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Das Beispiel Palästina

Im Dokument Palästina und die Palästinenser (Seite 127-138)

Vor allem die Existenz des islamistischen Terrorismus lässt nach dem Verhältnis des Islam zur Gewalt fragen. Besteht in der islamischen Welt eine im Vergleich zur christlich-abendländischen Welt kulturell und religiös stärker ausgeprägte Gewaltneigung? Diese auf den ersten Blick plausible Annahme erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht haltbar. Ein Vergleich westlich-christlicher und östlich-islamischer Denktraditionen weist sogar auf erstaunliche Parallelen des Gewaltbegriffs hin.

In beiden Sphären prägt die Idee des «gerechten Krieges» und der «gerechten Gewalt» den Mainstream der Theologie und der Denktraditionen, während sowohl Extremismus als auch Pazifismus Minderheitenmeinungen geblieben sind, die allerdings in der politischen Entwicklung für bedeutsame Ereignisse des gewaltfreien Widerstandes stehen. Der bislang fast durchgehend verwei-gerte Vergleich der religiösen und politischen Kulturen zeigt, dass Unterschiede zwischen dem Islam und dem Westen eher in der Form der ideologischen Begründungen und der Traditionen als in deren kultureller Substanz begründet liegen.

Die Theorie wie auch die Praxis des gewaltfreien Widerstandes in der islami-schen Welt steht dabei in engem Zusammenhang mit jeweiligen, in den verschie-denen Ländern sehr unterschiedlichen strukturellen, d.h. vor allem politi-schen und militäripoliti-schen Rahmenbedingungen. Am Fallbeispiel der jüngeren Geschichte der palästinensischen Autonomiegebiete lässt sich zeigen, dass auch dort, wo Ansätze zur gewaltfreien Lösung bei religiös und säkular orientierten Widerstandskräften vorhanden waren, diese – zumindest in der Wahrnehmung der Beteiligten – letztlich an der umfassenden Repression eines israelischen Siedlerkolonialismus und an der internen Unfähigkeit zur Einigung auf eine gewaltfreie Strategie gescheitert sind.

Der vorliegende Beitrag führt in einige Grundlagen des islamischen theologi-schen Verhältnisses zur Gewalt ein und reflektiert die Frage, warum gewaltfreier Widerstand, der bei der Entkolonialisierung Indiens so erfolgreich praktiziert worden ist, in Palästina bislang versagt hat.

Palästina und die Palästinenser

die lehre vom «gerechten krieg» – kein krieg ist heilig

Das Verhältnis von Religion und politischer Gewalt wird nur in einer minoritären Richtung des Islam so gedeutet, dass sich die entsprechenden Interpretationen als Grundlage für terroristische Akte eignen. In der islamischen Tradition lassen sich drei Strömungen einer politischen Gewalttheorie ausmachen.1 Am bedeut-samsten ist die Theorie des gerechten Krieges, wonach Gewalt nur defensiv und im Falle eines Angriffs von außen erlaubt ist. Daneben existieren die kleineren Denkströmungen des offensiven und totalen Krieges (Dschihadismus) und des islamischen Pazifismus, auf den später einzugehen sein wird.

Gemäß der moderaten Lesart, die heute die meisten Gelehrten vertreten2, ist Krieg im Islam nur erlaubt, wenn die Intentionen und die Abwägung der Verhältnismäßigkeit der Mittel keinen anderen Weg erlauben, also etwa zur Befreiung von Muslimen gegen Aggressoren. Auch im Krieg soll Gewalt verhält-nismäßig eingesetzt werden, und Zivilisten dürfen nicht das Ziel des Angriffs sein. Kernpunkt dieser Ansicht ist, dass das sogenannte «Haus des Islam» (Dar al-Islam), also das Territorium mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, zwar gewaltsam verteidigt, aber nicht gewaltsam erweitert werden darf. Kriege um der Mission und Konversion willen dürfen nicht geführt werden.

Vor allem die bei extremistischen Islamisten beliebten Denker Sayyid Qutb und Sayyid Abul Ala Maududi haben einen offensiven «heiligen Krieg» propa-giert.3 Das Dar al-Islam steht demnach in ständigem Krieg mit dem Dar al-Kufr, mit dem Territorium der «Ungläubigen». Frieden wird erst im Jenseits gewährt.

