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Archiv "„Ich brauchte einen Menschen, den ich anfassen konnte“" (20.06.1986)

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„Ich brauchte einen Menschen, den ich anfassen konnte"

Paul Anker Jensen

Rollenwechsel kann nützlich sein. Wenn der Arzt die Rolle des Pa- tienten einnimmt, wird er nicht nur nützliche Beobachtungen ma- chen, sondern den Rollenwechsel auch als eine schmerzhafte Er- kenntnis erleben: vom Kopfkissen sieht alles anders aus. Zurück in seiner Berufsrolle, wird der Arzt nicht umhinkönnen, den Patien- ten und den Krankheiten auf andere Weise zu begegnen: mit Hin- tergrund seiner eigenen Erlebnisse. Der Verfasser ist ein Arzt aus Norwegen. Sein Bericht wurde von ihm selbst übersetzt und re- daktionell nur geringfügig bearbeitet.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

THEMEN DER ZEIT

Als Arzt war ich nie ernstlich krank gewesen. Aber während der Stu- dienzeit hatte ich mehrere Monate in einem Tuberkulosesanatorium verbracht. Da lernte ich etwas ken- nen, was ich Patientenpsycholo- gie nennen möchte, ein Begriff, den ich in meiner Studienzeit nie- mals gehört hatte.

Als ich 57 Jahre war, wurde ich in- dessen plötzlich krank. Bei einem Verkehrsunfall zog ich mir eine Commotio Cerebri und eine Fe- murfraktur zu. Nach einigen Ta- gen wurde auch eine Darmruptur entdeckt. In der Zwischenzeit war ich in einen Respirator gelegt wor- den. Ich habe nur teilweise Erinne- rung an diese dramatische Zeit.

Meine Erlebnisse in der Rolle des Patienten begannen erst richtig, als ich meine Augen aufschlug und die Hand meiner Frau in der meinen fühlte. Meine Frau wirkte verkleidet und fast unkenntlich.

Ein Arzt und eine Krankenschwe- ster standen auch da. Von Fla- schen tropfte Flüssigkeit in meine Adern. Mein Bein lag geschient in einem Streckbett. Durch Nase und Kehle führten Schläuche in meine Lungen. Eine Maschine atmete für mich. Ich konnte nicht reden. Ich versuchte, die Gedanken meiner neuen Rolle auf Papier zu bringen.

Mein Kopf war voll von Fragen. Ich vermochte aber nur wenige Worte niederzuschreiben. Meine Frau und ich wurden im Zimmer allein- gelassen. Sie ist Krankenschwe- ster. Sie verstand meinen Gedan- ken, daß ich eine Erklärung dar- über brauchte, was mit mir pas- siert war. Ihr war es anvertraut, mir dies mitzuteilen. Sie verstand es, beim Erzählen behutsam zu sein.

Kleine Bruchstücke setzte ich zu einem Bild meiner Situation zu- sammen. Das eine Bein war gebro- chen. Ich hatte über meinen Ma- gen geklagt. Nach mehreren Ta- gen wurde entdeckt, daß er einge- rissen war. Dann versagten die Lungen, und ich verlor das Be- wußtsein. Zweimal hatten sie mich operiert. Nun wurde ich künstlich am Leben gehalten. Ich konnte nicht sprechen, schrieb aber auf ein Papierstück.

Die Maschine hinter meinem Bett, der Respirator, spielte eine zentra- le Rolle in meinem Dasein. Ich be- trachtete ihn als einen lebensret- tenden Freund, aber gleichzeitig auch als einen Feind, der mich ge- fangen hielt. Ich wurde von Wärme geplagt, und das Atmen fiel mir schwer. Ich wurde unruhig und kam mit dem Respirator aus dem Takt. Ein paar Krankenschwestern

