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ären die jüngsten Empfehlun- gen des Nationalen Ethikrates zum Einsatz „Prädiktiver Ge- sundheitsinformationen bei Einstel- lungsuntersuchungen“ Gesetz, hätte es der Klage der hessischen Lehrerin, de- ren Vater an Chorea Huntington leidet, wahrscheinlich nicht bedurft. Ihre Ver- beamtung auf Probe war abgelehnt worden, weil sie die Frage nach erbli- chen Erkrankungen in der Familie bei ihrer Einstellungsuntersuchung wahr- heitsgemäß beantwortet hatte. Sie klag- te und bekam 2004 vom Verwaltungsge- richt Darmstadt Recht: Der hessische Schuldienst musste sie als Beamtin auf Probe aufnehmen.Wendet man die am 16. August prä- sentierten Vorschläge des Rates auf die- sen konkreten Fall an, ergibt sich folgen- des Bild: Der hessische Schuldienst hätte die Lehrerin nicht wegen ihrer mögli- chen genetischen Disposition ablehnen dürfen, da sie nicht mit einer Wahr- scheinlichkeit von mehr als 50 Prozent an diesem autosomal-dominant vererb- ten Leiden erkranken wird. Dies ist näm- lich eine der Bedingungen, die der Na- tionale Ethikrat an die Verwendung von Tests stellt. Für unzulässig hält er zudem Fragen nach der Familienanamnese.
Mit seinen sehr detaillierten Empfeh- lungen zum Einsatz prädiktiver Diagno- stik im Arbeitsleben setzt der Ethikrat neue Maßstäbe. Zum Entsetzen vieler bewertet er Gentests und andere medizi- nische Untersuchungsverfahren gleich.
„Nicht nur die Genetik hat eine Vorher- sagekraft, auch Laborbefunde sowie ra- diologische oder elektrophysiologische Untersuchungen haben prognostischen Gehalt“, erklärte der Humangenetiker Prof. Dr. med. Peter Propping, einer der Autoren der Stellungnahme (Propping wirkte 2003 federführend an den Richtli- nien der Bundesärztekammer zur prä- diktiven genetischen Diagnostik mit).
Gleichzeitig setzt der Rat aber bei der Anwendung und Verwertung sämtlicher Tests und Befunde enge Grenzen. Gänz- lich verbieten will er Arbeitgebern den Einsatz von Suchverfahren, worunter auch eine detaillierte Familienanamne- se fallen würde. Erlaubt sollte es nach seiner Ansicht nur sein, Befunde gezielt zu erheben, um die Eignung des Bewer- bers für den Beruf festzustellen.
Dass ein Arbeitgeber bei der Einstel- lung berücksichtigen will, ob der Be- werber für die vorgesehene Tätigkeit
„körperlich, geistig und gesundheitlich geeignet ist“, hält der Rat für legitim.
„Der Gewinn von Gesundheitsinfor- mationen eines künftigen Angestellten ist ein berechtigtes Interesse des Ar- beitgebers“, betonte Kristiane Weber- Hassemer, Staatssekretärin a. D. und neue Vorsitzende des Rates als Nach- folgerin von Prof. Dr. Spiros Simitis. Er- fragt werden darf der momentane Ge- sundheitszustand und die persönliche Anamnese des Bewerbers. Medizini- sche Untersuchungen will der Ethikrat erlaubt wissen, wenn sie erforderlich sind, um „zum Zeitpunkt der Einstel- lung die Eignung für die vorgesehene Tätigkeit festzustellen“.
Gesetzgeberischer Handlungsbedarf
Den Blick in die Zukunft will der Natio- nale Ethikrat für den Arbeitgeber indes stark beschränken, um Diskriminierung und Missbrauch zu unterbinden. Frei- willigkeit bleibe oberstes Gebot, sagte Weber-Hassemer. So sollten nur Daten verwendet werden dürfen, die sich auf Krankheiten und Krankheitsanlagen beschränken, die mit einer Wahrschein- lichkeit von mehr als 50 Prozent auftre- ten. Dies müsste zudem innerhalb eines engen Zeitfensters nach der Einstellung
geschehen. Bei privaten Arbeitgebern schlägt der Rat in Anlehnung an die Probezeit einen Zeitraum von sechs Monaten vor; im öffentlichen Dienst plädiert er für fünf Jahre, da hier der Dienstherr eine lebenslange Fürsorge- und Versorgungspflicht übernimmt.
„Damit sind Gentests faktisch ausge- schlossen“, sagte Propping. Diese ließen nämlich nur in extremen Aus- nahmefällen die Vorhersage zu, dass ei- ne Erkrankung innerhalb der nächsten fünf Jahre auftrete.Von Interesse wären in der Praxis hingegen Anamnese und medizinische Tests, die auf vorangegan- gene Karzinome oder Herzinfarkte schließen lassen. Hier seien relativ zu- verlässige Prognosen zum Auftreten von Rezidiven möglich.
Eine Ausnahme schlägt der Rat vom Verbot der Anwendung von Suchver- fahren ohne konkreten Anlass vor: Um Risiken für Dritte auszuschließen, sol- len Untersuchungen auf gegenwärtig symptomlose oder auf vorhersagbare Krankheiten zulässig sein, zum Beispiel bei Piloten, Busfahrern oder Küchen- personal.
Parteien und Verbände nahmen die Empfehlungen des Nationalen Ethikra- tes sehr unterschiedlich auf. Einig ist man sich lediglich, dass gesetzgeberi- scher Handlungsbedarf besteht. Doch das Gendiagnostikgesetz, das diese Fra- gen regeln könnte, liegt durch die vor- gezogenen Neuwahlen auf Eis. Darin plädiert die rot-grüne Koalition für ein generelles Verbot von Gentests. Die Grünen lehnen deshalb die Empfehlun- gen des Rates als Rückschritt ab. Auch der Datenschutzbeauftragte der Bun- desregierung, Peter Schaar, sowie der Deutsche Gewerkschaftsbund fordern ein gesetzlich fixiertes generelles Ver- bot. Begrüßt werden die Vorschläge in- des von der Union.
Mit der Vorstellung seiner Empfeh- lungen beweist der Nationale Ethikrat – 2001 von Bundeskanzler Gerhard Schröder eingesetzt und seitdem eher regierungstreu – seine Unabhängig- keit. Dies könnte dem erst im Juni neu konstituierten Gremium im Falle eines Regierungswechsels durchaus nützlich sein. Als Nächstes will der Rat seine Vorschläge zur Verwendung von Gen- tests im Versicherungswesen unter- breiten. Dr. med. Eva A. Richter-Kuhlmann P O L I T I K
Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 34–35⏐⏐29. August 2005 AA2285