen und ihren Konsequenzen wirksam zu begegnen.

Gesundheit fordert Änderung der sozialen Bedingungen

Die angebliche „Unverrückbarkeit sozialer Bedingungen unseres Le- bens", die vielbehauptete zwingen- de Macht der sogenannten „sozio- ökonomischen — und Sachzwänge", tragen ihren Teil dazu bei, die not- wendigen und möglichen Verände- rungen der sozialen Bedingungen menschlicher Gesundheit — wie zum Beispiel die notwendigen Verände- rungen im Schulwesen — empfind- lich einzuschränken oder gar zu blockieren. Menschliche, gesell- schaftliche und politische Entschei- dungsgewalten ersticken oftmals in Paragraphen. Dies alles läßt sich un- ter dem Begriff „bürokratischer Risi- kofaktor" zusammenfassen. Wir ste- hen hier vor einem Phänomen der Sozialpathologie; es handelt sich um die Folgen öffentlich-wirksamer, politischer oder verwaltungstechni- scher Entscheidungsprozesse, die sich in einer sozialen Dimension ge- sundheitsstörend oder gesundheits- schädigend auswirken.

In einer systematischen Gesund- heitsplanung geht es darum, den Möglichkeiten gesunder menschli- cher Entwicklung und Lebensfüh- rung Raum zu verschaffen und nicht einfach dem Bürger eine gesund- heitsgemäße Lebensführung aufzu- oktroyieren. Das Gesundheitswesen hat nicht als Eintrittspforte für die politische Umgestaltung eines Vol- kes zu dienen — eine Möglichkeit po- litischer Einwirkungen, die Lenin sehr genau erkannt hatte —, sondern ganz im Gegenteil: Gesundheits- wirksame, im allgemeinen politische oder verwaltungstechnisch vermit- telte Entscheidungsprozesse bedür- fen hinsichtlich ihrer zu erwarten- den Gesundheitswirksamkeit jeweils einer sehr sorgfältigen Prüfung, in der Regel einer bewährten Modell- phase, bevor sie in Kraft gesetzt wer- den.

Weder der Erforschung noch der Gestaltung unseres Gesundheitswe- sens liegen bisher brauchbare Mo- dellversuche zugrunde, die es uns erlauben, klar zu erkennen und klar zu entscheiden, auf welchen Wegen die Erhaltung oder Sicherung unse- rer Gesundheit konkret erreichbar ist.

Es fehlen zum Beispiel exakte Mo- dellversuche und Forschungspro- jekte zur Abklärung der Frage, in- wieweit Vertrauen und Selbstver- trauen, Motivation, Entscheidungen, Anpassungsfähigkeit oder Bedürf- nisbefriedigung, Entbehrung, Ver- zicht, Verläßlichkeit, Zuwendung zum Nächsten, Loyalität im berufli- chen Bereich, Fähigkeit und Kraft zur Kooperation und andere Maxi- men und Prinzipien des menschli- chen Zusammenlebens Vorausset- zungen oder gar Bedingungen für eine gesunde Lebensführung dar- stellen. Im ärztlichen Bereich sollte eine systematische Untersuchung der biographischen Dimensionen der Vertrauensbildung und des Selbstvertrauens bei unseren Mit- menschen — insbesondere unseren Patienten — durchgeführt werden, etwa mit der Fragestellung „Was be- deutet im Kontext der biographi- schen Anamnese die soziale Krän- kung?".

Es scheint außer Frage zu stehen, daß ein Kind, das richtig angeleitet und erzogen, geliebt und betreut wird, selbst wenn es zeitweise Bela- stungen seines Lebens nicht aus- weichen kann, eher über bessere Voraussetzungen für die eigene Ge- sundheit verfügt als ein Kind, dem diese Möglichkeiten des eigenen Le- bens — und später der eigenen Le- bensgestaltung — versagt waren.

