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Archiv "Neue Impfstrategie gegen Poliomyelitis: Lebend-Vakzine oder Inaktivierte Vakzine?" (17.10.1997)

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D

ie Poliomyelitis ist durch akut auftretende, asymmetrische, schlaffe Lähmungen charak- terisiert. Seit dem 19. Jahr- hundert traten regelmäßig Epidemien auf, und noch 1961 waren in Deutsch- land 4 461 Poliomyelitis-Erkrankun- gen und 305 Todesfälle registriert worden. Im Jahre 1955 wurde die in- aktivierte Poliovirus-Vakzine (IPV) nach Salk eingeführt. Bereits 1960 hatte man in Berlin (West) mit den attenuierten Poliovirus-Impfstäm- men nach Cox geimpft. Zeitgleich mit der Einführung der oralen Poliovi- rus-Lebend-Vakzine (OPV) nach Sa- bin im Jahre 1962 („Schluckimp- fung“) traten große Poliomyelitis- Epidemien in Deutschland nicht mehr auf (31, 32, 37, 38). Während ei- nige Länder auch nach Verfügbarkeit von OPV weiterhin IPV-Impfstoffe verwendeten, stellte die große Mehr- zahl ihr Impfregime auf OPV um (Ta- belle 1).

OPV-Impfstoffe sind preiswert und verfügen über eine ausgezeich- nete Akzeptanz in der Bevölkerung.

Ihr einziger – aber gravierender – Nachteil ist das Auftreten von „Vak- zine-assoziierter paralytischer Polio- myelitis“ (VAPP). Angesichts der Tatsache, daß Poliomyelitis-Fälle in Deutschland nicht mehr auftre- ten, sind solche impfstoffbedingten VAPP-Fälle schwer zu akzeptieren.

Man diskutiert daher, OPV wieder durch IPV zu ersetzen oder aber ein sequentielles IPV-OPV-Schema ein-

zuführen. In der vorliegenden Arbeit sollen Fakten zum Thema „IPV und OPV“ zusammengetragen werden, um eine Bewertung für Deutschland vornehmen zu können.

Mikrobiologie und Klinik

Polioviren gehören zum Genus der Enteroviren innerhalb der Fami- lie der Picornaviren. Es gibt drei ver- schiedene Serotypen, wobei die Im- munität typenspezifisch ist. Die Mehrzahl der Poliovirusinfektionen verläuft asymptomatisch. Bei ledig- lich fünf Prozent der Infizierten tre- ten unspezifische Symptome wie Fieber, Halsschmerzen und Kopf- schmerzen auf („minor illness“). Bei zirka jedem 60. bis 1 000. Infizierten wird danach eine „major illness“ mit Muskelschmerzen, Erbrechen und Meningismus beobachtet. Zwei Tage später können Muskelschwäche und das Leitsymptom der Poliomyelitis, asymmetrische, schlaffe Lähmungen mit erloschenen Muskeleigenrefle- xen, auftreten. Bei etwa einem Drit-

tel der Fälle persistieren die Läh- mungen lebenslang. Die Letalität bei Patienten mit „major illness“ lag in den 50er Jahren bei rund fünf bis zehn Prozent. Noch Jahre bis Jahr- zehnte nach einer Poliomyelitis tre- ten gelegentlich Verschlechterung des Allgemeinzustandes, Muskel- schwäche und Lähmungen auf („Post-Polio-Syndrom“) (4, 19, 43).

Die Pathogenese ist bisher nicht ge- klärt.

Impfstoffe gegen Poliomyelitis

Es gibt drei verschiedene Impf- stoffe gegen Poliomyelitis: Einen Le- bendimpfstoff (OPV) und zwei Tot- impfstoffe – IPV und die besser im- munogene eIPV (enhanced inactiva- ted polio vaccine). Alle heute auf dem Markt befindlichen IPV-Pro- dukte erreichen vergleichbar hohe Antikörper-Titer wie die eIPV. Die genannten Impfstoffe liegen jeweils in trivalenter Form vor und bieten Schutz vor den drei bekannten Polio- virus-Serotypen.

IPV/eIPV

Zur Produktion von IPV werden Polioviren der drei Serotypen auf Zellkulturen gezüchtet, konzentriert, gereinigt und durch Wärmebehand- lung und Formaldehyd inaktiviert.

