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Zwischen asymmetrischer Abhängigkeit und regionaler Kooperation?

Im Dokument Palästina und die Palästinenser (Seite 154-173)

Der Nahostkonflikt wurde in der Vergangenheit meist von der politischen Ausei-nandersetzung überragt. Auch in der Nahostwissenschaft standen bis Ende der 1980er-Jahre meist politische, vor allem sicherheitspolitisch-militärische Themen im Vordergrund; Fragen zur Wirtschaft waren meist auf die Ölproduk-tion und die Analyse der Rentenflüsse bezogen. Die entscheidenden Grundlagen einer Gesellschaft schafft und formt aber die Wirtschaft. Sie ist nicht isoliert zu betrachten, sondern in einem umfassenderen sozialen und politischen Kontext. Geht es um das Verständnis von Politik und Gesellschaft, ist folglich die Ökonomie die «Schlüsselwissenschaft»1. Auf der lokalen und regionalen wie auf der globalen Ebene wirken «orientierende Definitionsfaktoren» auf das soziale Subjekt ein und bestimmen dessen «Spielräume möglichen Handelns»2. Um diese Spielräume konkurrieren Akteure, insbesondere in Prozessen politischer Neubildungen, wie in der Staatsbildung. Hinzu kommt, dass state-building als ein indigener Prozess in Gemeinschaften, die aus gewaltsamen Konflikten hervor-gehen, an sich ein weites und relativ neues Feld ist. Erst recht fehlen Aussagen, um state-building unter den Bedingungen von Besatzung, ökonomischer Abhän-gigkeit und territorialer Separation zu werten. Die Modelle der einflussreichsten Finanz- und Wirtschaftsinstitutionen wie IWF (Internationaler Währungsfonds) und Weltbank basieren mehrheitlich auf neoliberalen Ansätzen, die weniger der Wirtschaftswissenschaft, als vielmehr «dem simplen Glauben an die freie Markt-wirtschaft» entspringen, wie der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Joseph Stiglitz, feststellt.3 Deren Übergewicht, eingeschränkte Entscheidungsfreiheit

1 Siehe hierzu die Ausführungen von Hans Heinz Holz (2010), Die Strenge des Begriffs. Von der politischen Ökonomie zur wissenschaftlichen Weltanschauung, abrufbar unter: http://

www.freidenker.org/cms/dfv/index.php?option=com_content&view=article&id=289:die-strenge-des-begriffs&catid=38:weltanschauung-philosophie-und-ethik&Itemid=67;

Heinrich Bortis: John Maynard Keynes. Eine neue Politische Ökonomie, http://www.

formdesign.ch/fileadmin/pdf/JohnMaynardKeynes.pdf. (1.3.2011).

2 Wolf-Dieter Narr (2010), Wie kommt’s zum Raum-Echo? Abrufbar unter: http://www.

raumnachrichten.de/ressource/buecher/1187-raum, (1.3.2011).

3 Joseph Stiglitz, Die Schatten der Globalisierung, Berlin: Siedler 2002, S. 255.

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und das Manko an alternativen eigenständigen Ansätzen zur ökonomischen Zukunft schwächen die palästinensischen politischen Akteure in der institutio-nellen Aufbauarbeit bis heute.

State-building im Westjordanland und Gazastreifen ist Teil des Austrags des israelisch-palästinensischen Konfliktes und seines Wandels. Je nach politischer Zäsur sind die politökonomischen Rahmenbedingungen verändert. Der entwick-lungskritische Punkt bleibt jedoch, inwiefern in diesen Etappen die asymmet-rische Dependenz der palästinensischen Wirtschaft von der Israels zu- oder abnimmt und Wirtschaftsstrukturen in Richtung ökonomischer Eigenständig-keit und LebensfähigEigenständig-keit bzw. NachhaltigEigenständig-keit (viability/sustainability) entwickelt werden. Zusammengefasst stellen sich zur konfliktsensitiven Wirtschaft und Wirtschaftsentwicklung in den palästinensischen Gebieten schließlich zwei ganz praktische Fragen:

1. Wie beeinflusst der israelisch-palästinensische Konflikt die Wirtschaft in den palästinensischen Gebieten hinsichtlich der erklärten Zielsetzung eines palästinensischen Staates?