Fragen wir allerdings nach dem Ort, wo dies geschehen kann, so müssen wir eingestehen, daß unsere gesell- schaftspolitischen Entscheidungs- prozesse der vergangenen Jahr- zehnte kaum etwas dazu beigetra- gen haben, diesen Ort zu schützen, ihn zu pflegen und zu gestalten: ich meine die Familie!

Damit kommen wir zu einer ersten These:

Der latent äußerst bedrohliche, ge- sellschaftlich weitgehend sanktio- nierte Zerstörungsprozeß des Fami- liensystems stellt ein sozialpatholo- gisches Phänomen ersten Ranges dar — und zwar einschließlich der bedrohlichen Folgen eines Gebur- tenrückganges, welcher in seinem derzeitigen Ausmaß zu irreversi- blen, sozialpathologisch wirksamen Schäden führen muß. Es dürfte einer Illusion gleichkommen, wenn wir uns Erfolge gesund heitserzieheri- scher oder gesundheitsbildender Maßnahmen versprechen, ohne die biographischen Grundgegebenhei- ten des Gesundwerdens oder der gesunden Existenz zu kennen. Die Rekreation des Familienlebens soll- te daher das Ziel unserer Gesund- heits- oder besser Genesungspolitik sein.

Die zweite These lautet:

Gesundheit ist unter anderem eine Funktion des menschlichen Zusam- menlebens. Nur der Mensch, der ei- genständig zu leben gelernt hat, ist den Störungen seiner mitmenschli- chen Umwelt weitgehend gewach- sen und damit erwachsen. Aber:

Selbstverantwortung bedeutet zu- gleich und im selben Ausmaß auch Fremdverantwortung. Der Mensch

2200 Heft 35 vom 30. August 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen Gesundheitsbildung

kann seine Gesundheit sehr wohl auf Kosten anderer pflegen und er- halten. Nicht nur das: Anonyme, in- stitutionell begründete und aufok- troyierte Leistungsüberforderungen sind ebenfalls Störfaktoren der Ge- sundheit, die eine ernstliche Gefahr für die Gesellschaft in sich bergen.

Menschliches Zusammenleben be- darf daher zuallererst — wie in der Familie geübt — einer Elastizität und eines Gleichgewichtszustandes, den wir als „Fließgleichgewicht" (v. Ber- talanffy) bezeichnen können. Auch der Arbeitsprozeß verlangt nicht zu- letzt Sensibilität der miteinander kommunizierenden und kooperie- renden Menschen. Die blinde Kon- kurrenz, ein rücksichtsloses Überle- gensein um jeden Preis, jene Evolu- tionsmaxime des „survival of the fit- test" stellen die denkbar schlechte- sten Bedingungen dar für eine echte Krankheitsprophylaxe. Unsere Er- ziehungsinstitute, das heißt vor al- lem unsere Schulen, sind zur Zeit gar nicht darauf eingestellt, die not- wendigen Fähigkeiten und Grund- bedingungen menschlichen Zusam- menlebens zu üben, etwa zugunsten der Stabilisierung der Persönlich- keit.

Gesundheitserziehung befreit nicht von Eigenverantwortung

Um hier jedoch einem grundlegen- den Irrtum zu begegnen: Die Propa- gierung einer gesunden Lebensfüh- rung hat nichts mit einer Diffamie- rung der Leistungsfähigkeit zu tun.

Der Gesunde besitzt freilich eine ge- wisse Distanz zur Leistungsanforde- rung; er schätzt sie mehr oder weni- ger richtig ein; er überfordert sich nicht, das heißt er verfügt über eine gewisse ausgewogene Distanz zu sich selbst und damit auch zu seinen Leistungen und Leidenschaften.

