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Archiv "Hessen: Das Kind wird abgeschoben" (31.01.1980)

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Aufsätze -,Notizen

AUS DEN BUNDESLÄNDERN

teilnehmen konnte). Muschallik nannte die KV und die KZV Bay- erns „nicht nur einen entschei- denden Wegbereiter, sondern auch einen stabilen Weggefähr- ten", der — bei aller Eigenständig- keit — in enger Verbindung mit al- len Kassenärzten in der Bundesre- publik Deutschland stets für die Freiberuflichkeit des Kassenarztes und für die Erhaltung der geglie- derten deutschen sozialen Kran- kenversicherung eingetreten sei.

Für die Zukunft erklärte Muschal- lik: „Insbesondere wird die politi- sche Entscheidung von grund- sätzlicher Bedeutung sein, ob die achtziger Jahre sich hinwenden zu mehr Freiheit und Eigenverant- wortung des einzelnen Menschen, wie wir sie auch zukünftig für eine aktive Gesundheitspolitik befür- worten, oder aber zu umfassenden kollektivistischen Systemen."

Gesundheit sei heute nicht nur ein individueller, sondern zugleich auch ein gesellschaftlicher Wert ersten Ranges, sagte Muschallik.

Deshalb sei der Kassenarzt ein Ga- rant sozialer Freiheit. Dies gelte in besonderer Weise auch ange- sichts der zunehmenden „Pro- grammierung und Verdatung" un- serer Gesellschaft. Angesichts der Trends zu planwirtschaftlichem Denken, zur Zentralisierung der Entscheidungsbefugnisse und der Leistungserbringung dürfe man deshalb nicht müde werden, dar- auf hinzuweisen, daß Gesundheit nicht von Staats wegen verordnet werden kann und daß man Le- bensqualität, Chancengleichheit und Gerechtigkeit niemals durch Zentralisierung und Bürokratisie- rung erreiche.

Der Vorsitzende der Kassenärztli- chen Vereinigung Bayerns, Prof.

Dr. Hans Joachim Sewering, erin- nerte an die große Verantwortung der Kassenärzte: Die Ärzte seien eine zahlenmäßig kleine Gruppe der Gesellschaft, die Kassenärzte machten nicht einmal die Hälfte der Ärzte insgesamt aus. Nachdem jedoch weit mehr als 90 Prozent der Bürger den Schutz der gesetz-

lichen Krankenversicherung ge- nießen, habe sich der gesetzliche Sicherstellungsauftrag letztlich zur Sorge um das gesundheitliche Wohl der Gesamtbevölkerung er- weitert. Dabei bleibe aber den Bür- gern gegenüber eine gut organi- sierte ärztliche Versorgung immer nur ein Angebot: wenn heute der vermeintliche Anspruch auf Ge- sundheit zunehmend wie ein ver- brieftes Grundrecht ohne eigene Leistung verstanden werde, dann müsse man daran erinnern, daß der monatliche Krankenkassen- beitrag, der dem Bürger den Zu- gang zur Medizin sichert, ihn an- dererseits nicht von der Verant- wortung vor sich selbst und sei- nen Mitmenschen entbinde.

Als Leitlinien der Arbeit kassen- ärztlicher Selbstverwaltung auch für die Zukunft nannte Professor Sewering:

„Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen, gleichmäßigen am- bulanten ärztlichen Versorgung, soweit dies in unserer Macht liegt;

Ständige Bereitschaft für den hil- fesuchenden Patienten auch durch Ausbau eines lückenlosen Notfall-Bereitschaftsdienstes;

Diagnostik und Therapie entspre- chend den Erkenntnissen der Me- dizin, verbunden mit menschlicher Aufgeschlossenheit für jeden Mit- bürger;

Selbstverwaltung der Kassen- ärzte;

Gemeinsame Selbstverwaltung mit den Vertragspartnern, wo sie notwendig ist;

Vertragsfreiheit bei voller An- erkennung der verbindlichen Schlichtung;

Konstruktive Zusammenarbeit zwischen Kassenärzten und Kran- kenkassen zur Erfüllung der uns gemeinsam übertragenen Aufga- be und zum Wohle der uns anver- trauten Versicherten und Patien- ten." gb

HESSEN

Das Kind

wird abgeschoben

Ärzte und Lehrer

beim Bad Nauheimer Gespräch Ärzte, Pädagogen und Politiker fanden sich auf Einladung der Landesärztekammer Hessen zum V. Bad Nauheimer Gespräch zu- sammen, um über das Kind in der Gesellschaft und über Fragen der Bildungs- und Schulpolitik zu dis- kutieren. Sie wollten damit, so der Präsident der Landesärztekam- mer, Dr. Wolfgang Bechtoldt, Denkanstöße geben.

Zunächst wurden kritische Akzen- te gesetzt: Der Tübinger Kinder- psychiater Professor Dr. Reinhard Lempp rügte, daß die Schule eine Auslesefunktion übernommen ha- be, die ihr eigentlich nicht zuste- he. Sie vollziehe eine „qualitative Weichenstellung" für die Zukunft des Kindes. Man sollte auch Ge- biete bewerten, für die es bisher keine Noten gibt, zum Beispiel das Sozialverhalten. Lempps Frankfur- ter Fachkollege Professor Dr. Hu- bert Harbauer pflichtete ihm bei:

Der Lehrer sei nicht nur Wissens- vermittler, sondern auch Erzieher.

Es sei ein entscheidendes Glück oder Unglück, zu was für einem Lehrer ein Kind in der ersten Klas- se kommt. Die Ministerien müßten lernen, an die biologischen Ge- setzmäßigkeiten zu denken, denen ein Kind unterliegt. Dazu sollten Ärzte und Psychiater gefragt wer- den. Andererseits müsse der Arzt mehr über die Schule wissen: Vie- le Lehrer fühlten sich gegängelt, wenn Ärzte Vorschläge machen.