kamen herein und halfen mir mit dem Atmen. Sie untersuchten die Schläuche und stellten an der Ma- schine. Sie wechselten Flaschen und Beutel. Bisweilen kamen meh- rere Krankenschwestern gleich- zeitig; ein Arzt war auch dabei. Ich begriff, daß sie den Respirator ausschalteten, und erschrak zu Tode. Eine von ihnen sagte: „Ich werde dich „baggen" (von dem englischen Wort „bag" abgelei- tet). Mir kam es vor, als ob sie ge- sagt hätte, sie werde mich „ber- gen", und ich erschrak noch mehr. Mit einem Ballon blies sie mir ins Gesicht, und ich wurde ru- higer. Aber bald meldete sich wie- der die Angst. Während sie meine Lungen absaugten, sprachen sie von Teilen, die nicht zusammen- paßten. Sie machten mehrere Ver- suche, und ich bekam mehr von dem Inhalt des Ballons. Auf diese Weise gestaltete sich das Saugen;

mir graute es jedesmal, wenn ich verstand, daß sie wieder damit an- fangen sollten.

Am Tage geschah fast die ganze Zeit etwas. Ich lag allein im Zim- mer, aber die Krankenschwestern kamen und gingen immerfort. Sie sahen zu, daß alles perfekt funk- tionierte, und sie kontrollierten die technischen Geräte. Die Ärzte sag- ten nicht viel. Ich schnappte ein Wort auf, welches ich sehr fürch- tete: „seponieren". Ich hatte Angst, dies bedeute, daß sie mich aufgaben. Mein besonderer Kon- takt war die Krankengymnastin.

Wenn sie mir auch größere Schmerzen zufügte als diejenigen, die mir die Lungen absaugten, gab sie mir beim Arbeiten ein aufmun- terndes Lächeln, jedesmal, wenn es mir gelang, genügend zu hu- sten. Wir arbeiteten zusammen.

Das Ringen

in meinem Inneren vermochte ich niemandem mitzuteilen Die Belastungen nahmen zu. Die Isolation war erstickend. Es war begrenzt, was ich auf dem Papier auszudrücken vermochte. Am häufigsten schrieb ich von Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 25/26 vom 20. Juni 1986 (33) 1843

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Arzt als Patient

Schmerzen. Aber das Schlimmste, das Ringen in meinem Inneren, vermochte ich niemandem mitzu- teilen. Ich war unruhig und fürch- tete mich vor dem Alleinsein. Sie gaben mir Spritzen, damit ich schlafen könne. Aber auch vor dem Schlafen hatte ich Angst. Der Schlaf, nach welchem ich mich so sehr sehnte, wurde auch mein Feind. Er gab mir böse Träume, Träume von dem Tod. Ich konnte die Einsamkeit nicht ertragen. Ich mußte jemanden in meiner Nähe haben, eine Person, die mir die ganze Zeit nahe war. Auch wenn ich die Augen zumachte.

Keiner meiner Pfleger konnte mir das Gefühl der Nähe vermitteln.

Medikamente konnten den Bedarf an Kontakt nicht reduzieren. Ich brauchte einen Menschen, den ich anfassen konnte, der mir die Kraft verleihen konnte, die Leiden aus- zuhalten, und der mich glauben

machen konnte, daß ich leben würde. Ich begann zu überlegen.

Was sprach dafür und was dage- gen? War das Leben all' die Lei- den wert, die sie mir zufügten?

Hatten sie das Recht, mich mit Iso- lation zu quälen und alle künst- lichen Mittel in Anspruch zu neh- men, um mich am Leben zu hal- ten? Könnten sie mich nicht lieber in Ruhe lassen? Ich könnte die Schläuche abreißen; aber bei die- sem Gedanken erschrak ich noch mehr.

Krankenschwestern kamen und gingen. Sie kontrollierten die In- strumente. Es herrschte drücken- de Stille. Arztvisite fand statt. Ich befand mich auf der vordersten Bank im Krankenhaushörsaal. Ich wurde examiniert und beantworte- te auf meinem Papierstück die mir gestellten Fragen. Sie nickten und meinten, ich sei tüchtig. Ich mach- te die Augen zu und ahnte über mir ein hohes Gewölbe. Ich lag in einer großen Halle. Hinter mir hör- te ich den Lauf des Respirators;

mir schien es, als wäre es der Lauf eines Dampfers. Bisweilen kam mir der Lauf wie Brandung am Strand im Sommer vor. Das Ge- wölbe über mir leuchtete in allen

Farben des Spektrums, und sie wechselten immerfort. Dabei fühl- te ich etwas Schönes, aber auch etwas Unheimliches. War dies der Tod?