Seit 1978 stehen Impfstoffe mit einem

Neue Impfstrategie gegen Poliomyelitis

Lebend-Vakzine oder Inaktivierte Vakzine?

Inka Leonhardt

1

Burghard Stück

2

Reinhard Fescharek

3

Cornelia Arras-Reiter

3

Heinz-Josef Schmitt

1

Durch rigorose Fallsuche und durch konsequente Anwen- dung der oralen Poliovirus-Lebend-Vakzine nach Sabin (OPV) konnten 1994 Nord- und Südamerika „poliovirus- frei“ erklärt werden. Der letzte Fall einer Poliomyelitis war 1991 in Peru diagnostiziert worden. Das Ziel der Welt- gesundheitsorganisation, das Poliovirus bis zum Jahre 2000 weltweit zu eradizieren, war damit einen entschei- denden Schritt näher gerückt. Einziger, aber gravierender

Nachteil der OPV: Sehr selten kommt es bei Geimpften oder bei Kontaktpersonen zu Lähmungen, die klinisch von einer Poliomyelitis durch Wildviren nicht zu unterscheiden sind. Angesichts des nunmehr fast vollständigen Fehlens von Poliomyelitis-Erkrankungen in vielen Staaten der Erde sind Fälle impfstoffbedingter Lähmungen kaum akzepta- bel. Es stellt sich die Frage: Sollen wir künftig nur noch in- aktivierte Poliovirus-Vakzine nach Salk (IPV) anwenden?

1Bereich Pädiatrische Infektiologie der Klinik für Allgemeine Pädiatrie (Direktor: Prof. Dr.

med. J. Schaub), Christian-Albrechts-Univer- sität zu Kiel

2 Abteilung für Allgemeine Pädiatrie am Charité-Virchow-Klinikum (Leiter: Prof. Dr.

med. G. Gaedicke), Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin

3 Chiron Behring Arzneimittelsicherheit (Lei- ter: Dr. med. Fescharek), Marburg

(2)

höheren Antigen-Gehalt (eIPV) zur Verfügung, die eine bessere Immu- nität vor allem gegen den Serotyp III induzieren. Zur Grundimmunisie- rung werden zwei Dosen im Mindest- abstand von acht Wochen subkutan oder intramuskulär injiziert. Damit wird bei Säuglingen eine Serokonver- sionsrate von fast 100 Prozent gegen alle drei Typen erreicht. Ein langan- haltender Schutz entsteht

durch eine dritte Gabe im zweiten Lebensjahr. Auf- frischimpfungen werden im Abstand von zehn Jahren empfohlen. Die skandinavi- schen Länder sind durch die IPV- beziehungsweise eIPV-Vakzination inzwi- schen wahrscheinlich polio- virusfrei, wodurch belegt ist, daß auch IPV-Impfstof- fe das Wildvirus eradizieren können. Allerdings kam es in Finnland nach zwei Jahr- zehnten ohne einen einzi- gen Poliomyelitis-Fall zwi- schen August 1984 und Januar 1985 zu einem Po- liomyelitis-Ausbruch mit zehn Fällen (18).

OPV

Durch mehrfache Zell- passagen und Selektion von Mutanten mit vermin- derter Neurovirulenz wer- den attenuierte Polioviren der drei Serotypen gewon- nen, in Zellkulturen ver- mehrt und nach Aufarbei- tung als Lebendvakzine oral appliziert. Die Ge-

impften bilden daraufhin sowohl spezifisches IgG als auch sekretori- sches IgA, wobei die induzierte Schleimhaut-Immunität die Zirkula- tion von Polio-Wildviren in der Po- pulation inhibiert. Die zweimalige Gabe im ersten Lebensjahr und eine dritte Gabe im zweiten Lebensjahr führt gegenüber den Typen I und II zu einer fast 100prozentigen und ge- genüber dem Typ III zu einer 80- bis 90prozentigen Serokonversion. Wie- derholte Impfungen dienen vor al- lem dem Ziel, Schutz gegenüber al- len drei Serotypen zu induzieren.

