Der Ursprung des Alphabets von Ras Schamra
Von B. Rosenkranz-Uedem b. Kleve
Es ist eine auffällige Tatsache, daß Syrien und Kanaan,
also die Länder, die lange Zeit einen Zankapfel zwischen den
Großreichen der Ägypter, Assyrer und Hethiter darstellten,
eine hervorragende Stellung in der Geschichte der Schrift
innehaben. Der Reichtum an Denkmälern der verschiedensten
Schriftarten beruht nicht nur auf dem Einfluß der betreffen¬
den Nachbarkulturen; offensichtlich sind innerhalb dieses
Gebietes ganz eigene Lösungen gefunden worden, deren be¬
kannteste die westsemitische Buchstabenschrift und das
Alphabet von Ras Schamra sind. Daneben bestand noch eine
Schrift mit hieroglyphenähnlichen Zeichen, deren Entziffe¬
rung noch nicht gelungen ist.
Es war ein naheliegender Gedanke, eine Beziehung
zwischen der westsemitischen Buchstabenschrift und dem
Keilschrift-Alphabet von Ras Schamra zu suchen, und der
Versuch wurde mehrfach gemacht*). Neuerdings erhebt
J. Friedrich (ZDMG 91 [1937] 322) Bedenken gegen eine
Ableitung der Ras Schamra-Schrift von der westsemitischen,
weil dem einen vokallosen Alefzeichen der westsemitischen
Schrift in der Ras Schamra-Keilschrift drei vokalhaltige ent¬
sprechen. Er sieht darin eine Durchbrechung des konsonan¬
tischen Prinzips. Eine solche Durchbrechung widerspricht
aber keineswegs der inneren Form des westsemitischen Alpha¬
betes. Ganz abgesehen sei davon, daß in den jüngeren Fort¬
setzungen dieser Schrift, z. B. im Hebräischen und Arabischen,
die Vokale durch Punktation angedeutet werden konnten,
1) Lit.: vgl. H. Gbimmb, Altsinaitische Forschungen (Paderborn
1937); H. Bauer, Der Ursprung des Alphabets (Leipzig 1937); O. Eiss¬
feldt, Zur Frage nach dem Ursprung unseres Alphabets (Forschungen und Fortschritte 1938, S. 4 f.).
ohne die innere Form der Schrift zu verletzen; dagegen be¬
deutet die Benutzung einiger Konsonantenzeichen zur Andeu¬
tung der Vokale als „Lesestützen" (matres lectionis) einen
tiefen Eingriff in das ursprünghche System. Dieser Gebrauch,
der im Hebräischen geläufig ist, tritt schon in phönizischen
Inschriften des 2. vorchristlichen Jahrtausends auf, reicht
also zeitlich bis in die Nähe des Alphabets von Ras Schamra.
Diesen ,, Lesestützen" dürfte das dreifache Alef von Ras
Schamra am ehesten entsprechen. Dabei besteht allerdings
ein Unterschied, indem nämlich nicht das jeweils organ¬
verwandte Konsonantenzeichen den Vokal vertritt, sondern
das Alef. Dieser Umstand veranlaßt J. Friedrich, an den
Einfluß einer silbenmäßigen Schrift (etwa der hieroglyphen¬
artigen Schrift von Bybios) zu denken. Eine solche Annahme
ist jedoch unnötig. Für den Semiten war ein Vokal ohne
konsonantischen Träger etwas Undenkbares; in seiner
Sprache gab es das nicht. So wählte der Schrifterfinder von
Ras Schamra den neutralsten Konsonanten als Träger für
den Vokal, nämlich den festen Einsatz, das Alef*).
Die „innere Form" der Ras Schamra-Schrift gibt also
keine Veranlassung, an eine besonders komplizierte Vor¬
geschichte dieses Alphabetes zu denken; sie ist vielmehr eine
folgerichtige Weiterentwicklung des westsemitischen Schrift¬
systems. Dieses System empfahl sich durch seine leichte Er¬
lernbarkeit gegenüber der babylonischen Keilschrift wie den
ägyptischen und „hethitischen" Hieroglyphen. Ein Nachteil
aber war, daß die Herstellung von dauerhaften Urkunden
kompliziert war; man mußte Steine glätten und darin die
Zeichen ritzen. So mußte ein Kenner der babylonischen
Schreibtechnik auf den Gedanken kommen, diese Technik
für das westsemitische Schriftsystem zu verwerten. Die
Zeichen, die er dafür entwarf, mußten möglichst einfach und
1) Wenn nicht einfach eine Übernahme der babylonischen Zeichen
für i und u vorliegt, was die Form der betr. Ras Schamrazeichen
nahelegt. — Vgl. jetzt 0. Eissfbldt, Die Herkunft der drei Zeichen
für Aleph im Alphabeth von Ras Schamra (Forschungen und Fort¬
schritte 1938, S. 125 f.) [Korr.-Note.].