Historische Bezüge lassen sich zum Beispiel zu den Kalifen herstellen, die als Nachfolger Mohammeds das arabische Territorium aktiv erweitert haben und damit die islamische imperiale Phase einleiteten. Heute ist diese Auslegung einer kleinen terroristischen Minderheit vorbehalten, die als «dschihadistisch»

bezeichnet wird.4

Die Existenz einer moderaten, defensiven wie einer radikalen, offensiven theologischen Begründung politischer Gewalt stimmt mit der christlichen Tradi-tion überein, auch wenn deren historische Konjunkturen oft zeitversetzt waren.

Vilho Harle: «Der Islam ist wegen des Konzepts des Dschihad, üblicherweise übersetzt mit ‹heiliger Krieg›, vielfach als eine gewaltsame Doktrin betrachtet worden. Dies ist unzutreffend: Gemäß dem klassischen Islam ist keine mensch-liche Aktivität heilig, und dies gilt ganz besonders für den Krieg. Es steht auf einem anderen Blatt, dass der Islam, ganz wie der Zoroastrismus, das Judentum

1 Clinton Bennett (2005), Muslims and Modernity. An Introduction to the Issues and Debates, London/New York: Continuum 2005, S. 198 ff.

2 Mohammed Abu-Nimer, Nonviolence and Peace Building in Islam. Theory and Practice, Gainesville u.a.: University of Florida Press 2003, S. 26 ff., 35; Bennett (2005), S. 219 ff.

3 Bennett (2005), S. 198 ff.

4 «Understanding Islamism”, International Crisis Group, Middle East/North Africa Report, Nr. 37, 2. März 2005, http://www.crisisgroup.org/~/media/Files/Middle%20East%20 North%20Africa/North%20Africa/Understanding%20Islamism.ashx

Palästina und die Palästinenser Kai Hafez «Gerechter krieg» und Pazifismus in der islamischen Welt – das Beispiel Palästina

und das Christentum, Menschen dazu bewegt hat, im Namen der Religion und im Auftrag Gottes Kriege zu führen – für das Gute und gegen das Böse. (…) Die religiöse Doktrin als solche aber beinhaltet nicht mehr Gewalt als die des Christentums».5

In der Geschichte hat es immer wieder das Bild des christlichen Märty-rers gegeben.6 Für den christlichen Krieger war allerdings nicht Jesus Christus das Vorbild, da er mit der traditionellen christlich-jüdischen Figur des kriege-rischen Messias, der die Welt reinigt und sie dem richtigen Glauben zuführt, gebrochen hatte. In den Jahrhunderten nach dem Tod Christi entwickelte sich die Märtyrer-Figur des Christentums immer stärker vom leidenden und pazifis-tischen Märtyrer zum christlichen Krieger-Märtyrer, etwa in der legendären Figur des Heiligen Georg aus Lydda/Palästina, die im 4. Jahrhundert entstand.

Georg wurde später von Richard Löwenherz zum Schutzherrn seines Kreuz-zugs erkoren. Muslime und Christen haben über Jahrhunderte nahezu identi-sche Vorstellungen vom gerechten Krieg entwickelt. Wichtig waren hierbei im Christentum etwa die Lehren des Heiligen Augustinus oder die frühmittelal-terliche Theologie des französischen Klosters Cluny, deren Abt Odo (926-44) argumentierte, man könne Kriege für gute Motive, also «heilige Kriege», führen.7 Diese Vorstellung wurde während der Kreuzzüge offensiv-radikal, während der Angriffe islamischer Staaten aber auch defensiv-moderat gedeutet, und sie lebt auch heute noch in der Sprachgebung solcher Evangelisten wie Billy Graham fort, dessen Reden deutliche Spuren der heiligen Kriegslehre aufweisen. Glaube, so Graham, sei permanenter Krieg, Krieg gegen die Sünder und die Sünde.8 Im Westen ist die offensive Reinigungsmetapher zum Teil auch bei Sekten wie Scientology sehr beliebt, bekannt geworden etwa im Januar 2008, als der ameri-kanische Schauspieler Tom Cruise, ein hohes Mitglied der Sekte, in einem später veröffentlichten internen Video zur Reinigung der Welt aufrief.

Der christliche Protestantismus hat in den letzten einhundert Jahren zahlreiche Begründungsmuster entwickelt, die einen moralischen Einsatz von Gewalt rechtfertigen und «gerechte Kriege» möglich erscheinen lassen.