Geimpfte Personen scheiden das

Impfvirus für sehr kurze Zeit aus dem Nasopharynx und für etwa drei bis sechs Wochen über die Faezes aus. Dadurch werden auch Kontakt- personen des Geimpften immuni- siert. OPV sollte nicht bei Patienten (oder deren Kontaktpersonen) mit schweren B- oder T-Zelldefekten an- gewendet werden, da dieser Patien- tenkreis gegenüber immunologisch

unauffälligen Personen ein bis zu 6 800fach erhöhtes VAPP-Risiko hat (22, 30). Es bleibt aber festzuhalten, daß auch Immunkompetente an VAPP erkranken können.

Vakzine-assoziierte paralytische Poliomyelitis

Die Vakzine-assoziierte paralyti- sche Poliomyelitits (VAPP) ist durch persistierende Lähmungen für einen Zeitraum von mindestens sechs Wo- chen gekennzeichnet (WHO-Defini- tion). Die Erkrankung kann nach

OPV-Gabe beim Geimpften selbst oder aber bei einer Kontaktperson auftreten. Die klinischen Symptome lassen sich nicht von denen nach ei- ner Wildvirus-Infektion unterschei- den. Ursache der VAPP ist mit großer Wahrscheinlichkeit das Vakzine-Vi- rus selbst (1). Das Risiko für eine VAPP ist im Vergleich zum Durch- schnittsrisiko nach erster OPV-Ap- plikation sieben- bis 21fach erhöht und nimmt mit je- der weiteren OPV-Gabe signifikant ab (30, 33). Ge- legentlich wird nach OPV- Applikation auch eine nur transiente Poliomyelitis beobachtet.

Bei Patienten mit schlaffen Lähmungen (Dif- ferentialdiagnose: Guil- lain-Barré-Syndrom) sollte frühzeitig der Versuch ei- ner Virus-Isolierung aus Stuhl, Liquor und aus Na- sopharyngealsekret erfol- gen. Die Identifizierung des ursächlichen Virus ist wichtig zur Beweisführung eines Impfschadens, aber auch zur Beurteilung der VAPP-Inzidenz und zur Dokumentation der Eradi- kation des Poliovirus (39).

Die Pathogenese der VAPP ist nicht gesichert.

Macadam et al. (24) iso- lierten Polioviren von VAPP-Patienten und von OPV-geimpften Gesun- den. Die virologischen Ei- genschaften der jeweiligen Isolate waren ähnlich, VAPP-Isolate waren aber signifikant temperaturempfindlicher als Polio-Wildviren. Durch Mutation in einem definierten Genbereich ließ sich diese Eigenschaft wieder aufhe- ben. Es wird spekuliert, daß die be- obachtete Mutation mit der Rückge- winnung der Neurovirulenz assozi- iert ist.

Georgescu et al. (13) verglichen Virus-Isolate aus dem ZNS von acht VAPP-Patienten mit deren Stuhl- Isolaten. Nicht in allen Fällen zeigte sich eine Übereinstimmung der Ge- nomstruktur der Viren, so daß eine große Variabilität angenommen wird. Polioviren aus dem Stuhl von Tabelle 1

Wildvirus- und Vakzine-assoziierte Fälle von Poliomyelitis

sowie Art der verwendeten Poliovakzine in Westeuropa 1985 bis 1996 (WHO-EPI-Data)

Anzahl der Fälle Vakzine

Staat Wildvirus VAPP

Belgien 3 1 OPV

Dänemark – – IPV, dann OPV

England 6 19 OPV

Finnland 1 – IPV

Frankreich 13 – IPV

Deutschland 14 12 OPV

Griechenland 5 2 OPV

Italien 1 3 OPV

Niederlande 71 – IPV

Norwegen 2 – IPV

Portugal – 1 OPV

Spanien 24 1 OPV

Schweden 1 – IPV

Schweiz 1 2 OPV

(3)

VAPP-Patienten sind demnach nicht repräsentativ für jene Polioviren, die aus dem ZNS derselben Patienten isoliert werden. Die Centers for Dis- ease Control in Atlanta (CDC), USA, geben eine VAPP-Frequenz von 1:750 000 Erstdosen bei Kindern an (30), die WHO gibt die VAPP- Häufigkeit bei Impflingen und Kon- taktpersonen mit weniger als 0,3 pro Million Impfdosen an (10). Für

Deutschland existieren Daten zu der von den Behringwerken zwischen 1964 und 1995 vertriebenen oralen Poliovakzine (23). Insgesamt wur- den 46 VAPP-Fälle dokumentiert.