180 B. Rosenkranz, Der Ursprung des Alphabets von Ras Schamra
möglichst charakteristisch sein, damit sie mit dem Keilschrift-
griffel leicht und schnell geschrieben werden konnten, ohne
die Lesbarkeit zu gefährden. Dabei ergibt sich, die Frage:
sind diese Zeichen eine reine Neuschöpfung oder wurden sie
in Anlehnung an ein schon vorhandenes Alphabet geschaffen?
Während man früher geneigt war, Ableitung von einer
der gegebenen Schriften zu versuchen, erheben sich neuer¬
dings gewichtige Stimmen für eine völlige Neuschöpfung.
Aber selbst einer der schärfsten Vertreter dieser Ansicht,
H. Bauer, muß doch zugeben, daß das neue Alphabet von
einer westsemitischen Schrift (dem Phönizischen), beeinflußt
sei. Ihn veranlaßt vor allem eine Nebenform des 'Ajin, bei
der ein Winkel von einem Kreise umschlossen ist; der Kreis
ist ein der Keilschrift fremdes Element, hat jedoch im Phö¬
nizischen den Wert 'Ajin. Trotzdem ist es abwegig, den Kreis
als nachträghche Zutat anzusehen; viel einfacher ist es, den
Winkel als Vereinfachung des zusammengesetzten Zeichens
zu betrachten. Damit entfernt man allerdings die Ras
Schamra-Schrift etwas von der phönizischen. Das 'Ajin in
seiner zusammengesetzten Form entspricht durchaus dem
älteren 'Ajin-Zeichen der Sinai-In Schriften und des Ostrakons
von Beth Schämäsch, das ein Auge mit Pupille darstellt. Der
Winkel, also der einfache Eindruck des Keilschriftgriffels,
entspricht demnach einem kleinen Kreis der Schriftvorlage
(1. Kriterium).
Bauer stellt außerdem noch zusammen:
g : phön. 1, Ras Schamra y (eine deutliche Vereinfachung
des alten Zeichens),
h • It 3 1 ,) ^E.
* • )i ?» ,) iJl
^' „ W, „ „ ^
Diesen Gleichungen kann man als Kriterium entnehmen:
einfache Linien werden als einfache Keile dargestellt. Viel¬
leicht kann man außerdem die Ansatzlinien der Keilköpfe
als Andeutung einer zum Keil senkrecht stehenden Linie be¬
trachten, wodurch z. B. ^ identisch mit 3 würde.
Bei der Vergleichung der übrigen Zeichen versagt aller¬
dings das phönizische Alphabet meistens. Trotzdem ist der
beschrittene Weg der richtige; nur muß man von einer älteren
Stufe dieses Alphabetes ausgehen, wie sich schon beim 'Ajin
gezeigt hat. Es sei daher das Sinai-Alphabet als Vertreter
dieser älteren Stufe herangezogen.
Schon das Beth stimmt in den beiden Schriften überein:
sin. □, Ras Schamra ^; ebenso das Daleth: sin. XL, Ras
Schamra JJJ. Damit gewinnen wir ein drittes Kriterium: Flä¬
chen der Schriftvorlage werden in der neuen Keilschrift durch
parallele Keije angedeutet. Mit Hilfe dieser Kriterien lassen
sich die Beziehungen der beiden Schriften weitgehend klären.
Von den Ras Schamra-Zeichen, die einen Winkel ent¬
halten, scheidet aus, weil sein Lautwert noch nicht fest¬
steht. Andere entsprechen deutlich den Kriterien.
Ras Schamra o-< = sin. -o =q (vgl. 2. Krit.)
„ „ CO =s (vgl. 3. Krit.)
„ „ = „ 8 =s (zwei Winkel für zwei Kreise).
In der Sinaischrift kommen weitere Zeichen mit einem
Kreis nicht vor. Von den Ras Schamra-Zeichen, die einen
Winkel enthalten, könnte man das Teth mit dem phöni¬
zischen ® gleichsetzen unter der Voraussetzung, Kreuz und
Kreis seien in der neuen Schrift gesondert gesetzt worden;
vielleicht liegt aber dem Ras Schamra-Zeichen eine Form
zugrunde, die dem Teth (?) der Scherbe von Gezer näher¬
stand. — Über |J3 vgl. oben. Zu erklären bliebe Heth
eine Gleichsetzung mit sin. M-^, ist denkbar*); Wahr¬
scheinlichkeit gewinnt sie aber nur, wenn die übrigen
Gleichungen überzeugend sind.
