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Zur Geschichte des griechischen Alphabets.
Von Franz Praetorius.
Es ist schon recht oft versucht worden, die Frage zu beant¬
worten , wie die drei Zusatzbuchstaben des griechischen Alphabets,
<J X 'F entstanden sind ; aber nicbt einer der vielen Versuche hat
allgemeine Zustimmung gefunden. Sollte auch die nachfolgende
Erörterung der Frage als , trügerisch und unzureichend' befunden
werden (und icb weiss sehr wobl , dass ich einen mathematischen
Beweis nicht geführt habe) , so glaube ich dennoch auf eine Reihe
so auffallender Ähnlichkeiten und vollständiger Gleichheiten ge¬
stossen zu sein , dass ihre Darlegung einiges Interesse selbst dann
in Anspruch nehmen dürfte , wenn alle Übereinstimmung lediglich
auf täuschendem Zufall beruhen sollte. — Mit der Frage nach der
Entstehung der Form dieser drei Zeichen hängt aufs Engste zu¬
sammen die Frage nach dem ursprünglichen Lautwerte der¬
selben. Denn bekanntlich hat nur O überall den gleichen Lautwert ;
X dagegen hat nur in den Alphabeten des Ostens den uns geläufigen
Wert während es im Westen = | ist; und W hat ebenfalls nur
im Osten den uns geläufigen Wert ip, im Westen dagegen ist es
= X, und in einigen Inschriften von Thera und Melos ist W jetzt
auch in dem Werte von § nachgewiesen worden (vgl. Hiller v. Gärt¬
ringen , Thera 1. Bd. S. 156; P. Kretscbmer in Mittheilungen des
kais. deutschen arcb. Instit. von Athen, Bd. 21 S. 431 f.).
Ausser Stande, in der Frage nacb der Entstehung der Pormen
sicheren Boden zu gewinnen , haben die , welche zuletzt zur Sache
gesprochen, die Beantwortung dieser Prage mehr oder weniger aus¬
drücklich bei Seite geschoben und nur den Wandel der Werte zu
erklären versucht. Vgl. Kretscbmer a. a. 0. S. 411: ,Es dürfte
aber überhaupt von geringem Belang sein zu wissen , ob z. B. (P
aus © oder aus der alten Koppaform <P entsprungen ist. Es ge¬
hörte ja doch nicht eben viel Erfindungsgabe dazu, auf Zeichen wie
ein Kreuz , einen durcbstrichenen Kreis , eine dreizinkige Gabel zu
kommen: dazu bedurfte man nicht erst eines Vorbildes Es
scheint mir sonach geraten, Ableitungsversuche der bezeichneten
Praetoriua, Zur Geschichte dea griechischen Alphahets. 677
Art als unkontrollirbar aufzugeben und die Form der neuer¬
fundenen Zeichen als gegeben zu betrachten", ünd
doch wird man von vornherein zugeben müssen, dass die Er¬
kenntnis des Ursprungs der Form möglicherweise von grosser
Wichtigkeit sein könnte für die Erkenntnis des ursprünglichen
Lautwertes.
Kirchhoff vrill in seinen Studien zur Geschichte des griechischiBn Alphabets* S. 174 die Erledigung der an die drei Zusatzbuchstaben anknüpfenden Fragen so lange vertagen, ,bis weitere epigraphische
Entdeckungen, die zu erwarten vnr noch immer berechtigt sind,
jene Daten in der erforderlichen Weise vervollständigt haben werden".
Täusche ich mich nicht, so liegen solche epigraphischen Entdeck¬
ungen jetzt vor und lagen auch schon vor, als Kirchhoff (in 4. Aufl.) jene Worte schrieb.