Der berühmte amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr bereitete mit seiner Lehre vom ethischen Perfektionismus im Umgang mit Gewalt den moralphilo-sophischen Grund für den amerikanischen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg.9 Der Mensch, so Niebuhr, sei im Grunde sündhaft, und Gewalt sei dem Leben immanent. Es komme darauf an, im Umgang mit der Gewalt ein ziviles Maß

5 Vilho Harle, The Enemy with a Thousand Faces. The Tradition of the Other in Western Political Thought and History, Westport/London: Praeger 2000, S. 75, 77, Übersetzung des Autors.

6 Charles T. Davis III, The Qur’an, Muhammad, and the Jihad in Context, in: J. Harold Ellens (Hrsg.), The Destructive Power of Religion. Violence in Judaism, Christianity, and Islam, Westport/London: Praeger 2004, S. 233-254.

7 Davis III (2004), S. 251.

8 Davis III (2004), S. 244.

9 James F. Childless, Reinhold Niebuhr’s Critique of Pacifism, in: The Review of Politics 4/1974, S. 467-491.

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zu entwickeln, nicht aber, wie in der pazifistischen Leugnung jeglicher Gewalt, soziale Verantwortung abzulehnen. «Notwendigkeit» (necessity) und «Verantwor-tung» (responsibility) waren für Niebuhr die zentralen Maßstäbe, an denen die Anwendung von Gewalt auszurichten war.

Doktrinäre Fortschritte erzielte etwa die protestantische Kirche dann nach dem Zweiten Weltkrieg, als immer mehr Interpreten unter dem Eindruck der entwickelten Atom- und Massenvernichtungswaffen eine pazifistische Wendung forderten und den «gerechten Krieg» nicht mehr für durchführbar hielten.10 Dass diese Interpretation jedoch nicht die gesamte christliche Weltkirche in gleicher Weise erfasst hat, sondern immer wieder auch «gerechte Kriege» kirchlicherseits propagiert werden können, zeigte sich etwa am 17. Februar 2008, als die ortho-doxe Kirche in Belgrad die Regierung anlässlich der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo zur Mobilisierung der Armee und zur Besetzung der ehemaligen serbischen Republik aufforderte. Diese Beispiele zeigen bereits, dass weder das Christentum noch der Islam mit einer offensiven und radikalen Deutung von Gewalt vollständig abgeschlossen haben.

Gewaltfreier islamischer Widerstand – im Westen ignoriert

Der Pazifismus ist in Europa und Nordamerika eine verbreitete Weltanschauung, in der verschiedene humanistische und christliche Begründungen zu einer grundsätzlichen Ablehnung von Krieg und Gewalt führen. In den USA ist vor allem der Quietismus-Pazifismus der Quäker und der Amish-People ein Begriff.

Wesentliche Einflüsse gingen aber auch von der Aufklärung aus, von Kants

«ewigem Frieden» und der sich entwickelnden Menschenrechtsphilosophie.

Moderne Friedensbewegungen haben sich in westlichen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder gebildet, vor allem gegen den Krieg in Vietnam, die Golfkriege oder die Aufrüstungsbestrebungen während des Kalten Krieges.

Pazifismus und Friedensbewegungen sind allerdings nicht identisch. Letztere sind relativ kurzfristige soziale Bewegungen, die Menschen unterschiedlicher Motivation vereinen, von denen die wenigsten konsequente Pazifisten sind, wofür etwa der Zerfall der amerikanischen Friedensbewegung vor dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg steht.

Eine mit dem Pazifismus verwandte Strömung stellt der gewaltfreie Wider-stand dar. Sowohl in Europa als auch in Nordamerika haben sich Bewegungen entwickelt, die der Ansicht sind, dass der gesellschaftliche Frieden nicht allein durch die Abwesenheit von Kriegen geschaffen werden kann.11 In den USA wurde vor allem Martin Luther King mit seiner Philosophie des gewaltlosen Wider-standes gegen die Rassendiskriminierung berühmt. In jüngeren Jahren vereinen zum Beispiel die Umwelt- oder auch die Anti-Globalisierungsbewegungen

unter-10 Martin Honecker, Grundriss der Sozialethik, Berlin: de Gruyter 1995, S. 416 ff.