Unter den restlichen Zeichen von Ras Schamra sind meh¬
rere, die dem dritten Kriterium entsprechen. Recht deutlich
ist das der Fall bei
1) Man beachte bei der Vergleichung die verschiedene Richtung
der Schrift.
182 B. Rosenkranz, Der Ursprung des Alphabets von Ras Schamra
Ras Schamra >Z = sin. CJ = p
1) " Y ~ " *^ ~ *
^= n = '•')
„ „ ^ = „ O' =
Von den flächenhaften Sinai-Buchstaben findet nur das Alef
keine dem Kriterium entsprechende Parallele in der Keil¬
schrift : t*- ist offenbar ein aufs äußerste vereinfachtes Zeichen.
Am meisten Schwierigkeiten machen die Zeichen, als
deren Vorbilder man Strichfiguren betrachten muß. Zum Teil
mag das daran liegen, daß die Variationsmöglichkeit in der
Keilschrift bedeutend geringer ist als in der westsemitischen
Buchstabenschrift, in der (theoretisch) jede beliebige Linien¬
form verwendbar war ; die Keilschrift dagegen war auf Kom¬
binationen der vier Grundelemente angewiesen. So läßt sich
z. B. über das Verhältnis von Ras Schamra: yyY 6»
phön. nichts aussagen; der Versuch, das westsemitische
Zeichen in Keilschrift umzusetzen, kommt einer völligen
Neuschöpfung gleich. So haben außer Bauer's Gleichungen
(s. 0.) nur wenige eine gewisse Evidenz, etwa
z = Ras Schamra ^ = phön. I (bes., wenn man die Kopf¬
enden berücksichtigt),
k= „ „ E»- = sin.phön. VJ/;
t = „ „ t>- = sin. phön. etc. -f- (unter Annahme
einer weiteren Vereinfachung) ;
«= „ „ t>^>-^:^= sin. /-''.
Wenn auch die restlichen Buchstaben erhebliche Schwie¬
rigkeit machen, so sprechen sie doch nicht gegen eine Ab¬
leitung des Ras Schamra-Alphabetes von der westsemitischen
Schrift; soweit eine Wiedergabe durch Keilschriftzeichen
ohne Verwendung komplizierter Kombinationen möglich
war, lassen sich die Zeichen identifizieren. Allerdings ist dabei
Voraussetzung, daß nicht das spätere phönizische Alphabet
zum Vergleich benutzt wird, sondern eine ältere Stufe des¬
selben, also eine dem Sinai-Alphabet näherstehende Form.
1) Man beachte bei der Vergleichung die verschiedene Richtung
der Schrift.
Von Johannes Friedrich-Leipzig
Bis vor nicht allzu langer Zeit war die Ansicht weit ver¬
breitet, daß die Erfindung der verschiedenen Arten von
Schrift in der Hauptsache dem grauesten Altertum, der Zeit
vor aller Geschichte, angehöre. In der historischen Zeit sah
man vor allem die phönizische Buchstabenschrift sich ent¬
wickeln und in ihren Ableitungen als griechische, lateinische,
arabische, indische Schrift usw. sich über den größten Teil
der Kult urweit verbreiten, aber mit Neuerfindung von Schrift
rechnete man kaum, abgesehen vielleicht von den umstrit¬
tenen Schriften Altamerikas. Die wenigen Schrifterfindungen
des 19. Jahrhunderts, vor allem die der Vai-Neger in Liberia
und die des Indianers Sikwäyi*), zu denen sich im 20. Jahr¬
hundert noch die Bamum-Schrift in Kamerun gesellte, galten
als kuriose Ausnahmen, für deren Unselbständigkeit man
schon die Tatsache geltend machte, daß die betreffenden
Schrifterfinder die Anregung zu ihrer Erfindung ja von außen
her, von schreibenden Europäern oder Arabern, erhalten
hätten.
Nun ist es allerdings richtig, daß wir bei den meisten
Schrifterfindungen eine Anregung von außen her mit in
Rechnung stellen müssen. Das gilt schon von der phönizischen
Buchstabenschrift, der ihr zeitlich nahestehenden Keilschrift
von Ras Schamra, der altpersischen Keilschrift usw. Daß
uns bei anderen Schriften des frühen Altertums, z. B. bei der
kretischen Schrift oder der Indus-Schrift, vorläufig die Mög¬
lichkeit fehlt, einen solchen äußeren Einfluß nachzuweisen,
ist noch kein Beweis dafür, daß er nicht da war. Nur bei den
1) Siliwäyi oder Sequoja galt lange Zeit als der einzige mit Namen bekannte Schrifterfinder.
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