U
m wettbewerbsfähig zu bleiben, haben die gro- ßen Pharmakonzerne in den letzten Jahren viel Geld in die Forschung investiert. Ziel war es, möglichst viele Mo- leküle zu entdecken, die sich zu Medikamenten weiterent- wickeln lassen. Investitionen, die sich doppelt auszahlten:Zum einen prognostiziert eine Studie der Unternehmensbe- ratung Andersen Consulting*, dass sich die Zahl der verfüg- baren Moleküle in den kom- menden Jahren mindestens verdreifachen wird. Zum an- deren belebten die For- schungsaktivitäten die Kurs- fantasien der Börsianer, was die Pharmatitel in die Höhe trieb und so die Aktionäre zu- frieden stellte – im Sinne des Shareholder-Value-Ge- dankens der wichtigste Maß- stab für Unternehmenserfolg.
Neues Geschäftsmodell Das Problem: Es kostet ein Pharmaunternehmen durch- schnittlich rund 300 Millionen US-Dollar, ein Molekül zu ei- nem Medikament weiterzu- entwickeln. Wollte eine Firma alle entdeckten Moleküle zur Marktreife bringen, käme es zu einem deutlichen Kosten- anstieg. Experten schätzen, dass der Anteil der Entwick- lungskosten am Umsatz von
zehn auf 17 Prozent steigen würde. Das wäre auch für die finanzstarken Pharmakonzer- ne nicht zu bezahlen. Ander- sen Consulting empfiehlt den Unternehmen deshalb, ihr Geschäftsmodell grundsätz- lich neu auszurichten, und nennt fünf strategische An- satzpunkte zur Steigerung der Produktivität:
❃Patienten- statt Kunden- orientierung: Eine stärkere
Ausrichtung an den Bedürf- nissen der Patienten ist nach Meinung der Unternehmens- berater unumgänglich. Dazu gehöre ein integratives medi- zinisches Angebot, das auch die Bereiche Diagnostik, Ge- sundheitsberatung und Pro- phylaxe umfasse. „Der Pati- ent will mehr als nur eine Pil- le. Das Pharmaunternehmen der Zukunft muss ständig mit seinen Kunden in Kontakt sein, um sie zu verstehen. Da- zu gehören Service und Le- benshilfe rund um Krank-
heitsbilder wie Diabetes“, meint Michael Schwörer von Andersen Consulting.
❃Eine aktivere Rolle des Patienten bei der Medika- mentenentwicklung: Erfah- rungen zeigen, dass Patien- tengruppen (wie zum Bei- spiel Multiple-Sklerose-Kran- ke) großen politischen Druck auf Medikamentenherstel- ler und Zulassungsbehörden ausüben können, wenn es
darum geht, neue Wirkstoffe schneller auf den Markt zu bringen – auch, wenn es sich dabei überwiegend um Medi- kamente für ein spezielles Krankheitsbild und nicht mehr um traditionelle „block- buster“-Arzneien handelt.
Durch direkte Kommunikati- on mit den Patienten könnten die Unternehmen, Andersen Consulting zufolge, früher neue Märkte identifizieren und erschließen. Der Patient profitiere durch gestaffelte Zulassungsverfahren, günsti-
gere Medikamente und schnelle Einbeziehung in kli- nische Tests. Eine wichtige Rolle spiele das Internet, über das sich die Patienten über neue Therapien und lau- fende Entwicklungen infor- mieren, sich aber auch als Probanden für klinische Tests anbieten könnten.
❃Ein globales Wissensma- nagement: Die Unterneh- mensberater prognostizieren den Firmen deutlich sinkende Informationskosten infolge des globalen Wissensaustau- sches. Es sei deshalb entschei- dend, sich zu „lernenden Or- ganisationen“ mit kurzen Entwicklungszeiten und ho- hen Trefferquoten in den vor- klinischen Tests weiterzuent- wickeln. In die neuen welt- weiten Informationsplattfor- men sollten außer den Her- stellerfirmen auch Univer- sitäten und Forschungsinsti- tute, Ärzteverbände sowie Zulassungsbehörden inte- griert werden. Patienten-Fo- ren, Datenbanken und Test- Archive im Internet erlaub- ten darüber hinaus eine effizi- entere Abwicklung von Stu- dien und Projekten.
❃Eine bessere Kooperati- on mit den Zulassungsbehör- den: In der Zusammenarbeit mit den Zulassungsbehörden empfiehlt Andersen Consul- ting eine ausgeprägte Koope- rationsstrategie. Durch frühe Einbindung in laufende Ent- wicklungsverfahren könne die Frist für eine erste be- grenzte Zulassung eines neu- en Medikaments von bisher durchschnittlich fünf bis sie- ben auf drei bis vier Jahre ge- senkt werden. Mit einem gestaffelten Zulassungsver- fahren für bestimmte Patien- tengruppen und einheitlichen Zulassungsstandards ließe sich die „time to market“ zu- sätzlich verkürzen.
❃ Prozessoptimierung bei der Medikamentenentwick- lung: Auch innerbetriebliche Verbesserungen des Entwick- lungsprozesses versprechen kürzere Entwicklungszeiten für die Medikamente, wenn dadurch weniger unnötige Daten erhoben werden müs-
sen. Jens Flintrop
V A R I A
Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 39½½½½29. September 2000 AA2545
Medikamentenentwicklung
Experten empfehlen neue Strategien zur schnelleren Marktreife
Shareholder-Value-Interessen setzen die Pharmaunternehmen
zunehmend unter Leistungsdruck. Nach hohen Forschungsinvestitionen in den Vorjahren gilt es nun, die Entwicklungszeiten zu reduzieren.
Grafik
* „Speed To Value – Delivering on the Quest For Better Medicines“, Andersen Consulting, 2000. Teilnehmer der Studie:
Bristol-Myers Squibb, Glaxo Wellcome, Merck, Novartis, Pfizer, Hoffmann-La Ro- che, SmithKline Beecham, Federal Food
& Drug Administration (FDA, die US- amerikanische Zulassungsbehörde) und Medical Control Agency (MCA, die briti- sche Zulassungsbehörde).
Enge Kooperationen mit den Zulassungsbehörden versprechen kürzere Zulassungszeiten für die Medikamente.
Wirtschaft