2. Welche politökonomischen Modelle sind politisch realistisch und ökono-misch sinnvoll, um eine lebensfähige, eigenständige palästinensische Volkswirt-schaft aufzubauen, nicht zuletzt angesichts der realen globalwirtVolkswirt-schaftlichen Konstellationen und technologischen Prozesse?

die entwicklung der ökonomischen strukturen

Die politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und natürlichen Ausgangs-bedingungen im Westjordanland, im Gazastreifen und in Israel unterschieden sich seit jeher. Nach der Staatsgründung führte die israelische Regierung eine zentralisierte, regulierte mixed economy ein. In den folgenden Jahren richtete sie ihre exportorientierte Wirtschaftspolitik auf westeuropäische Gesellschaften und Marktwirtschaft aus.

Die Wirtschaftsentwicklung in der Westbank und im Gazastreifen wurde stets von «scheinbar endlosen politischen Turbulenzen und menschlichen Tragödien»4 beeinflusst. Bis 1948 waren Westjordanland und Gazastreifen integ-raler Teil der Wirtschaft im Mandatsgebiet Palästina. Im Krieg 1948/49 wurde das Territorium, auf dem laut UN-Teilungsbeschluss von 1947 der arabisch-palästinensische Staat gegründet werden sollte, von den Nachbarn besetzt. Die von der israelischen Armee eroberten Teile gliederte die israelische Regierung an den von den UN vorgesehenen jüdisch-palästinensischen Staat an. Die Armee des Königreichs Jordanien besetzte das Westjordanland, Ägyptens Militär den Gazastreifen.

Nach der Annektion durch Jordanien 1951 verfügte das Westjordanland über einen großen Landwirtschaftssektor und einen schwachen und unterentwickelten

4 George T. Abed (Hrsg.), The Palestinian Economy: Studies in Development under Prolonged Occupation, London 1988, S. 1. (Übersetzung der Hrsg.)

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Industriesektor. Vorherrschend waren kleine Unternehmen und Handwerksbe-triebe. Die Geschäftsleute verloren mit der Teilung wichtige Handels- und Indus-triezentren, einen erheblichen Teil ihres Marktpotenzials für Landwirtschafts-produkte und den Zugang zum Mittelmeer. Die Wirtschaft des Gazastreifens war während der Mandatszeit zwar peripher, aber nicht isoliert gewesen und hatte von der geografischen Lage als Durchzugsgebiet für den Personen- und Waren-transport profitiert.5 Nach dem Krieg unterbrach das ägyptische Militärregime die traditionell enge Verbindung Gazas mit Kairo. Auch der Zugang nach Israel war verschlossen. Durch den Zustrom von palästinensischen Flüchtlingen hatte sich die Bevölkerung 1950 gegenüber 1948 verdreifacht und 1967 versechsfacht.

Die Wirtschaft war fragil6 mit einem Überangebot an palästinensischen Arbeits-kräften und einer regional vergleichbar schwach entwickelten Infrastruktur, die auf derartige Anforderungen nicht vorbereitet war. Auf Grund dieser politgeo-grafisch abgeschnittenen Lage stieg die Anzahl derjenigen, die im Warenverkehr und -austausch tätig waren. So entwickelte sich der Handel zum bevorzugten Wirtschaftsbereich im Gazastreifen. Das Einkommen der hiesigen Bevölkerung resultierte neben öffentlichen und privaten Hilfszahlungen hauptsächlich aus der Landwirtschaft, aus Zitrusanbau und -verarbeitung. Infolge der gestiegenen Exportnachfrage, hauptsächlich aus Osteuropa, expandierten die Unternehmen in der Zitruswirtschaft; daneben entwickelte sich fast keine andere Industrie.