11 Theodor Ebert, Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg, Frankfurt: Waldkir-cher 1978.

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schiedliche Formen des gewaltfreien Widerstandes, wobei vor allem symbolische Aktionen einen moralischen Vorteil verschaffen sollen.12

Es wäre trotz entsprechender starker Traditionen dennoch falsch, anzunehmen, dass Pazifismus oder gewaltfreier Widerstand im Westen akzep-tierte Mehrheitskulturen seien. Der konservative deutsche Bundestagsabge-ordnete Heiner Geißler ging 1983 sogar so weit, den Pazifismus für Auschwitz verantwortlich zu machen. Diese Äußerung macht in überspitzter Form deutlich, dass eine prinzipielle Ablehnung von Gewalt und Krieg von einer Mehrheit in westlichen Gesellschaften als soziale Verantwortungslosigkeit betrachtet wird – eine Position, die in völliger Übereinstimmung mit der gerechten Kriegslehre von Theologen wie Reinhold Niebuhr steht (s.o.). Die zivilisierte Gewalt, nicht aber die völlige Ablehnung von Gewalt, prägt den zeitgenössischen Westen etwa im System der kollektiven militärischen Sicherheit der NATO und militärischer Einsätze im Rahmen der Vereinten Nationen. Zwar wird an dieser herrschenden Lehre vonseiten der Pazifisten immer wieder kritisiert, sie erhalte den Teufels-kreis von Krieg und Gewalt aufrecht. Dennoch bleibt die Vorstellung von der ethischen, angemessenen und gerechten Gewalt die primäre, der Pazifismus hingegen die sekundäre Kultur des Westens, die allenfalls von Minderheiten vertreten wird.

Mark LeVine war einer der Ersten, die darauf hingewiesen haben, dass pazifis-tische und gewaltfreie Denkströmungen und Strategien des Islam im Westen nahezu völlig ignoriert werden. In der westlichen Welt herrscht eine selektive Wahrnehmung vor, die den Islam vor allem auf Terrorismus und alle möglichen Formen der Gewaltausübung reduziert, während umgekehrt der Buddhismus und Hinduismus von vielen als «Friedensreligionen» verortet werden. Die selek-tive Festlegung des Islam auf Gewaltaspekte hat dazu geführt, dass der Versuch, Islam und Pazifismus in Einklang zu bringen, für viele Kritiker einer Quadratur des Kreises gleichkommt. Theologisch scheinen unüberwindbare Probleme zu bestehen, da der Koran Gewalt und Krieg, wenn auch unter bestimmten Bedin-gungen, rechtfertigt und vor allem, weil der Prophet Mohammed selbst Kriege führte. Während christliche Kriegsbegründungen stets sehr aufwändig sind, da sie der pazifistischen Botschaft von Jesus Christus zu widersprechen scheinen, könnte man meinen, dass Krieg und Gewalt dem Grundcharakter des Islam widerspruchsfrei und vollständig entsprechen. Dennoch hat sich ein islami-scher Pazifismus entwickeln können, wobei Christentum und Islam spiegelbild-liche Methoden der Exegese hervorgebracht haben. Das Christentum hat über Jahrhunderte, und zum Teil bis heute, die radikale Friedensbotschaft von Jesus Christus, die er nicht zuletzt in der Bergpredigt formuliert hat, in der praktischen Theologie durch Kriegsrechtfertigungen konterkariert. Im Islam ist die Lehre vom gerechten Krieg zwar tatsächlich die Hauptbotschaft des Korans, während

12 Mark LeVine, Why They Don’t Hate Us. Lifting the Veil on the Axis of Evil, Oxford: Oneworld 2005, S. 246 ff.

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pazifistische Lehren am Rande existieren.13 Allerdings berufen sich islamische Pazifisten auf die frühe Periode des Propheten Mohammed, in der dieser immer wieder trotz Verfolgung seinen Anhängern Gewaltausübung verbot, und zwar auch in Fällen der Selbstverteidigung. Die Person des Propheten Mohammed wird von den unterschiedlichen Richtungen vereinnahmt: Den Pazifisten gilt dieser ebenso als Vorbild wie den Terroristen (s.o.). Die Gruppen beziehen sich auf unterschiedliche Taten und Perioden seines Lebens. Der Missachtung der pazifistischen Schrift (Bibel) durch die christliche Kriegslehre entspricht also eine Relativierung der Lehre des gerechten Krieges im Koran durch die musli-mischen Pazifisten unter Rückgriff auf bestimmte islamische Traditionsschriften der Hadith (Taten Mohammeds). Durch diesen epistemologischen Kunstgriff besteht durchaus die Möglichkeit, einen islamischen pazifistischen Traditions-bezug herzustellen. In einzelnen Fällen gelingt heute sogar bereits eine entspre-chende Neudeutung des Korans selbst.