27 Fälle traten bei Impflingen auf, acht Fälle entsprachen vom Verlauf her einer transienten Poliomyelitis, und in elf Fällen handelte es sich um eine Impfkontaktpoliomyelitis (Ta- belle 2, Grafik).

Nimmt man in einem konserva- tiven Ansatz an, daß etwa 85 Prozent der Impfdosen tatsächlich verimpft worden sind, so kann das Risiko ei- ner VAPP bei Geimpften mit blei- bendem Schaden auf etwa einen Fall pro 4,5 Millionen Impfungen (0,22 pro Million Impfungen) und bei Kontaktpersonen auf etwa einen pro 11 Millionen Impfungen (0,091 pro Million verimpfte Dosen) geschätzt werden. Das Risiko einer transienten Poliomyelitis betrug etwa ein Fall auf 15 Millionen Impfungen (0,066 pro Million Impfungen).

Das Gesamtrisiko für eine VAPP ist seit der Einführung der Schluckimpfung in Deutschland konstant geblieben. Derzeit werden pro Jahr ein bis drei Fälle registriert (ein Fall auf 3,5 Millionen Impfun- gen, entsprechend 0,285 Fälle pro Million Impfungen).

Ein Patient hatte in den Jahren 1959 und 1960 insgesamt drei Dosen IPV erhalten und dann im Jahr 1965

nach Gabe von OPV eine transiente Lähmung des linken Armes ent- wickelt.

Alle Patienten mit Impfkontakt- poliomyelitis lebten in engem Kon- takt mit dem Impfling. Sieben von elf der Betroffenen waren niemals ge- gen Poliomyelitis geimpft worden.

Drei der Patienten hatten eine in- komplette Schluckimpfung mit zwei Dosen eines bivalenten Impfstoffes (OPV Typ I und III) erhalten. Eine Patientin, die an einer schweren Hy- pogammaglobulinämie litt, hatte ein- malig einen monovalenten OPV- Impfstoff (Typ I) erhalten, gefolgt von vier Dosen trivalentem OPV in den Jahren 1962, 1963, 1964 und 1967. 1986 entwickelte sie eine Impf- kontaktpoliomyelitis. Zusammenfas- send ist festzuhalten, daß in Deutsch- land bei korrekt geimpften und im- munkompetenten Individuen seit Einführung der Schluckimpfung kein Fall einer Impfkontaktpoliomyelitis bekannt geworden ist.

In den USA lag die Anzahl der VAPP-Fälle seit 1965 über viele Jahre hinweg konstant bei acht bis zehn Fäl- len pro Jahr. Nach aktuellen Veröf- fentlichungen der CDC kam es aber in den letzten Jahren zu einer Abnah- me der VAPP-Fälle. Für 1994 wurde nur ein Fall und für 1995 kein Fall be- kannt (Tabelle 3) (29, 30, 40, 41). Der Rückgang der VAPP-Fälle in den USA ist auf verbesserte Labormetho-

den beziehungsweise frühere virolo- gische Fehldiagnosen zurückgeführt worden (40).

Strategien zur Reduktion von VAPP

IPV gefolgt von OPV

Für die USA empfiehlt das Ad- visory Committee on Immunization Practices (ACIP), Säuglinge im Alter von zwei und vier Monaten mit IPV zu impfen und dann im 12. bis 18. Le- bensmonat sowie im Alter von vier bis sechs Jahren jeweils eine Dosis OPV zu verabreichen (zweimal IPV, gefolgt von zweimal OPV). Aller- dings läßt die ACIP weiterhin auch die alleinige OPV-Gabe zu (nicht als Grundimmunisierung von Personen über 18 Jahren) wie auch die aus- schließliche IPV-Impfung (30). Die Empfehlung für das sequentielle IPV-OPV-Schema beruht auf zwei Tabelle 2

VAPP-Inzidenz in Deutschland 1965 bis 1995*)

Anzahl Geschlecht Melderate Durchschnittsalter Zeit bis Beginn Typ I Typ II Typ III Typ

Fälle (Jahre) (Tage) unbekannt

VAPP 27 18 m 1:4,5 Mio 13 16,2 1 5 11 10

Impfling 8 w (4 Monate–53 Jahre) (7–25)

1 ?