Zusammengefasst ist festzustellen, dass Westbank und Gazastreifen nach 1948/49 an zwei unterschiedliche nationale Ökonomien gebunden waren. In Jordanien und Ägypten bestanden traditionelle arabische Wirtschaftssysteme mit nahöstlich orientierten Marktbeziehungen. Weder Jordaniens noch Ägyptens Regierung zeigten Interesse an einer Wirtschaftspolitik, die ausgesprochen auf die Entwicklung und Integration von Westjordanland bzw. Gazastreifen orien-tiert war.

Nach 1967 bestimmte die israelische Besatzungspolitik die Wirtschaftsent-wicklung in den palästinensischen Gebieten.7 Die israelische Wirtschaft dehnte die eigenen Marktstrukturen systematisch auf Westbank und Gazastreifen aus.

Der Rüstungsboykott gegenüber Israel war schließlich der finale Anlass für die Regierung, in der einheimischen Rüstungsindustrie zu expandieren und somit die teure Eigenbedarfsproduktion durch gewinnversprechende Exporte zu entlasten. Während die Regierung Unternehmen bei der Entwicklung von Hochtechnologie für sicherheitspolitische Zwecke in Israel förderte, lagerten einheimische Firmen arbeitsintensive Abteilungen der Zivilproduktion in die besetzten Gebiete aus. So modernisierte Israel seine Volkswirtschaft in einigen

5 Vgl. Nathan Shachar, The Gaza Strip. Its History and Politics. From the pharaohs to the Israeli invasion of 2009, Brighton: Sussex Academic Press 2010.

6 Vgl. Ziad Abu-Amr, The Economy: 1948-1984, in: Abed (1988), S. 100-118.

7 Vgl. Arie Arnon, Israeli Policy towards the Occupied Palestinian Territories: The Economic Dimension, 1967-2007, in: Middle East Journal, Jahrgang 61, Nr. 4 (2007), S. 573-595, abrufbar unter: http://www.bgu.ac.il/~arnona/Israeli_Policy_towards_the_Occupied_

Palestinian_Territories_The_Economic_Dimension_1967-2007.pdf

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Branchen auch durch outsourcing von arbeits- und ressourcenintensiven Berei-chen in die besetzten Gebiete.

Das Westjordanland und der Gazastreifen verfügten in dieser Zeit über eine nur unzureichend ausgebaute Infrastruktur und wenig entwickelte Industriesek-toren sowie kaum verwertbare Energieträger; es überwogen kleine, von Familien geführte Unternehmen, Abhängigkeit von Rohstoffimporten und Mangel an Investitionskapital. Für Anfang der 1970er-Jahre weisen beide Territorien eine Phase des Wirtschaftswachstums auf, als sowohl das Bruttosozialprodukt (BSP) als auch das Bruttoinlandprodukt (BIP) relativ schnell anstiegen, gefolgt von einer Rezession in den 1980er-Jahren, als der internationale Ölboom abbrach und in Israel Stagflation herrschte.8 Hintergrund waren zwei Faktoren, die bis heute von imperativer Bedeutung für die palästinensische Wirtschaft sind:

Einerseits resultierte das Wachstum aus Einkommen ausländischer Herkunft, insbesondere aus Transferzahlungen von palästinensischen Gastarbeitern in den Golfstaaten und in Israel, aus Überweisungen der Diaspora und arabi-scher Staaten sowie von Einrichtungen der internationalen Hilfe an paläs-tinensische Institutionen. Diese Überweisungen aus dem Ausland nahmen über die Jahre tendenziell zu. 1987 resultierte das Einkommen des Westjord-anlandes zu einem Viertel und das des Gazastreifens zu einem Drittel aus Transferzahlungen aus dem Ausland.9 Folglich sank die Wertigkeit der inländischen Wirtschaftsaktivitäten bei der Bilanzierung des verfügbaren Nationaleinkommens gegenüber dem Einkommen aus externen Quellen.