In dem Alphabete der §afik-Inschriften finden sich folgende
Buchstaben mit folgenden Werten: 0 = w, X=^§fN^ =
^ h, = d. Ich setze O = griech. (p, X = griech. X, V
xmd Y = griech. W. Als die Griechen das Bedürfnis nach neuen
Zeichen empfanden, liess sie das bereits ausgeschöpfte phönizische
Alphabet im Stich. Aber das Alphabet des an Phönizien stossenden
Hinterlandes bot ihnen was sie suchten. Hier war das alte phöni¬
zische Alphabet schon durch einige brauchbare Zusatzbuchstaben
erweitert; und die alten phönizischen Zeichen selbst waren der¬
gestalt verändert, dass sie wohl als neue Zeichen mit variirten
Werten aufgenommen werden konnten. So machten die Griechen
denn hier eine Anleihe. Nicht eigentlich an einem Punkte »er¬
funden" sind die drei Zusatzbuchstaben (Kirchhoff a. a. 0. S. 173),
wohl aber von einem Punkte her entlehnt.
ffi ist die gewöhnliche altgriechische Form für O; sie ist dem
<X> des Safaalphabets vollständig gleich. Wir können nicht wissen,
wie um 750 v. Chr. in der ümgegend von Damaskus semitisches
u) gesprocben wurde: Nehmen wir aber auch an, es sei damals
bereits rein labiales w , y, gewesen , so konnten die Griechen unter
allen Umständen leicht das Zeichen für diesen Laut als Notbehelf
entlehnen , sei es für ph , sei es für pf oder f (vgl. Kretscbmer
a. a. 0. S. 418 f.). Aus einem Zeichen für semitisches w ist ja
auch das lateinische F hervorgegangen. — Wenn diese Herleitung
des griech. <2> richtig ist, so wären im Griechischen (P, F und auch
wohl T im Grunde Dubletten, sämmtlich aus semitischem Wau
entstanden.
Auch wenn das semitische § um 750 v. Chr. in der ümgegend
von Damaskus gesprochen worden ist wie heute, nämlich als tiefer
acA-Laut (und nicht etwa als Aspirata kh). so war kein Zeichen
678 Praetorius, Zur Geschichte des griechischen Alphabets.
für den Ausdruck des griech. kh geeigneter, als der Buchstabe für
semit. h, d. i. X • Dieser Buchstabe ist bekanntlich auch im §afö-
alphabet Zusatz zu dem alten phönizischen Bestände. War das
griechische ' kh aber bereits zur AfFrikata oder Spirans geworden,
so war die lautliche Übereinstimmung nocb vollständiger. Es er¬
giebt sich also, dass — wie man ja auch früber bereits vermutet
hat — für das griech. X der uns geläufige Wert % der urspriing¬
liche, der Wert | dagegen der abgeleitete ist. Wie dieser abgeleitete
Wert sich entwickelt, darüber baben Clermont-Ganneau in den
Melanges Graux S. 444 f und Kretscbmer a. a. 0. S. 426 f in un¬
gefähr dem gleiche Sinne gehandelt: Wir glauben hier eine Brücke
zu erkennen , die von dem ursprünglicben Werte zum sekundären
Werte führt.
Aber zwiscben den drei Werten des nämlich % 1, ist
eine Brücke nicht gefunden worden, i) Man hat sich mit der That¬
sache meist durcb die Annahme abgefunden, der ursprüngliche
Wert des Zeichens sei an den verschiedenen Orten verschieden
nach Bedürfnis, im Grunde aber doch rein willkürlich und gewalt¬
sam umgewertet worden. Die Möglichkeit eines solchen Verfahrens
kann nicht von vornherein bestritten werden, weder beim ^f noch
beim X.
Man beachte nun, dass das Safäalphabet die beiden einander
äusserlich sehr ähnlichen Zeichen = ä ^ und Y = d 3 be¬
sitzt. Zu \^ hat sich hier das phönizische Het umgestaltet, das
aus dem phönizischen Alphabet ins griechische bereits als h und
weiter als aufgenommen worden war ; Y ist auch im §afäalpbabet
Zusatz zu dem alten phönizischen Bestände. Genau dieselben beiden
Gestalten y und Y hat das W in den altgriechischen Alphabeten.