VAPP 11 6 m 1:11 Mio 29 33,3 0 5 5 1

Kontakt- 5 w (9 Tage–56 Jahre) (6–60)

person

Transiente 8 4 m 1:15 Mio 2,2 14,6 – – – –

Polio- 3 w (6 Monate–7 Jahre) (?)

myelitis 1 ?

Gesamt 46 28 m 1 10 16 11

16 w 2 ?

*) modifiziert nach Fescharek et al. (11)

(4)

Annahmen: Erstens sind bei rund 90 Prozent aller zweimal mit IPV vakzi- nierten Kinder spezifische IgG-Anti- körper gegen Polioviren im Serum nachweisbar. Dies legt nahe, daß auch ein Schutz gegen „disseminie- rende“ OPV-Viren und damit ein Schutz vor VAPP besteht.

Wird OPV erst im späteren Säuglings- beziehungsweise Klein- kindesalter appliziert, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß angebo- rene schwere B- und T-Zell-Defekte bereits diagnostiziert sind und daß diese VAPP-Risiko-Gruppe nicht mehr mit OPV geimpft wird.

Kohberger et al. berechneten, daß sich durch ein IPV-OPV-Schema bei gesunden Impflingen die VAPP- Inzidenz um 87 Prozent, bei gesunden Kontaktpersonen um 41 Prozent und bei Personen mit T- oder B-Zellde- fekten um 28 Prozent reduzieren ließe (22). Dies hätte eine Gesamt-Reduk- tion der VAPP-Fälle um 53 Prozent zur Folge. Bei maximal acht bis zehn VAPP-Fällen in den USA entspräche dies einer Reduktion um vier Fälle pro Jahr. Überträgt man die Zahlen direkt auf Deutschland, so wäre jähr- lich nur noch mit einem VAPP-Fall zu rechnen.

Es gibt aber keine Studie, die be- legt, daß dieser berechnete Effekt auch tatsächlich eintritt. Klinische Er- fahrungen mit der sequentiellen Gabe von IPV-OPV stammen aus den USA, Dänemark, Ungarn und von der Prin- ce-Edwards-Insel (Kanada). In den USA wurde Anfang der sechziger Jah- re IPV durch OPV ersetzt. Von De- zember 1961 bis Juni 1964 wurden im Rahmen dieser Umstellung 57 VAPP- Fälle beobachtet. 17 der VAPP-Pati- enten hatten mindestens noch eine, 15 weitere mindestens noch drei IPV-Do- sen vor der ersten OPV-Impfung er- halten (16). Diese Fallberichte doku- mentieren, daß auch bei Anwendung eines IPV-OPV-Schemas VAPP-Fälle auftreten können. Man muß allerdings berücksichtigen, daß die früher ver- wendete IPV weniger immunogen war als die heute ausschließlich verwende- ten neuen IPV-Impfstoffe.

In Dänemark werden seit 1968 insgesamt drei IPV-Dosen im Alter von 5, 6 und 15 Monaten appliziert, denen drei OPV-Gaben im Alter von zwei, drei und vier Jahren folgen. In

den vergangenen Jahren sind unter diesem Regime zwei VAPP-Fälle und ein importierter Polio-Fall (bei einem geimpften Dänen) beobachtet wor- den (26). In einer anderen Arbeit wird lediglich von einem VAPP-Fall (1969; Typ 3) und einem Fall von Wildpoliomyelitis (1976; Typ 1) be- richtet (5). Die 27jährige dänische Er- fahrung entspricht von der Größe der Population (4,5 Millionen) her aller-

dings nicht einmal einer einjährigen Erfahrung in den USA.

Es ist festzuhalten, daß in der wissenschaftlichen Literatur keine ge- sicherten Daten existieren, aus denen hervorgeht, in welchem Umfang ein IPV-OPV-Regime tatsächlich die An- zahl von VAPP-Fällen reduziert.

Prinzipiell können VAPP-Fälle auch unter IPV-OPV-Regimen vorkom- men. Nur die vollständige Umstellung von OPV auf IPV kann alle VAPP- Fälle vermeiden.