Lehrer und Eltern blieben nicht von Kritik verschont. Der Beige- ordnete des Landeswohlfahrts- ausschusses Hessen, Dr. Peter Barkey, fragte, ob es nicht auch verhaltensgestörte und „lehrbe- hinderte" Lehrer gebe. Man hänge die Vorwürfe immer am schwäch- sten Glied auf, am Kind. Die SPD- Landtagsabgeordnete Dr. med.

278 Heft 5 vom 31. Januar 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(2)

Eheschließungen, Lebendgeborene, Gestorbene, und Geborenen- und Gestorbenenüberschuß bis zum Jahr 2000

50 1900 50 2000

Phase Voo 50

45 40 35 30 25 20 15 10 5 0

1815

II. Phase III. Phase IV. Phase

50 ./o0 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0

Quelle: „Die Lage der Familien in der Bundesrepublik Deutschland - Dritter Familien- bericht -", Bericht der Sachverständigenkommission der Bundesregierung, 5.106

Der Geburtenrückgang stellt die Gesellschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Jahrzehnten vor schwierige Probleme. Der sogenannte generative Faktor, also die Geburtenhäufigkeit, hat die bishe- rige rückläufige Geburtenentwicklung in der Bundesrepublik mit dem aus- schlaggebenden Gewicht von etwa 70 Prozent bestimmt. Bevölkerungswis- senschaftler führen den Geburtenrückgang auch auf die Wohlstandsorien- tierung der Familien, die Emanzipation der Frau, kinderunfreundliche Wohn- verhältnisse, die begrenzten familienpolitischen Maßnahmen und die Ver- breitung von Antikonzeptiva sowie auf die gestiegene Zahl der Abtreibungen zurück iwd/DÄ

AUS DEN BUNDESLÄNDERN

dent. Haidi Streletz meinte, die Er- wartungshaltung der Eltern spiele ein große Rolle. Dabei gehe es den Eltern nicht um Bildungsinhalte, sondern um den sozialen Status, der als Folge der Ausbildung er- hofft wird. Eine solche Elternhal- tung wirke sich auf Lehrer und Schüler aus.

Der Vorstand des Deutschen Schulärztlichen Instituts in Peters- berg-Fulda, Prof. Dr. med. Dr.

theol. Johannes Meinhardt, gab zu bedenken, daß der Philologe die Schule anders sieht als der Arzt.

Er beklagte die „unerträgliche Verwissenschaftlichung" der Schule, die bis in die untersten Klassen reiche. Die Schule sei aber kein Zubringer für andere, sondern habe eigenständige Auf- gaben. Um diese zu erfüllen, brau- che sie Ruhe. Es sei unerträglich, daß ständig „von draußen herein- geredet" werde. Man solle sich in den Ministerien nicht auf die Schulform, sondern auf die Schü- ler konzentrieren. „Wir wären glücklich, wenn anerkannt würde, daß Schüler-Sein ein Beruf ist wie Lehrer-Sein und daß man dabei krank werden kann." Ärzte und Lehrer mit entsprechender Sach- kenntnis müßten zum Wohl des Kindes zusammenarbeiten.

Auftakt des Gespräches war ein Referat Professor Lempps mit dem Titel „Das Kind in unserer Ge- sellschaft — ein Sozialfall?" Wie Lempp bald erkennen ließ, war dieser Titel für ihn keine rhetori- sche Frage, sondern eine Feststel- lung. Die isolierte Kleinfamilie, meinte er, sei immer weniger in der Lage, den Schutz des Kindes zu gewährleisten, was dazu führen müsse, daß außerfamiliäre Ein- richtungen diesen Schutz mittra- gen und verantworten müßten. Die Gesetze für den Schutz der Kinder erinnerten ihn fatal an Gesetze für Behinderte, Gestörte und sozial Schwache. Schutzbedürftigkeit festzustellen bedeute auch eine Einschränkung der Selbständig- keit, Freiheit und Selbstverantwor- tung; Schutz sei immer auch Ent- mündigung.

Gesetze zum Schutze der Jugend, gegen Kinderarbeit, gegen Aus- nutzung und Ausbeutung haben nach Lempp auch den Nebenef- fekt, daß die Kinder von der Ar- beitswelt, vom Leben der Erwach- senen ferngehalten würden. Damit werde auch die Tendenz legiti- miert, die Kinder abzuschieben dorthin, wo sie die Erwachsenen nicht bei der Arbeit stören damit die Arbeit noch effektiver wird. In Lehrwerkstätten arbeiteten die Ju- gendlichen „ins Unreine", nur zur Übung, ohne Teilnahme an der Tä- tigkeit der Erwachsenen. Kinder wüchsen nicht mehr in tätiger Mit- hilfe in die Welt der Erwachsenen hinein wie in der vorindustriellen

Gesellschaft, sondern würden in abgetrennten Bereichen darauf vorbereitet, und zwar überwie- gend theoretisch. Die Eingliede- rung in die Gesellschaft werde da- durch erschwert und in die Länge gezogen. Daß die Bundesbahn verbilligte Fahrkarten nicht nur bis zum 25., sondern jetzt bis zum 27.

Lebensjahr ausstellt, mache diese Entwicklung an einem kleinen Bei- spiel deutlich. Das Kind, der Ju- gendliche gerate immer mehr in eine Außenseiterrolle, werde schutzbedürftig und isoliert — mit einem Wort: zum Sozialfall. Ärzte, Politiker und alle verantwortlichen Bürger müßten sich die Frage stel- len, ob das so weitergehen soll. pp

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 5 vom 31. Januar 1980 279

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