Das Bild des leidenden und verfolgten Propheten Mohammed hat sich im Sufismus wie auch in der Ahmadiyya-Bewegung verfestigt. Beide Richtungen stellen starke volksislamische Strömungen dar, die innere Askese und Reinigung durch Leidensfähigkeit predigen und sich vom Dschihad-Begriff als Metapher für den physischen Kriegskonflikt getrennt haben.14 Der moderne Reformislam hat diese Impulse aufgenommen und zur Herausbildung eines intellektuellen Pazifismus beigetragen. Maulana Wahiduddin Khan begründet die Überlegenheit des gewaltfreien Widerstandes mit den ersten Jahren des Wirkens des Propheten Mohammed in Mekka, als dieser Gewaltfreiheit und friedliche Mission (dawa) predigte.15 Zeki Saritoprak beruft sich unter Hinweis auf die türkischen Reform-denker Said Nursi und Fetullah Gülen ebenfalls auf das Vorbild Mohammeds.16

Eine außergewöhnlich elegante Argumentation ist die von Chaiwat Satha-Anand, da sie sich nicht nur auf die Praxis des Propheten, sondern auf den Koran selbst bezieht. Zwar räumt Satha-Anand ein, dass der Koran die Anwendung von Gewalt unter bestimmten Bedingungen erlaube. Allerdings seien diese Kondi-tionen in der Ära hochtechnologischer Kriegsführung nicht mehr einhaltbar.

Satha-Anand meint, die im Mainstream des Islam verankerte Unterschei-dung zwischen Schuldigen und Unschuldigen (Zivilisten) sei im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen nicht mehr schlüssig, da Tötung nicht zielgenau auf Soldaten beschränkt werden könne, was praktisch bedeute, dass auch der Koran

13 Abu-Nimer (2003), S. 33.

14 Abu-Nimer (2003), S. 45.

15 Maulana Wahiduddin Khan, Non-Violence and Islam, o.J. abrufbar unter http://www.

alrisala.org/Articles/papers/nonviolence.htm (11. November 2010

).

16 Zeki Saritoprak, An Islamic Approach to Peace and Nonviolence: A Turkish Experience, in:

The Muslim World 7 (Juli 2005), S. 413-427.

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unter den zeitgenössischen Bedingungen als Aufforderung zum Kriegsverzicht zu interpretieren sei.17

Hier deutet sich eine Argumentation an, die absolut parallel zu der pazifisti-schen Debatte des protestantipazifisti-schen Christentums nach dem Zweiten Weltkrieg verläuft. Beide Überzeugungen, der islamische wie auch der christliche Pazifismus, wenden sich gegen die von Niebuhr und anderen geprägte Vorstel-lung vom ethisch perfektionierbaren Umgang mit der Gewalt und weisen dabei insbesondere auf die Zerstörungskraft moderner Massenvernichtungswaffen hin.

Es gibt eine große Zahl von Beispielen für den Einsatz gewaltfreier Wider-standstechniken in der jüngeren islamischen Geschichte, die allerdings im Westen kaum beachtet werden. Auch islamistisch-fundamentalistische Organi-sationen setzen diese Techniken ein. Zu den berühmtesten Beispielen für gewalt-freien Widerstand18 zählen die ägyptische Revolution 1919 (monatelanger gewalt-freier Widerstand gegen die britische Besatzung), der paschtunische Widerstand 1930 (Abdul Ghaffar Khan, bekannt als «Badschah Khan», ein enger Weggefährte Gandhis, versammelt zigtausende Mitstreiter seiner «Armee Gottes», die Khudai Khidmatgar, im heutigen Nordpakistan zum gewaltfreien Widerstand gegen die britische Kolonialmacht und beruft sich dabei auf Mohammeds frühe pazifisti-sche Tradition19); oder in jüngerer Zeit etwa der palästinensische Widerstand seit 1987 (mit dem Ausbruch des ersten Intifada-Aufstands in der Westbank und im Gazastreifen seit 1987 ändern die Palästinenser ihre Form des Widerstandes vom bewaffneten Kampf der PLO zu zivilem Ungehorsam und gewaltfreiem Wider-stand). Neben diesen großen Bewegungen ist gewaltfreier Widerstand ein alltäg-licher Bestandteil des politischen Lebens in der islamischen Welt; ob Demons-trationen algerischer Journalisten, Hungerstreiks an palästinensischen Univer-sitäten, von irakischen Ajatollahs organisierte Großdemonstrationen oder von Hamas initiierte Menschenketten durch den Gazastreifen: Die Zahl der Aktivi-täten ist groß, ihr Charakter vielfältig.