Alleinige Anwendung von IPV

Nachteile eines ausschließlich auf IPV basierenden Impfplanes wären die zusätzlichen Kosten, der Ausfall der Herdimmunität und – so-

lange noch keine Kombinationsimpf- stoffe verfügbar sind – die Notwen- digkeit zusätzlicher Injektionen. Dar- aus folgen weitere Probleme, auf die im folgenden eingegangen wird.

Durchimpfungsraten

Nach dem derzeitigen Impfplan der STIKO erhält ein Säugling bei je- weils einem von drei Impfterminen

zwei (je nach verwendeten Impfstof- fen auch drei) intramuskuläre Injek- tionen. Die sofortige Einführung ei- nes IPV-Regimes würde diese Zahl um eine weitere Injektion erhöhen.

Gegen ein IPV-Regime ergeben sich daher zwei Einwände:

¿ Die Compliance für den Impf- plan der STIKO kann sinken.

À Der individuelle Impfplan wird unter Umständen zeitlich aus- einandergezogen, bleibt daher lange inkomplett, oder einzelne Impfungen werden gar nicht gegeben.

Konkret ist daher zu befürch- ten, daß die Einführung von inakti- vierter Poliovirus-Vakzine (oder von IPV-OPV) zwar einerseits ein bis drei Fälle von Vakzine-assoziierter paralytischer Poliomyelitis pro Jahr verhindern kann, daß aber anderer- seits durch zeitlich zu spät durchge- 14

12 10 8 6 4 2 0

48 %

18,2%

11 %

8 %

11 % 18,2 %

11 % 36,3 %

11 % 36,3 % Anzahl der Fälle

Vakzine - assoziierte paralytische Poliomyelitis (VAPP) Altersverteilung von 38 Fällen zwischen 1964 und 1996

Impfpoliomyelitis (n = 27) Impfkontaktpoliomyelitis (n = 11)

Altersgruppen (Jahre)

VAPP bei Impfling VAPP bei Kontaktperson

< 1 1 - 4 5 - 9 10 - 19 20 - 29 30 - 39 > 40 Grafik

(5)

führte oder gar unterlassene andere Impfungen schwere Krankheits- und sogar Todesfälle auftreten, vor al- lem durch Pertussis, invasive Hämo- philus-influenzae-b-Infektionen und Masern. In der Tat belegen amerika- nische Untersuchungen, daß zwi- schen 40 und 76 Prozent der befrag- ten Eltern, Schwestern und Ärzte bereits drei Injektionen bei einem Arztbesuch als „zu viel“ erachten (15, 25, 28).

Weitere Studien zeigen, daß mit der Anzahl der notwendigen Impftermine die Durchimpfungsrate sinkt, weil die zusätzlichen Termine nicht wahrgenomen werden (2, 14, 27). Eine Untersuchung von Tandem Research Associates (42) belegt, daß eine vierte Injektion bei einem Arzt- besuch die Durchimpfungsraten un- ter anderem gegen Pertussis, Masern oder Diphtherie um 5 bis 20 Pro- zent reduzieren würde. Die Folgen ungenügender Durchimpfungsraten sind absehbar, wie weltweite Erfah- rungen mit Polio-, Pertussis-, Ma- sern- und Diphtherie-Epidemien be- legen (6, 7, 8, 9, 12, 21, 36).

Wiederauftreten von Poliomyelitis

Ein auf IPV basierendes Schema kann theoretisch aus zwei Gründen das Wiederauftreten von Poliomyeli- tis-Fällen begünstigen:

¿ durch die fehlende frühe se- kundäre Immunisierung von Kon- taktpersonen (fehlende Herdimmu- nität);

À durch die potentielle Abnah- me der Durchimpfungsraten gegen Poliomyelitis (siehe vorangegange- nen Abschnitt).