Dadurch, dass die Griecben diese beiden Zeichen, denen zwei ver¬
schiedene Werte zukommen, nicbt gehörig auseinander gehalten
haben, ist jedes derselben mehrläufig geworden. Gerade so wie V
und Y, 0 und 9, E und f, M und K, D und p nur graphische
Varianten ein und desselben Buchstabens waren, so galten auch V
und Y den Griechen lediglich als graphische Varianten, während
in Wirklichkeit y als %, Y als i|; | von einander ganz verschieden waren.
Die Gleichung y = j; ist ohne Weiteres klar. Ungefähr so
gut wie durch X konnte das griechische kh (oder seine weitere
Entwicklung) auch durch \|^ bezeichnet werden. Aber y — ^
erfordert einige Erläuterung. Denn im §afäitischen ist Y eben =
d ö, nicht H> und |. Wenn zur Zeit, da die Entlehnung stattfand,
das safäitische Y gemäss der als klassisch geltenden arabischen
1) Doch vgl. H. V. Gärtringen a. a. 0.
Fraetorius, Zur Geschichte des griechischen Alphabets. 679
Aussprache ausgesprochen wurde, also wie tönendes engl, th, so
konnte dieser Laut von den Griechen sehr leicht als Doppellaut,
als dz aufgefasst werden. Gar nicht unmöglich aber ist, dass man
damals geradezu dz sprach. Ist diese Voraussetzung zutreffend, so
war es nur naheliegend, dass die Griecben Y für den Doppellaut
Ip anwendeten, denn für den aus d und z bestehenden Doppellaut
{dz oder zd) selbst war weit und breit bereits das aus dem phöni¬
zischen Alphabet stammende f in Gebraucb.
Auf Thera (Melos?) und in Korinth wurde der aus d und s
bestehende Doppellaut aber durch die alte Form des phönizischen
Samechs ausgedrückt: Man scbrieb jeym = Zsvg. Diese alte Form
des pböniziscben Samechs hat in den östlichen Alphabeten sonst
bekanntlich den Wert | entwickelt. Als man nun auch auf Thera
den Doppellaut | nicht mehr, wie bisher, durch zwei Buchstaben,
sondern nur durch einen ausdrücken wollte, da war das bereits für
f festgelegte I zu diesem Zwecke natürlich nicht verwendbar:
Man griff vielmehr nach dem neuaufgenommenen Doppellautzeichen
Y und verwendete es als ^. Dass erst eine sekundäre, bewusst will¬
kürliche Umwertung aus fertigem griechischen y = vorliegt
(Kretscbmer a. a. 0. S. 433), ist ja, wie gesagt, auch so immerhin
möglich; diese Erklärung ist aber nicbt mebr die einzig denkbare,
sobald wir annehmen, dass Y den Griechen zunächst als Zeichen
für einen ansibilirten Doppellaut im allgemeinen galt.
Fundort der Safäinschriften sind die Einöden südöstlich von
Damaskus. Aus welcher Zeit die Inschriften stammen, wissen wir
nicht. Es findet sich in ihnen keinerlei Spur von Judentum, Christen¬
tum, Islam; wir stehen deutlich in einer heidnisch-semitischen Zeit.
Neuerdings glaubt Littmann, Zur Entzifferung der §afä-Inschriften
S. IV ,ein einigermaassen sicheres Datum' gefunden zu haben,
das er auf das Jahr 106 n. Chr. deutet.
Hätten wir die Mesainschrift und die wenigen anderen alt¬
phönizischen Inschriften nicht, sondern nur jüngere aus der Zeit
Alexanders und seiner Nachfolger, so würden wir dennoch die Ent¬
stehung der altgriechischen Alphabete aus dem phönizischen Alphabet
erkennen können, wenn auch nicht mit der Klarheit, mit der wir
es jetzt vermögen. Ich mache mich daber nicht etwa von vorn¬
herein eines methodischen Fehlers schuldig, wenn ich die griecbischen
Zusatzbuchstaben von semitischen Zeichen ableite, die wir aus einer
unbestimmten, vielleicht um 850 Jahre späteren Zeit kennen.