17 Chaiwat Satha-Anand, The Nonviolent Crescent: Eight Theses on Muslim Nonviolent Actions, in: Glenn Paige/Chaiwat Satha-Anand/Sarah Gilliatt (Hrsg.), Islam and Nonvi-olence, Honolulu: University of Hawaii, Center for Global Nonviolence Planning Project 1993, S. 7-26 (S. 15).

18 Vgl. u.a. Quintan Wiktorowicz (Hrsg.), Islamic Activism. A Social Movement Theory Approach, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 2004; Stephen Zunes (1999), Unarmed Resistance in the Middle East and North Africa, in: Stephen Zunes/Lester R. Kurtz/Sarah Beth Asher (Hrsg.), Nonviolent Social Movements. A Geographical Perspec-tive, Malden/Oxford: Blackwell 1999, S. 41-51.

19 Eknath Easwaran, Nonviolent Soldier of Islam. Badshah Khan: A Man to Match His Mountains, Tomales: Nilgiri 1999; Robert C. Johansen, Radical Islam and Nonviolence:

A Case Study of Religious Empowerment and Constraint among Pashtuns, in: Journal of Peace Research 1/1997, S. 53-71; Beverly Milton-Edwards, Islam and Violence in the Modern Era, Houndsmills: Palgrave 2006, S. 187 ff.

Palästina und die Palästinenser

Gewaltfreier Widerstand in Palästina – Warum setzt er sich nicht durch?

Das Beispiel des palästinensischen Widerstandes der ersten Intifada seit 1987 zeigt sehr deutlich die Möglichkeiten und Grenzen des gewaltfreien Wider-standes im islamischen Raum. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die paläs-tinensischen Bedingungen nicht verallgemeinerbar sind. Die Erfolgschancen hängen eng mit dem jeweiligen Typus eines Konfliktherdes zusammen. Dennoch verdeutlicht das Beispiel der Intifada, warum, trotz vielfältiger Ansätze, eine mit Mahatma Gandhis Befreiungskampf vergleichbare Bewegung in der islamischen Welt bislang nicht entstanden ist.

Die 1987 ausgebrochene und bis 1994 dauernde Intifada operierte mit weitgehend gewaltfreien Mitteln.20 Gewalt äußerte sich nur dort, wo Jugendliche Steine auf die israelische Armee warfen: Bilder, die weltweit große Verbreitung fanden. Weniger aufmerksam wahrgenommen wurde jedoch, dass die Intifada von Streikaktionen, Boykotten, Steuerstreiks, Besetzungen, Blockaden und diversen Maßnahmen des zivilen Ungehorsams geprägt war. Man kann davon ausgehen, dass der gewaltfreie Volksaufstand der Palästinenser die Weltöffent-lichkeit derartig beeinflusste, dass über den Umweg der Friedensverhandlungen

Die 1987 ausgebrochene und bis 1994 dauernde Intifada operierte mit weitgehend gewaltfreien Mitteln.20 Gewalt äußerte sich nur dort, wo Jugendliche Steine auf die israelische Armee warfen: Bilder, die weltweit große Verbreitung fanden. Weniger aufmerksam wahrgenommen wurde jedoch, dass die Intifada von Streikaktionen, Boykotten, Steuerstreiks, Besetzungen, Blockaden und diversen Maßnahmen des zivilen Ungehorsams geprägt war. Man kann davon ausgehen, dass der gewaltfreie Volksaufstand der Palästinenser die Weltöffent-lichkeit derartig beeinflusste, dass über den Umweg der Friedensverhandlungen

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