Dadurch wiederum hatten die palästinensischen Behörden geringere Steuer-einnahmen für dringend erforderliche soziale und materielle infrastruktu-relle Maßnahmen zur Verfügung. Letztlich stieg damit die Abhängigkeit der besetzten Gebiete von Einkommen, das nicht im Lande generiert wurde.

Andererseits genehmigte die Regierung Israels die Ausdehnung solcher paläs-tinensischen Wirtschaftsbereiche, die zur israelischen Wirtschaft kompa-tibel waren.10 Israelische Unternehmer nutzten das niedrigere Lohnniveau in den palästinensischen Gebieten und lagerten arbeitsintensive Produkti-onsprozesse aus, behielten aber die strategischen Abteilungen im Lande. So wurden traditionelle palästinensische Manufakturen zu Subunternehmen israelischer Betriebe, u. a. in den Sektoren Textil und Bekleidung, Lederwa-renverarbeitung, vor allem in der Schuhproduktion. Daneben eröffneten palästinensische Geschäftsinhaber neue Serviceeinrichtungen für

israeli-8 Vgl. World Bank, Developing the Occupied Territories. An Investment in Peace, Bd. 1, Washington D.C. (1993), abrufbar: http://unispal.un.org/UNISPAL.NSF/0/D16478C6C4D C132C852574F600518919

9 Vgl. Osama A. Hamed/Radwan A. Shaban, One Sided Customs and Monetary Union: The Case of the West Bank and Gaza Strip under Israeli Occupation, in: Stanley Fischer/Dani Rodrik/Elias Tuma (Hrsg.), The Economics of Middle East Peace, Cambridge/Mass. (1993), S. 117-148.

10 Siehe Meron Benvenisti (mit Ziad Abu-Zayed und Danny Rubinstein), The West Bank Handbook. A Political Lexicon, Jerusalem: The Jerusalem Post (1986).

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sche Unternehmen, z. B. Autowerkstätten, Garagenbetriebe und Werkstätten für Landwirtschaftsgeräte. Damit wurde in einigen Bereichen die industri-elle und gewerbliche Basis erweitert, gleichzeitig jedoch einseitig auf den Bedarf in Israel ausgerichtet und abhängig davon, dass der Zugang zum israelischen Kernland stets geöffnet ist. Diese Abhängigkeit betrifft insbe-sondere die Arbeitsbeziehungen. Bis zum Ende der 1980er-Jahre wuchs der israelische Arbeitsmarkt zum wichtigsten Beschäftigungsfeld für palästinen-sische Arbeitskräfte. 1992 erhielten 115.600 Palästinenser ihre Löhne aus einer Beschäftigung in Israel; das waren 36,6 Prozent aller palästinensischen Beschäftigten in Westbank und Gazastreifen.11 Nominal finanzierten sie mit den in Israel verdienten Löhnen die Handelsimporte aus Israel, die rund 1 Mrd. US-Dollar jährlich betrugen.12 Insgesamt bestand und besteht zwischen beiden Wirtschaften eine große Disparität: Nach israelischen Berechnungen stammten 1986 mehr als ein Drittel des erwirtschafteten BSP der besetzten palästinensischen Territorien aus dem Verkauf von Waren und Faktorleis-tungen an Israel. Demgegenüber realisierte Israel nur 3 Prozent seines BSP aus dem Verkauf von Waren an die Bevölkerung in den palästinensischen Gebieten.13