Der letzte durch Polio-Wildvi- rus verursachte Fall von Poliomyeli- tis in Deutschland wurde 1986 dia- gnostiziert. Bei einem weiteren Fall im Jahr 1990 war die Herkunft des Virus nicht zu ermitteln. Deutsch- land kann aber – im Gegensatz zu Nord- und Südamerika – derzeit nicht als „poliovirusfrei“ gelten, da ein valides infektionsepidemiologi- sches Überwachungssystem fehlt. In vielen Ländern der Erde kommen aber unverändert Polioviren ende- misch vor. In Albanien gibt es ganz aktuell eine Poliomyelitis-Epidemie

durch den Serotyp I (bis November 1996 insgesamt 134 gemeldete Fälle mit schlaffer Parese – mithin wohl mehr als 100 000 Infizierte – und 14 Todesfällen). Weitere Typ-I-Fälle registrierte die WHO kürzlich in Griechenland (fünf Fälle), in der Türkei (13 Fälle) und im ehemaligen Jugoslawien (drei Fälle) ([34] und WHO-Mitteilung).

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden reisten im Jahr 1995 mehr als 4,5 Millionen Touristen nach Deutschland ein.

Von ihnen stammten etwa 7 000 aus

Poliovirus-Endemiegebieten wie Afrika und etwa 82 000 aus Asien.

Weiterhin zogen im Jahr 1994 etwa 773 000 Immigranten, Asylsuchende und Spätaussiedler nach Deutsch- land zu. Darunter befanden sich 34 139 Menschen aus Afrika und 99 276 aus Asien.

Es ist dokumentiert, daß ein Im- port von Polioviren aus Endemiege- bieten in Länder, die seit Jahren als poliovirusfrei gelten, vorkommt. So trat in Holland eine Poliomyelitis- Epidemie bei einer religiösen Grup- pe auf, die Impfungen generell ab- lehnt. Es wurde von 97 Personen ein Wildvirus isoliert, das wahrschein- lich aus Indien eingeschleppt wor-

den war. 59 Menschen hatten Läh- mungen, zwei verstarben. Etwa ein Jahr später ließ sich das identische Virus bei Mitgliedern einer religiö- sen Gruppe in Kanada nachweisen, die enge Kontakte mit der nieder- ländischen Gemeinschaft pflegte (35). In jüngster Vergangenheit wur- de ein weiterer Poliovirus-Import von Indien nach Kanada bekannt.

Das Virus war durch ein regelrecht mit drei Dosen IPV geimpftes, kana- disches Kleinkind von einer Indien- Reise nach Kanada importiert wor- den. Prinzipiell muß man also davon ausgehen, daß eine Einschleppung von Polioviren auch nach Deutsch- land unverändert möglich ist. Bei Einführung eines alleine auf IPV ba- sierenden Impfplanes wäre daher zu überlegen, OPV-Impfstoff für den Fall eines Poliomyelitis-Ausbruchs in ausreichender Menge zu bevorra- ten.

Folgen für die Entwicklungsländer

Wegen beschränkter finanzieller Möglichkeiten wie auch aus Grün- den der Praktikabilität werden Ent- wicklungsländer auch künftig auf OPV angewiesen sein (20). Ein Übergang zu IPV in den Industrie- staaten zum jetzigen Zeitpunkt könnte in diesen Ländern das falsche Signal setzen. Stellen auch diese Länder ihren Impfplan auf IPV um, so ist zu befürchten, daß weltweit die Durchimpfungsraten gegen Polio- myelitis sinken. Damit wäre das Ziel der Weltgesundheitsorganisation der Poliowildvirus-Eradikation bis zum Jahre 2000 gefährdet.

In den USA kostet das OPV- Impfprogramm derzeit rund 270 Millionen Dollar, in Westeuropa werden rund 200 Millionen Dollar aufgewendet. Die Einführung eines IPV-OPV-Regimes bedeutet alleine für die USA eine Kostenerhöhung um mindestens 40 Prozent. Es wäre wohl effizienter, dieses Geld in OPV- Programme der dritten Welt zu inve- stieren, damit weltweit die Poliovi- rus-Eradikation möglichst bald er- reicht wird; denn erst wenn dieses Ziel erreicht ist, kann auch das VAPP-Problem endgültig als gelöst gelten.

