N
ichts hören, nichts sagen, nichts sehen – die „drei Affen“ können als Sinn- bild der Tabus schlechthin gelten. Die Affen sind im Deutschland der Nachkriegs- zeit zu einem Synonym für die Verdrängung der Ver- gangenheit geworden. „Tabus sind Meidungsgebote, mit denen eine Gemeinschaft festlegt, was zu ihr gehört und was nicht“, erklärt der Psycho- analytiker Dr. med. Hartmut Kraft, aus dessen Sammlung die Exponate der Ausstellung„Kunst und Tabu – Betreten auf eigene Verantwortung“
stammen. Zusammen mit seiner Frau Dr. med. Maria Kraft sammelt er seit rund 40 Jahren, und in vielen Werken spiegelt sich das Thema Tabu:
„Als die Idee für die Ausstel- lung einmal feststand, waren die Werke in drei Tagen zusammengestellt“, sagt Kraft.
Entstanden ist sie im Zuge der wissenschaftlichen Ausein- andersetzung mit dem Thema Tabu: 1997 wurde er gebeten, den Begriff für das „Hand- wörterbuch Psychoanalyse“
zu definieren. Fasziniert von dem Thema, hielt er auf Psychoanalytiker-Kongressen Kurse darüber und erarbeite- te den Begriff mit den Teil- nehmern. Schließlich hat sich schon Freud um eine Analyse des Tabus bemüht.
„Wer ein Tabu übertritt, wird sanktioniert, denn Tabu- brüche sind Angriffe auf die Identität einer Gemeinschaft, die sich auf ein bestimmtes Tabu verständigt hat“, sagt Kraft. Tabubruch lässt sich zum Beispiel in die Erzählung
„Die Verwandlung“ (1915) von Franz Kafka inter- pretieren, der der Künstler Rolf Escher eine Grafikserie (1973/74) gewidmet hat. Die Hauptfigur der Erzählung än- dert seine Identität – hier drastisch als Verwandlung in einen Käfer geschildert – und wird daraufhin von seiner Familie ausgegrenzt und weg- geschlossen, um die bür- gerliche Identität und Fassa- de nicht zu gefährden. In der letzten Grafik der Serie Eschers wird der Käfer von der Schließerin wegge- kehrt – symbolhaft für die so- ziale Ausgrenzung, die einem
„coming out“ folgen kann.
Den Begriff Tabu brachte Sir James Cook von seinen Südsee-Expeditionen Ende des 18. Jahrhunderts mit nach Europa. Cook hatte das Wort erstmals auf den Tonga-In- seln gehört, für etwas, was verboten war oder nicht be- nutzt werden durfte. In Euro- pa traf der Begriff auf eine
„Wort- schatz- lücke“
und verbreitete sich schnell in fast alle Sprachen. Das Phänomen war wohl bekannt, doch es fehlte die Bezeich- nung dafür. „James Cook’s Auge“ (1987) nennt die Künstlerin Birgit Kahle eines ihrer Fotos. Die herausgeätzte Iris bricht gleich ein doppel- tes Tabu, denn „lange Zeit war es in der Kunstszene tabu, ein Negativ zu zer- stören“, erklärt Kraft.
Die Ausstellung „Kunst und Tabu“ zeigt Werke aus- schließlich aus dem westli- chen Kulturkreis, bewusst haben die Krafts auf ethnolo- gische Objekte verzichtet: „Es geht um die Verdeutlichung von Tabus in unserer eigenen Kultur.“ Die Kunst hatte lan- ge Zeit in Bezug auf Tabus vor allem eine bestätigende Funktion. Es wurde vor Tabu- brüchen – in der westlichen Kultur Sünde genannt – ge- warnt. Die Werke dienten als oft drastische Veranschauli- chungen von Traktaten und Predigten.
Heute haben Künstler eher Lust am Tabubruch, denn Tabus gelten vielen als Zei- chen von Rückständigkeit, als Behinderung der eigenen Entwicklung. Nach 1968 ge- hörten provozierende Hap-
penings zum politischen All- tag. Einen ganz aktuellen Tabubruch, ein überdimensio- niertes Werbeplakat, das vor kurzem noch auf deutschen Plakattafeln zu sehen war, hat Kraft kurzfristig in die Ausstel- lung integriert. Eine im Sitzen pinkelnde Frau, die – genüss- lich rauchend – Spaß an der Gleichberechtigung hat: „Für gleiches Recht für alle“ sagt der Titel. Vielen Kölnern war die witzige Zigarettenwerbung ein Dorn im Auge: Sie zer- rissen oder übersprühten die Plakatwände. Viel freier als 1950, als das „Kakelinchen“
(in der Ausstellung positio- niert auf dem Plakat) von Friedrich Schröder-Sonnen- stern provozierte, ist man also noch nicht. Petra Bühring V A R I A
Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 142. April 2004 AA945
Die Ausstellung „Kunst und Tabu“
ist bis zum 25. April im Museum der Stadt Ratingen zu sehen: Peter- Brüning-Platz 1, Grabenstraße 21, 40878 Ratingen.
Vom 27. Juni bis 26. September im Berliner Medizinhistorischen Museum in der Charité und vom 10. Oktober bis Mitte Januar 2005 im Ausstellungsforum Haus Ora- nienstraße des Siegerlandmuse- ums, Siegen.
Birgit Kahle: „James Cook’s Auge“
(1987, Hochformat)
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Tabu ist in ein Buch gemün- det, das als Begleitbuch zur Ausstellung dient. Darin untersucht Hartmut Kraft anhand von vielen Beispielen aus Gegenwart und Geschichte die Funktion und Bedeutung von Tabus „in unserer vermeintlich so tabulosen Gesellschaft“. Das Buch ist populärwissen- schaftlich geschrieben und daher gut lesbar:
Tabu – Magie und soziale Wirklichkeit,Walter Verlag, Düsseldorf, 2004, 240 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag, 19,90 Euro.
„Kunst und Tabu“
Angriff auf die Identität
Die Ausstellung greift das Thema der Tabuisierung als gesellschaftliche Ausgrenzung auf.
Feuilleton
© VG Bild-Kunst,Bonn