Durch diese Externalisierung14 erfolgte eine zunehmende Integration der paläs-tinensischen Wirtschaft in die stärkere und technologisch weiter entwickelte Wirtschaft Israels. Die vereinzelt entstandenen industriellen Kerne und auch die jahrelange Beschäftigung von Palästinensern in der modernen Wirtschaft Israels trugen durchaus dazu bei, dass Übertragungseffekte auf die palästinen-sische Ökonomie wirkten. Determinierend war jedoch, dass die palästinensi-schen Produktions-, Handels- und Arbeitsmarktstrukturen einseitig auf das Wirtschaftszentrum Israel orientiert wurden. Letztendlich wurde damit nicht die wirtschaftliche Selbständigkeit der palästinensischen Territorien gefördert, sondern deren asymmetrische Abhängigkeit von Israel.15

Der Ausbruch der Intifada im Dezember 1987 zeigte, dass diese Abhängigkeit auch auf die israelische Wirtschaft und Gesellschaft nachteilig wirkt. Auf mikro-ökonomischer Ebene wurden zahlreiche israelische Unternehmen durch Liefer- und Fertigungsausfälle getroffen, auf der makroökonomischen Ebene durch

11 Siehe Ephraim Kleiman, Some Basic Problems of the Economic Relationships between Israel, the West Bank, and Gaza, in: Fischer/Rodrik/Tuma (1993), S. 305-333.

12 Nachdem Israels Regierung nach Mosche Dayans Vorschlag die Open bridge-Politik einge-führt hatte, genehmigte die Israeli Military Authority palästinensische Exporte auch nach Jordanien, aber begrenzte die Einfuhr palästinensischer Produkte nach Israel.

13 Siehe Kleimann (1993).

14 Sara Roy, The Gaza Strip: The Political Economy of De-Development, Washington: Institute for Palestine Studies (1995).

15 Ausführlicher siehe den Beitrag von Sabine Hofmann, Wirtschaftliche Kooperation bei politischer Separation. Zum Aufbau einer palästinensischen Volkswirtschaft, in: Dietmar Herz/Christian Jetzlsperger/Kai Ahlhorn (Hrsg.), Der israelisch-palästinensische Konflikt.

Hintergründe, Dimensionen und Perspektiven, Stuttgart: Steiner (2003), S. 141-167.

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den Boykott israelischer Waren. 1988 verzeichnete die israelische Wirtschaft auf Grund der Intifada eine finanzielle Einbuße von 1,9 Prozent des BIP.16 Unter dem Eindruck von Intifada, Strukturveränderungen in der israelischen Volks-wirtschaft, Einwanderungswelle und den Empfehlungen aus dem Sadan Report modifizierte die israelische Regierung ihre Besatzungspolitik Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre. So sollten Investitionen in die industrielle Basis zur Schaffung von Jobs in Westbank und Gazastreifen genehmigt werden, um auf diesem Wege die Abhängigkeit der besetzten Gebiete vom Arbeitsmarkt und der Wirtschaft Israels sowie andererseits die Abhängigkeit Israels von palästinensi-schen Arbeitskräften innerhalb Israels zu reduzieren.

Mit der Unterzeichnung der Declaration of Principles (DoP) 1993 akzep-tierten die israelische Regierung und die PLO eine Restrukturierung ihrer politi-schen Beziehungen. Zu den entscheidenden Kernpunkten zählte die beidseitig unterstützte Feststellung, das Westjordanland und Gazastreifen als «einheitliches Territorium, dessen Einheit während der Übergangsperiode beibehalten wird», zu betrachten und diese Einheit auch politisch und wirtschaftlich zu unterlegen.

Durch die DoP, die Road Map und die in den folgenden Jahren unterzeichneten Dokumente präferierten aber beide Seiten die Option von zwei Staaten: Israel und Palästina. Dieses Verständnis ist das veränderte Element und bedeutet einen historischen Durchbruch im israelisch-palästinensischen Verhältnis17 und brachte Bewegung in Richtung Aufbau eines palästinensischen Regierungssys-tems.