Tabelle 3

VAPP-Inzidenz in den USA und Deutschland

Jahr VAPP-Fälle VAPP-Fälle Deutschland USA 1965–

1987 8–10/Jahr

1988 9

1989 5

1990 5

1991 3 6

1992 1 4

1993 1 5

1994 1 1

1995 3 0

1996 2

Nach CDC (29,30) und nach einer persön- lichen Mitteilung von E. Schreier, Nationales Referenzzentrum für Polio- myelitis- und andere Enteroviren, Robert Koch-Institut Berlin

(6)

Resümee

Durch konsequente Anwen- dung der oralen Poliovakzine nach Sabin ist die endgültige Eradikation der Poliomyelitis in greifbare Nähe gerückt. Möglich wurde dies durch hohe Durchimpfungsraten, den nied- rigen Preis – der die Anwendung von OPV auch armen Ländern ermög- lichte –, die sehr gute öffentliche Ak- zeptanz des Impfstoffes und den Aufbau von Schleimhaut- und Herd- immunität. Vakzine-assoziierte Po- liomyelitis-Fälle durch OPV kom- men vor und sind tragisch. Zu einer Zeit, in der es in Deutschland wohl keine autochthone Poliomyelitis mehr gibt, sind diese Fälle besonders schwer zu akzeptieren. Die Ände- rung des Impfregimes von OPV zu einem sequentiellen IPV-OPV-Sche- ma wäre wahrscheinlich mit einer et- wa 50prozentigen Reduktion der Anzahl von VAPP-Fällen verbun- den. Es wäre aber gleichzeitig mit ei- nem Absinken der Durchimpfungs-

raten und in der Folge mit einer Zu- nahme von Morbidität und Morta- lität durch andere impfpräventable Krankheiten (vor allem Pertussis, Masern und Hämophilus influenzae b) zu rechnen.

Nur die komplette Umstellung von OPV auf IPV garantiert, daß VAPP-Fälle nicht mehr vorkommen.

Die Akzeptanz der Deutschen für zu- sätzliche (IPV-)Injektionen muß als gering eingeschätzt werden, und die Compliance mit einem auf IPV basie- renden Impfschema wird (auch für Säuglinge) niedriger sein als für das bisherige OPV-Schema. Angesichts der unverändert bestehenden Mög- lichkeiten der Einschleppung von Po- lio-Wildviren aus Endemiegebieten besteht daher bei einer generellen Empfehlung für IPV (oder für IPV- OPV) ein reales Risiko für das erneu- te Auftreten von Poliomyelitis-Fällen in Deutschland.

Derzeit sind Kombinationsimpf- stoffe, wie DTPa-Hib-HBV-IPV für Kinder oder dT(aP)-IPV für Erwach-

sene, noch nicht verfügbar. Sollte sich diese Situation ändern – dies ist noch 1997 oder 1998 zu erwarten – und könnte dann auch für IPV eine hohe Akzeptanz in Deutschland dokumen- tiert werden, sollte bei Verfügbarkeit der notwendigen finanziellen Res- sourcen OPV durch IPV ersetzt wer- den.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1997; 94: A-2736–2741 [Heft 42]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Son- derdruck und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschrift für die Verfasser

Prof. Dr. med. Heinz-J. Schmitt Abteilung Pädiatrische Infektiologie Klinik für Allgemeine Pädiatrie Christian-Albrechts-

Universität zu Kiel Schwanenweg 20 24105 Kiel

Berichtigung

In dem Beitrag „Chemotherapie der HIV-1-Infektion“ in Heft 39/1997 ist bei der Drucklegung in der Tabelle 4 (Typi- sche Resistenzmutationen) ein Fehler unterlaufen. Bei den nicht nukleosidalen Inhibitoren der Reversen Transkrip- tase ist die Base 103 mit 151 vertauscht. Die korrigierte Version der Tabelle ist nachfolgend abgebildet. DÄ/MWR

Tabelle 4

Typische Resistenzmutationen antiretroviraler Substanzen

Nukleosidanaloga Aminosäure-Position

im RT-Gen 41 65 67 69 70 74 75 103 151 181 184 215 219 236

Zidovudin Didanosin Zalcitabin Lamivudin Stavudin NNRTI Nevirapin Delavirdin

Häufige und typische Lokalisationen des Basenaustausches im jeweiligen Gen, aus denen ein signifikanter Anstieg der erforderlichen mini- malen Hemmkonzentration der jeweiligen Substanz resultiert, sind dunkel markiert. Dabei ist zu beachen, daß die einzelnen Mutationen un- terschiedliche Grade der Resistenz und Kreuzresistenz vermitteln und daß kompensatorische Mutationen das Wachstumsverhalten in vivo beeinflussen können.

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