Das wäre eine relativ einfache und den Alltagserfahrungen entspre- chende Rechnung, die sich ohne weiteres — gäben wir uns nur einige Mühe — bei jedem Menschen beglei- chen ließe. Schon das wäre ein Stück konkreter Krankheitsprophy-

laxe. Jedoch das Verlangen nach ei- nem Maß, die Überzeugung, daß ein solches Maß unserer selbsteigenen Lebensführung zugrunde gelegt werden könnte und daß die Einhal- tung eines solchen Maßes nicht nur Mühe und Anstrengung bedeuten, sondern als ein alltägliches Ereignis auch Vergnügen bereiten kann — diese Erfahrung ist wenig verbreitet.

Sie setzt voraus, daß wir unser Le- ben nicht mit außengesteuerten Ma- ximen zu bewältigen versuchen, sondern daß wir selbst unser Leben zu gestalten vermögen.

Durch ein ausgeklügeltes System sozialer Sicherungen glauben wir wenigstens gegen Beschädigungen durch die sogenannten sozialen Zwänge geschützt zu sein. Doch das Gegenteil ist meist der Fall. Ein sol- ches Sicherungsnetz sollte keine andere Funktion haben als die eines möglichst umfassenden Schutzes vor Unglück und Not; es sollte so weit ausgespannt sein, als der Ab- sturz möglich ist. Jene Passivierung des Gesundheitsverhaltens dagegen erscheint unzulässig. Jede Ein- schränkung der Verantwortlichkeit für die eigene Gesundheit kann nicht das Ziel einer planmäßigen Ge- sundheitserziehung oder Gesund- heitsbildung sein.

Über die Sozialpathologie, das heißt über die dynamische Soziopathoge- nese der sogenannten „großen künstlichen Seuchen" wie Herzin- farkt, Krebs, Bluthochdruck, Rheu- matismus und der Suchtkrankheiten wissen wir bisher noch kaum etwas.

Die auf allen Sektoren der Epide- miologie, der Streß- und Ernäh- rungsforschung, der Psychopatho- logie und Rehabilitationsforschung vorangetriebenen Studien stellen je- weils nur einzelne, noch weitgehend unzusammenhängende Sektoren der Krankheitsforschung dar. Es fehlt eine systematisch vorangetrie- bene Synopsis ebensowohl wie eine systematische Untersuchung gesun- der Lebensbedingungen für den ein- zelnen Menschen. Das hängt freilich mit der Komplexität des Gegenstan- des und den methodischen Schwie- rigkeiten seiner Erforschung zusam-

men. Erstmals gelingt uns heute ei- ne methodische Zusammenschau anamnestischer, klinischer, patho- anatomischer und biographischer Befunderhebungen. Erstmals ste- hen uns hier die für einen derartig komplexen Untersuchungsgang ge- eigneten Methoden und epidemiolo- gischen Modelle zur Verfügung.

Wenn es stimmt, daß die „großen künstlichen Seuchen" durch den Menschen selbst erzeugt werden, so müssen wir uns als Ärzte fragen:

Was bewegt ihn, sie selbst zu erzeu- gen? Und hier dürfte eine Rück- schau auf die alten diätetischen Re- geln menschlicher Lebensführung ein gewisser Wegweiser zu gesun- derem Leben sein. Freilich werden wir uns darum bemühen müssen, deren Grundprinzipien in die Spra- che unseres eigenen modernen Denkens zu übertragen.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Wolfgang Jacob Abteilung für Arbeits- und Sozialhygiene und Gesundheitsplanung am Klinikum der Universität Heidelberg

Im Neuenheimer Feld 368 6900 Heidelberg 1

ZITAT

Schwerfällige Verwaltung

„Krankenhäuser ab etwa 600 Betten sind zunehmend schwerer zu verwalten. Sie laufen Gefahr, unpersönlich für Patienten und Mitarbeiter und in Bau und Betrieb un- verhältnismäßig teuer zu sein. Krankenhäuser dieser Größenordnung sollten da- her nur noch in begründeten Ausnahmefällen gebaut wer- den."

Dr. phil. Norbert Blüm, MdB, in: „Mehr Humanität im Krankenhaus. Eine Problem- analyse der CDU"

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