Das Safäalphabet ist die erste uns bekannte Etappe auf der
Wanderung der gleichfalls von Phönizien ausgegangenen südsemitischen
Schrift nach Süden. Bekanntlich war die südsemitische Schrift
bereits viele Jahrhunderte vor Christus im äussersten Süden der
arabischen Halbinsel angelangt. Wir dürfen sie umsomehr bereits
viele Jahrhunderte vor Cbristus in der Umgegend von Damaskus
680 PraOorms, Zur Oeschichte des griechischen Alphabeta.
suchen.*) Aber diejenigen, welche den Anstoss zur südlichen Weiter¬
entwicklung des phönizischen Alphabets gegeben haben, werden nicht
die wahrscheinlich recht armseligen Nomaden gewesen sein, welche
uns die ^afiikritzeleien hinterlassen haben. Aus dieser obskuren Sphäre
würde zu den Griechen schwerlich Kunde, geschweige denn Wissen¬
schaft gedrungen sein. Wenn nicht, wie gesagt, ein täuschender
Zufall vorliegt, so muss das §aföalphabet um 750 v. Chr. im
phönizischen Hinterlande ein wesentlicher Kulturfaktor gewesen
sein, dessen einzige Spuren und Ausläufer in den griechischen Zu¬
satzbuchstaben und in den Safäinschriften vorliegen.
1) Die frühere Annahme von der Wanderung des sUdsemitischen Alphabets nach Norden dUrfte ISngst aafgegeben sein; vgl. Literar. Centralbl. 1899, Sp. 1405 f.
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Koptischer Einfluss im Ägyptisch-Arabischen.
Von Enno Littmann.
Durch Praetorius' Bemerkungen „Koptische Spuren in der
ägyptisch-arabischen Grammatik* (Zeitschrift Bd. 55, S. 145—147)
veranlasst, suchte ich kürzlich bei einer etwas eingehenderen Lektüre
der Werke Spitta's diesen Gedanken weiter nachzugehen. Ich
glaube, dass noch in mindestens zwei weiteren Punkten die koptische
Grammatik das Ägyptisch - Arabische höchstwahrscheinlich beein¬
flusst hat.
Stern (Zeitschr. f. Äg. Spr. 23, S. 119, Anm. 1) und unab¬
hängig von ihm Praetorius (vgl. Zeitschrift Bd. 55, S. 352) haben
auf die unverkennbare koptische Wortfolge der äg.-arab. Fragesätze
hingewiesen. Stern spricht von einer , langen Reihe von koptischen
Wörtem, welche ins Arabische aufgenommen sind" und , manchen
syntaktischen Eigentümlichkeiten". M. W. sind letztere, abgesehen
von den in Rede stehenden Fragesätzen , bisher noch nicht nach¬
gewiesen. Praetorius sucht ferner den Vokalreichtum des Äg.-
Arab. durch koptischen Einfluss zu erklären. Das scheint mir nicht
so ganz sicher zu sein. Einerseits haben wir im Koptischen trotz
der sehr gewöhnlichen Vokalhäufong doch ancb, besonders bei
reduziertem Vokalismus im Genetivverhältnis, sehr viele Worte, in
denen eine ganze Reihe von Konsonanten auf einander folgen; freilich
ist es möglich, dass hier imgeschriebene Zwischenvokale gesprochen
wurden. Andererseits aber stehen namentlich die palästinischen
Dialekte des Arabischen dem Ägyptiscben nur wenig an Vokalfülle
nach ; vgl. z. B. die von Christie in ZDPV. XXIV und die von mir
in Abhandl. der K. Gesellsch. der Wiss. zu Göttingen , Phil. hist.
Kl. N. F. V, 3 veröflentlichten Texte. Im gesprochenen Arabisch
macht sich beim Maghrebiner der Vokalmangel ohne weiteres fühl¬
bar; der Ägypter unterscheidet sich Ln seiner Sprache von den Ein¬
wohnern Palästinas und Syriens weniger durch die Menge der Vokale,
als vielmehr durch den ihm eigentümlichen Wort- und Satzaccent.
Wenn Socin meint, dass Spitta's .Zwischenvokale" im ägyptischen
Dialekte doch wohl etwas deutlicher klingen als in anderen, so
wird das seinen Grund darin haben, dass diese Zwischenvokale dort
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