Ich dachte über mein Leben nach.

Das Zusammenleben mit meiner Frau war so kurz. Wir hatten ein Haus gebaut. Wir hatten zusam- men gearbeitet. Unsere Tage wa- ren nur gut gewesen. Das Leben war wie ein Abschnitt eines gro- ßen Buches. Nun war es zu Ende.

Ich wurde damit vertraut, daß alles vorbei war. Frieden senkte sich über mich. Ich versuchte zu beten, es gelang mir aber nicht. Ich las in mir selbst: Vater unser ...

Ich erwachte dadurch, daß eine Krankenschwester meine Hände hielt. Eine andere kaum auch her- beigeeilt. Ich griff nach meiner Fe- der und schrieb auf das Papier- stück: Gudrun. Ich kämpfte mit dem Atmen. Eine Schwester blieb bei mir sitzen. Ich konnte aber kei- ne Ruhe finden. Das bemerkten sie. Meine Frau wurde geholt. Sie kam jeden Abend und saß in der Nacht an meinem Bett. Von ihrem Stuhl aus reichte sie mir die Hand.

Ich ergriff sie und behielt sie in der meinigen, bis ich einschlief, und fand sie da wieder, jedesmal wenn ich die Augen aufmachte.

Auf diese Weise durchlebte ich die Nächte im Respirator. Meine Frau war es, die mir das Gefühl der Ge- borgenheit gab, welches mir die anderen mit ihren Spritzen und ih- rem Perfektionismus nicht hatten beibringen können. Sie war es, die erfuhr, was hinter der Bühne des Dramas vorging; sie erfuhr von der Hitze, den Schmerzen, dem Ab- saugen und der Angst, wenn sie den Respirator ausschalteten und mit den Bestandteilen desselben hantierten.

Aber das Schlimmste, den Tod, vermochte ich nicht zu erwähnen.

Meine Gedanken darüber verriet ich niemandem, nicht einmal ihr.

Vielleicht war sie zu nahe. Es wäre vielleicht leichter gewesen, einem Fremden, der mir nur etwas nahe

stand, dies zu erzählen. Aber nie- mand kam. Später erfuhr ich, daß ich an eine Krankenschwester ge- schrieben hatte: Es wird wohl Mors. Ich habe meine Papierstük- ke aufbewahrt, aber dies habe ich nicht finden können. Erschrak sie auch? Verlor sie ihr Selbstvertrau- en? Geschah etwas, als der Tod erwähnt wurde?

Ich weiß nicht, wie ich aus dem Respirator kam. Während einer Übergangszeit war ich durch eine Tracheostomie angehängt. Die Isolation war gebrochen. Ich fühl- te ein starkes Bedürfnis, mit je- mandem sprechen zu können, und ich erinnere mich eines jungen Arztes, der viel Zeit darauf verwen- dete, mir zu lauschen.

Dann kam eine Reaktion. Ich wur- de gastroskopiert. Sie fanden ein blutendes Geschwür. Mir wurde Blut gegeben, und mir wurde wie- der besser. Eine sehr langsame Genesung trat ein, von mehreren Rückschlägen unterbrochen, von denen eine Ileusoperation der ern- steste war. Dreieinhalb Monate nach dem Aufenthalt in der Inten- sivabteilung wurde ich entlassen — mit Krücken.

Ich kam den Patienten jetzt auf andere Weise als früher näher

Neun Monate nach dem Unfall trat wieder der Rollenwechsel ein. Der Patient war wieder Arzt und stand wieder an einem Krankenbett, nachdem er lange selbst darin ge- legen hatte. Meine Erlebnisse wa- ren bei weitem noch nicht gereift.