Für das Gebiet der Wirtschaft unterzeichneten beide Seiten im April 1994 das Protocol on Economic Relations between the Government of Israel and the P.L.O., representing the Palestinian People (PER). Auf der Basis dieses Regimes wurde ein israelisch-palästinensisches Joint Economic Committee (JEC) eingerichtet, das die Wirtschaftsfragen gemeinsam regeln sollte. Danach obliegt die Ökonomie nicht allein der palästinensischen Selbstbestimmung, sondern in den Haupt-fragen ist die Zustimmung Israels erforderlich, wie z. B. im Handel. So sollten die Tarife für israelische und palästinensische Importe abgestimmt und damit ein gemeinsamer Zollrahmen (customer envelope) geschaffen werden. Auch in der Arbeitsmarktpolitik wurde vereinbart, den Bedarf in den jeweiligen Wirtschafts-gebieten von Zeit zu Zeit abzustimmen.

Ausschlaggebend hierbei sind das Verhältnis zwischen den beiden Vertrags-seiten und die Verbindung zwischen den Wirtschaftsgebieten, d.h. ob zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten eine Grenze existiert oder nicht.

Während das Konzept des PER auf der Annahme basierte, dass die Territorien und Wirtschaftsgebiete offen sind, hat die Schließungspolitik Israels zu einer zunehmenden Separierung geführt. Die «Realität beweist das Scheitern der

16 Nadav Halevi, Economic Implications of Peace: The Israeli Perspective, in: Fischer/Rodrik/

Touma (1993), S. 117-148.

17 Vgl. Galia Golan, Israel and Palestine: Peace Plans and Proposals from Oslo to Disengage-ment, Princeton: University Press (2007).

Palästina und die Palästinenser

Architekten des Protokolls», schlussfolgerte der israelische Wirtschaftswissen-schaftler Arie Arnon.18

Seit der Unterzeichnung der DoP durch Mahmud Abbas und Shimon Peres im September 1993 verläuft die Entwicklung in den palästinensischen Gebieten recht instabil. Die verschiedenen Perioden des anvisierten state-building sind sowohl von politischem Fortschritt und Wirtschaftswachstum als auch von Abhängigkeit, Instabilität, Stagnation und Krisen gekennzeichnet. Welche Situa-tion finden wir vor, welches sind die determinierenden Faktoren?

entwicklungsdeterminanten der palästinensischen Wirtschaft

a) Okkupation, Konflikt, Vorstaatlichkeit und fehlende politische Souveränität Israels Premierminister Jizchak Rabin erklärte im September 1995, das Ziel der politischen Regelung des Konfliktes sei die Trennung Israels von der Wirtschaft der palästinensischen Gebiete und eine Separation beider Völker. Ehud Barak verkündete als Ministerpräsident im Winter 1999 ebenfalls, dass seine Regie-rung in den Verhandlungen über den endgültigen Status einer vollständigen Trennung von Israelis und Palästinensern in allen Bereichen, einschließlich der Wirtschaft, zustimme. Zuvor war bereits die tiefgreifendste politische Verände-rung, die die Ökonomie in den palästinensischen Gebieten seit der Besetzung 1967 erfahren hatte, erfolgt: Israels Politik der graduellen Schließung der Grenzen – der «dauerhaften Schließung» (permanent closure), der «umfassenden Schlie-ßung» (comprehensive closure) und der «internen SchlieSchlie-ßung» (internal closure) von Westbank und Gazastreifen – und der zunehmenden Herauslösung Ost-Je-rusalems aus der palästinensischen Wirtschaft. Im Agreement of Movement and Access19 (Abkommen über Bewegungsfreiheit und Zugang – AMA) vereinbarten Israel und die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) im November 2005 einige Nachbesserungen, die insbesondere für den Personenverkehr zwischen Gaza und Ägypten via den Grenzübergang Rafah zeitweise auch erreicht wurden.

Für den Warenverkehr zwischen Westbank und Gazastreifen und Israel fehlt aber weiterhin ein offenes Handelsregime. So gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass für den Personen-, Fahrzeug- und Güterverkehr zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland eine Transitverbindung (safe passage), wie sie in den Osloer Abkommen vereinbart wurde, eröffnet wird.