Die erste Zeit arbeitete ich täglich nur einige Stunden in einem Kran- kenhaus. Ich fühlte mich unsicher und hatte mein Selbstvertrauen verloren. Ich wurde ermuntert und gestützt von Mitarbeitern, die ich viele Jahre gekannt hatte. Lang- sam spürte ich, daß die Kräfte zu- nahmen und daß die Fähigkeiten ausreichten. Bald merkte ich aber, daß ich den Patienten und deren Krankheiten auf andere Weise als früher entgegenkam.

1844 (34) Heft 25/26 vom 20. Juni 1986 83. Jahrgang Ausgabe A

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Arzt als Patient

Meine Krankheitserlebnisse waren mir noch nahe. Deshalb wurde es natürlicher, die Situation anderer Menschen mitzuerleben, den Pa- tienten auf gleicher Stufe zu be- gegnen. Diese Einlebungsfähig- keit zeigte sich besonders, wenn ich Patienten mit unheilbaren Krankheiten gegenüberstand, Menschen, von denen ich wußte, daß sie dem Tod entgegengingen.

Die Gedanken an sie folgten mir ununterbrochen; ich fühlte, daß ich ihnen nahe sein mußte. Ich stand an manchem Todesbett mit der Hand des Patienten in der mei-

nen, und ich war aufs tiefste er- griffen, wenn ich dann an mein eigenes Ringen mit dem Tod dachte.

Allmählich glitt ich natürlich in meine gewohnte Arbeitssituation ein. Ich freute mich darüber, wenn ich bei schwierigen Aufgaben Er- folg hatte. Ich wurde indessen auch leicht entmutigt, wenn etwas nicht klappte. Etwas mit meiner Stabilität war nicht in Ordnung. Ei- nige Spätbeschwerden nach den Verletzungen brachten mich wie- der ein paarmal ins Krankenhaus zurück und trugen dazu bei, daß

die Verarbeitung meiner Erlebnis- se verzögert wurde.

In den vergangenen Jahren habe ich durch Begegnungen mit Inten- sivpflegern aus dem ganzen Land beträchtliche Aufmunterung er- halten. Sie haben mich zu ihren Kursen eingeladen, damit ich ih- nen von meinem Aufenthalt in der Intensivabteilung erzählen sollte.

Dies habe ich sehr geschätzt;

denn es hat mir gut getan, ihnen meine Erlebnisse mitteilen zu kön- nen. Gleichzeitig habe ich das Ge- fühl gehabt, daß ihnen meine Lei- den Erfahrungen vermittelt haben.

Meine beste Stütze ist indessen meine Frau gewesen. Sie hat bei allen Schwankungen wie ein Sta- bilisator gewirkt. Durch ihre Lei- stung in der Respiratorzeit erwies sie sich als eine gute Ehefrau und eine tüchtige Krankenschwester.

Mehrere Jahre sind nun seit dem Unfall vergangen. Aber noch spü- re ich, daß die Begegnung mit dem Tod im Grenzland nicht nur ein böser Traum gewesen ist. Die- se Begegnung muß mich natürlich geprägt haben, sie muß mir Spät- folgen zugeführt haben. Ich denke nicht an physische Beschwerden.

Gefühlsmäßig merke ich es noch.

Ich habe schon meine Reaktion sterbenden Menschen gegenüber erwähnt. Sie spiegelt ein näheres Verhältnis zu leidenden Menschen wider. Der Kontakt mit den Patien- ten kommt leichter zustande.

Mir scheint das Leben ernster. Ich freue mich über weniger. Ich bin für neue Impulse aufnahmefähi- ger. Ich kann weinen beim Klang eines schönen Konzerts. Die Trä- nen sitzen mir auch lockerer, wenn ich traurig bin. Ich habe Bal- last verloren. Als Hintergrund für alle Eindrücke, die ich empfange, und für alles, was ich erlebe, habe ich ein Bild: Ein Krankenbett mit einem Menschen, der nicht spre- chen kann, mit einem Bein im Streckbett, und hinter dem Bett ei- ne Maschine, die immerfort sagt — puff-saug — Leben — Tod. Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 25/26 vom 20. Juni 1986 (37) 1845

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