Das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben im Westjordanland wird durch ein dichtes Netz von Autoritäts- und sicherheitspolitischen Barrieren bestimmt. Hinzu kommen die israelischen Kontrollen beim Zugang nach Israel

18 Siehe Arie Arnon, On the Implications of Ecnomic Borders Between Israel and Palestine, in:

Israel-Palestine Journal, 9. Jahrgang (2002), Heft 3, S. 32-39. (Übersetzung der Hrsg.) 19 Die Grenzkontrolle zwischen dem Gazastreifen und Ägypten ist Teil des AMA. Danach

sollte der Personen- und Warengrenzverkehr bei Rafah der ägyptischen und palästinensi-schen Kontrolle unterliegen mit einer dritten Monitoringpartei (EUBAM – EU Border Assis-tance Mission) und israelischer Überwachung.

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(«grüne Grenze») und die Reglementierung des Zugangs nach Ost-Jerusalem.20 Die israelische Regierung verlangt von jedem Palästinenser, der Arbeit in Israel sucht, dass er eine Genehmigung beantragt. Schon Anfang der 1990er-Jahre hatten all diese Maßnahmen einen vernichtenden Einfluss auf die palästinen-sische Wirtschaft,21 da nicht nur die in Israel arbeitenden Palästinenser und deren Familien von der Schließung betroffen waren, sondern auch die lokalen Beschäftigten. Die inländische Wirtschaft ist von Importen aus Israel und dem Ausland abhängig, wie dem Import von Rohmaterialien für die örtlichen kleinen Geschäfte, Betriebe und Werkstätten, für private und öffentliche Dienstleis-tungen und den persönlichen Verbrauch. Ebenso wurde die Wirtschaft beim Export getroffen, denn rund vier Fünftel der Exportverkäufe gehen nach Israel.

Neben der Einteilung in A-, B- und C-Gebiete mit jeweils differenzierter Verfügungsgewalt der palästinensischen Behörden wird der Waren- und Perso-nenverkehr durch die israelischen Checkpoints und Straßensperren behindert.22 Im Januar 2010 hielt die israelische Regierung 626, im Januar 2011 immer noch 569 derartige Barrieren aufrecht. Darunter sind die ständig (2010: 75, 2011:

69) und die zeitweilig betriebenen Checkpoints (2010: 18, 2011: 21) sowie die unbemannten Straßensperren (2010: 533, 2011: 480).23

Nachdem die Hamas aus den Wahlen 2006 als stärkste politische Kraft hervorgegangen war, übernahm sie im Juni 2007 nach innerpalästinensi-schen Kämpfen gegen die Fatah die Regierung im Gazastreifen. Die israelische Regierung reagierte harsch: Sie verhängte eine Blockade über den gesamten Gaza streifen und erhielt dafür internationale Zustimmung. Auch Ägypten schloss seine Grenze zum palästinensischen Nachbarn.24 Die 1,5 Millionen Einwohner im dicht besiedelten Gazastreifen, von denen mehr als die Hälfte arm und ein Drittel sehr arm und auf humanitäre Hilfe angewiesen sind25, blieben

Nachdem die Hamas aus den Wahlen 2006 als stärkste politische Kraft hervorgegangen war, übernahm sie im Juni 2007 nach innerpalästinensi-schen Kämpfen gegen die Fatah die Regierung im Gazastreifen. Die israelische Regierung reagierte harsch: Sie verhängte eine Blockade über den gesamten Gaza streifen und erhielt dafür internationale Zustimmung. Auch Ägypten schloss seine Grenze zum palästinensischen Nachbarn.24 Die 1,5 Millionen Einwohner im dicht besiedelten Gazastreifen, von denen mehr als die Hälfte arm und ein Drittel sehr arm und auf humanitäre Hilfe angewiesen sind25, blieben

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